Dort fanden ihn die Elfen. Auf Andor Elessedils Befehl trugen sie ihn nach Arborlon. Zu erschüttert vom Verlust Amberles, um Widerspruch zu erheben, dazu geschwächt vom Fieber, ließ er es zu, daß sie ihn fortbrachten. Sie trugen ihn ins Herrenhaus der Elessedils, durch Gänge und Korridore, die still und kühl waren, zu einem Gemach, wo ihm ein Lager bereitet war. Heilkundige der Elfen wuschen und verbanden seine Wunden. Sie gaben ihm einen bitteren Saft zu trinken, der ihn schläfrig machte, und hüllten ihn sorgfältig in Leintücher und Decken. Dann ließen sie ihn allein. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen. Im Schlaf träumte ihm, er wandere blind und hoffnungslos durch tiefe, undurchdringliche Finsternis. Irgendwo in dieser Finsternis irrte auch Amberle umher, doch er konnte sie nicht finden. Als er sie rief, war ihre Antwort fern und leise. Allmählich wurde ihm die Anwesenheit eines anderen Wesens bewußt, das kalt und böse war und seltsam vertraut — eines Wesens, dem er schon früher begegnet war. Von Entsetzen gepackt, begann er zu laufen, immer schneller und schneller, während er sich einen Weg durch Spinnweben schwarzer Stille bahnte. Doch das Wesen verfolgte ihn; es verursachte kein Geräusch, aber er spürte es, immer nur einen Schritt hinter sich. Schließlich berührten seine Finger ihn, und er schrie laut auf vor Angst. Da lichtete sich die Finsternis plötzlich, und er stand inmitten eines großen Gartens, der wunderschön war und reich an Farben. Das Wesen war fort. Erleichterung erfüllte ihn. Er war wieder in Sicherheit. Doch im nächsten Moment bäumte sich die Erde unter seinen Füßen auf, und er wurde in die Luft geschleudert. Plötzlich konnte er sehen, daß eine Woge schwarzen Wassers vor dem Garten sich langsam näher wälzte, sich auftürmte wie ein Meer, in dem er gewiß ertrinken würde. Verzweifelt suchte er nach Amberle und sah sie jetzt, einem stummen Geist gleich, der durch die Mitte des Gartens schwebte. Nur flüchtig sah er sie, dann war sie fort. Immer wieder rief er ihren Namen, doch es kam keine Antwort. Dann überspülte ihn das schwarze Wasser, und er begann zu sinken …
Amberle!
Mit einem Aufschrei fuhr er aus dem Schlaf auf. Sein Körper war schweißüberströmt. Auf einem kleinen Tisch an der gegenüberliegenden Wand brannte eine Kerze. Schatten hüllten das Zimmer ein, und Nacht lag über der ganzen Stadt.
»Wil Ohmsford.«
Beim Klang seines Namens blickte er sich suchend um. Eine hochgewachsene, vermummte Gestalt saß an seinem Lager, finster und gesichtslos vor dem schwachen Schein der Kerzenflamme.
Wil erkannte ihn. Allanon.
Mit einem Schlag fiel ihm alles wieder ein. Bitterkeit stieg in ihm auf, eine Bitterkeit, die so wirklich war, daß er sie schmecken konnte. Als er schließlich imstande war zu sprechen, war seine Stimme nur ein leises Zischen.
»Ihr habt es gewußt, Allanon. Ihr habt es die ganze Zeit gewußt.«
Es kam keine Antwort. Tränen brannten in Wils Augen. Er dachte an jenen Abend in Storlock zurück, als ihm der Druide das erste Mal begegnet war. Schon damals hatte er gewußt, daß er Allanon nicht vertrauen durfte. Flick hatte ihn gewarnt; Allanon war ein Mensch voll der Geheimnisse, und er bewahrte diese Geheimnisse gut.
Doch dies — wie hatte er dies verbergen können!
»Warum habt Ihr es mir nicht gesagt?« flüsterte er. »Ihr hättet es mir sagen können.«
In den Schatten der Kapuze regte sich etwas.
»Es hätte dir nichts geholfen, es zu wissen, Talbewohner.«
»Es hätte Euch nicht geholfen — meint Ihr es nicht vielmehr so? Ihr habt Euch meiner bedient. Ihr habt mich in dem Glauben gelassen, alles würde sich zum Besten wenden, wenn ich nur Amberle vor den Dämonen beschützen und sie wohlbehalten nach Arborlon zurückbringen würde. Ihr wußtet, daß ich das glaubte, und Ihr wußtet, daß das nicht zutraf.«
Der Druide schwieg. Wil schüttelte ungläubig den Kopf.
»Hättet Ihr es nicht wenigstens ihr sagen können?«
»Nein, Talbewohner. Sie hätte mir nicht geglaubt. Sie hätte es nicht über sich gebracht, mir zu glauben. Es wäre zuviel verlangt gewesen. Denk doch daran, was geschah, als ich in Havenstead mit ihr sprach. Sie wollte mir nicht einmal glauben, daß sie noch immer eine Erwählte war. Ihre Berufung sei ein Irrtum gewesen, behauptete sie beharrlich. Nein, sie hätte mir nicht geglaubt. Jedenfalls damals nicht. Sie brauchte Zeit, um sich mit der Wahrheit über ihre eigene Person vertraut zu machen und diese Wahrheit zu begreifen. Ich hätte ihr das alles nicht erklären können; das mußte sie selbst herausfinden.«
Wils Stimme zitterte. »Worte, Allanon — Ihr versteht Euch aufs Worte machen. Ihr versteht Euch auf die Beredsamkeit. Auch mich habt Ihr beredet, nicht wahr? Aber diesmal lasse ich mich nicht bereden. Ich weiß, was Ihr getan habt.«
»Dann mußt du auch wissen, was ich nicht getan habe«, gab Allanon leise zurück. Er beugte sich vor. »Die letzte Entscheidung lag allein bei ihr, Talbewohner. Ich hatte nichts damit zu tun. Es war nie meine Aufgabe, für sie zu entscheiden; meine Aufgabe bestand allein darin, ihr die Gelegenheit zu geben, selbst die Entscheidung zu treffen. Das habe ich getan, und nicht mehr.«
»Nicht mehr? Ihr habt doch dafür gesorgt, daß sie die Entscheidung so traf, wie Ihr sie Euch wünschtet. Und das nennt Ihr nichts?«
»Ich habe dafür gesorgt, daß sie begriff, welche Folgen ihre Entscheidung jeweils haben würde. Das ist etwas ganz anderes …«
»Folgen!« Wil fuhr vom Kissen hoch, und sein kurzes Lachen troff von Ironie. »Was wißt denn Ihr schon von Folgen, Allanon?« Seine Stimme brach. »Wißt Ihr, was sie mir bedeutet hat? Wißt Ihr das?«
Tränen strömten ihm über das Gesicht. Er legte sich wieder hin, fühlte sich seltsam beschämt. Alle Bitterkeit war von ihm abgefallen, und die Leere, die geblieben war, schmerzte. Befangen wandte er den Blick von Allanon, und beide schwiegen sie. In der Dunkelheit des Zimmers berührte der Kerzenschein sie mit sanftem Licht.
Lange Zeit verging, ehe Wil Ohmsford den Druiden wieder anblickte.
»Nun, jetzt ist es vorbei. Sie ist nicht mehr.« Er schluckte krampfhaft. »Wollt Ihr mir wenigstens erklären, warum es so kommen mußte?«
Einen Moment lang sagte der Druide nichts, sondern saß stumm in die Schatten seiner Gewänder gehüllt. Als er dann schließlich sprach, war seine Stimme beinahe ein Flüstern.
»Dann hör mir zu, Talbewohner. Er ist ein herrliches Geschöpf — dieser Baum, der Ellcrys —, lebendiger Zauber, durch die Verschmelzung von menschlichem Leben mit Erdenfeuer geschaffen. Vor den Großen Kriegen wurde er gemacht. Die Zauberer der Elfen erschufen ihn, als die Dämonen endlich in die Enge getrieben waren und ein Mittel gefunden werden mußte, sie daran zu hindern, das Land der Elfen je wieder zu bedrohen. Die Elfen, das weißt du wohl, waren kein gewalttätiges Volk. Der Erhaltung des Lebens galt ihr Sinnen und Streben und ihr Schaffen. Selbst bei Geschöpfen, die so zerstörerisch und böse waren wie die Dämonen, kam absichtliche Vernichtung der Gattung für sie nicht in Betracht. Die Verbannung von der Erde schien ihnen die annehmbarste Möglichkeit, aber sie wußten, es mußte ein Fluch von solcher Kraft über die Bösen verhängt werden, daß seine Gesetze auch nach Tausenden von Jahren noch wirken würden. Und die Dämonen würden an einen Ort verbannt werden müssen, wo sie anderen keinen Schaden tun konnten. Da bedienten sich die Zauberer der Elfen ihrer mächtigsten Magie, jener, die das größte Opfer von allen verlangte, die freiwillige Gabe des Lebens. Dank dieser Gabe konnte der Ellcrys geschaffen und die Bannmauer der Verfemung errichtet werden.«
Er schwieg einen Moment.
»Du mußt die Einstellung der Elfen zum Leben verstehen, das Gesetz, das ihre Lebensweise bestimmt, um würdigen zu können, wofür der Ellcrys steht und warum Amberle sich entschied, zu diesem Baum zu werden. Die Elfen glauben, daß sie bei der Erde in Schuld stehen, denn die Erde ist die Schöpferin und Erhalterin allen Lebens. Ihr Leben wird ihnen gegeben; daher müssen sie Leben zurückgeben. Dies tun sie, indem sie sich dem Dienst an der Erde verschreiben, indem jeder auf seine eigene Weise dafür sorgt, daß das Land erhalten bleibt. Der Ellcrys ist nichts als eine Ausweitung dieses Dienstes an der Erde. Er ist die Verkörperung der Überzeugung, daß die Erde und die Elfen gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Der Ellcrys ist eine Verschmelzung der Erde mit elfischem Leben, geschaffen dazu, gegen das Böse zu schützen, das beide zu zerstören trachtet. Dies begriff Amberle schließlich. Sie sah ein, daß das Westland und ihr Volk nur durch ihr Opfer gerettet werden konnten, durch ihre Bereitschaft, der Ellcrys zu werden. Sie erkannte, daß das Samenkorn, das sie bei sich trug, nur zum Leben erwachen konnte, wenn sie sich selbst aufgab und opferte.«
Er machte eine Pause und beugte sich mit einer bedächtigen Bewegung weiter vor, so daß der Schatten seiner dunklen Gestalt über Wil fiel.
»Auch der erste Ellcrys war eine Frau, Talbewohner. Der Ellcrys muß immer eine Frau sein, denn nur eine Frau kann andere ihrer Art hervorbringen. Die Zauberer sahen diese Notwendigkeit der Fortpflanzung voraus, wenn sie auch nicht vorausahnen konnten, wie häufig sie sich ergeben würde. Sie wählten eine Frau, ein junges Mädchen, das, so stelle ich mir vor, Amberle sehr ähnlich war, und sie verwandelten sie. Dann gründeten sie den Orden der Erwählten, damit stets jemand da war, den Ellcrys zu pflegen, und damit der Ellcrys, wenn die Zeit kam, die Möglichkeit hatte, eine Nachfolgerin zu wählen. Doch der Ellcrys berief, abgesehen von einer Handvoll junger Frauen, Jahrhunderte hindurch nur junge Männer zu seinen Erwählten. Die Geschichte berichtet nichts darüber, warum er das tat — und auch er selbst erinnerte sich nicht mehr des Grundes. Frauen wählte der Ellcrys nur, wenn eine Notwendigkeit dafür bestand. Vielleicht hatte es etwas mit seiner Erschaffung zur Zeit der Elfen-Zauberer zu tun. Vielleicht versprach man damals dem jungen Mädchen, das verwandelt wurde, daß junge Männer ihr zu Diensten sein würden — vielleicht bat sie darum. Ich weiß es nicht.
Jedenfalls, als der Ellcrys Amberle berief, da fürchtete er schon, daß er bald würde sterben müssen. Er war sich nicht sicher, da er ja der erste seiner Art war, und niemand etwas darüber sagen konnte, wann sein Tod nahen und wie er sich ankündigen würde. Ja, es gab viele, die überzeugt waren, der Ellcrys sei unsterblich. Es hatte andere Zeiten in seinem Leben gegeben, als er geglaubt hatte, dem Tod nahe zu sein, als er geglaubt hatte, so gefährdet zu sein, daß er die berufen mußte, die ihm folgen sollte. Jedesmal berief er eine junge Frau — das letzte Mal vor fünfhundert Jahren. Die genauen Gründe kenne ich nicht, frag mich also nicht danach. Es ist ja im Grunde auch nicht von Bedeutung.
Als Amberle zur Erwählten berufen wurde, die erste Frau seit fünfhundert Jahren, war die Verwunderung unter den Elfen groß. Doch die Berufung Amberles war von viel größerer Bedeutung als die Elfen ahnten; in ihr nämlich sah der Ellcrys seine mögliche Nachfolgerin. Und eigentlich noch mehr als das. Die weibliche Seele des Ellcrys sah in Amberle gewissermaßen ihr ungeborenes Kind. Du magst das merkwürdig finden, aber berücksichtige die Umstände. Der Baum wußte, wenn er sterben würde, dann würde er zuvor einen Samen hervorbringen, und dieser Same und Amberle würden eins werden, ein neuer Ellcrys, zum Teil wenigstens aus dem alten geboren. Im Bewußtsein dieser Tatsache wurde Amberles Wahl getroffen, und sie war notwendigerweise mit Gefühlen verbunden wie sie eine Mutter ihrem ungeborenen Kind entgegenbringt. Körperlich hatte sich die Frau, die der Ellcrys geworden war, gewandelt; ihre Seele jedoch blieb so, wie sie gewesen war. Und in Amberle spürte der Baum eine Seelenverwandtschaft. Deshalb verband beide von Beginn an eine solch ruhige Nähe.«
Wiederum schwieg er sinnend.
»Unglücklicherweise war es gerade diese Nähe, die dann zu Schwierigkeiten führte. Als ich, durch den langsamen Verfall der Bannmauer und den drohenden Durchbruch der Dämonen geweckt, zuerst nach Arborlon kam, ging ich in den Garten des Lebens, um mit dem Ellcrys zu sprechen. Er sagte mir, daß er nach der Erwählung Amberles versucht hatte, die Bande zu dem Elfenmädchen fester zu knüpfen. Er hatte es getan, weil er spürte, wie die Krankheit an ihm zu nagen begann. Er hatte erkannt, daß das Ende seines Lebens nahte; das Samenkorn, das schon damals in ihm zu wachsen begann, sollte an Amberle weitergegeben werden. Der Ellcrys wollte Amberle auf das Kommende vorbereiten, er wollte ihr etwas von der Schönheit und der Anmut und dem Frieden begreiflich machen, derer er während seines Lebens teilhaftig geworden war. Amberle sollte fähig sein zu würdigen, was es bedeutete, mit der Erde eins zu werden, über Jahrhunderte hinweg ihre Entwicklungen mitzuerleben und ihre Wandlungen — kurz, sie sollte wohl auf den Prozeß des Erwachsenwerdens vorbereitet werden, den eine Mutter kennt, ein Kind aber nicht.«
Wil nickte gedankenvoll. Er dachte an den Traum, den er und Amberle geteilt hatten, nachdem der König vom Silberfluß sie vor den Dämonen gerettet hatte. In diesem Traum hatten sie einander gesucht — er war durch einen heiteren Garten geirrt, dessen Schönheit ihm den Atem geraubt hatte; sie hatte in Finsternis nach ihm gerufen, doch nie eine Antwort bekommen. Beide hatten sie nicht verstanden, daß dieser Traum eine Prophezeiung gewesen war. Beide hatten sie nicht verstanden, daß der König vom Silberfluß ihnen erlaubt hatte, einen Blick in die Zukunft zu werfen, die das Schicksal für sie bereithielt.
Der Druide nahm den Faden wieder auf.
»Die Absicht des Ellcrys war gut, doch er war allzu eifrig in seinem Bemühen. Er machte Amberle Angst mit seinen Bildern, mit der ständigen Bemutterung. Amberle hatte das Gefühl, sich selbst entfremdet zu werden. Sie war noch nicht bereit für die Wandlung. Sie bekam Angst, und sie wurde zornig. Sie verließ Arborlon. Der Ellcrys verstand das nicht; Tag und Nacht wartete er darauf, daß Amberle zurückkehren würde. Als die Krankheit sich so weit ausgebreitet hatte, daß sie nicht mehr einzudämmen war, als das Samenkorn fertig geformt war, rief sie ihre Erwählten zu sich.«
»Aber nicht Amberle?« Wil hörte jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
»Nein, nicht Amberle. Der Baum glaubte, Amberle würde von selbst kommen, verstehst du. Er wollte sie nicht rufen, denn als er das zuvor getan hatte, hatte er das Mädchen damit nur weiter fortgetrieben. Er war überzeugt, daß Amberle kommen würde, sobald sie erfuhr, daß er dem Tode nahe war. Unglücklicherweise war die Zeit kürzer, als er geglaubt hatte. Die Mauer der Verfemung begann abzubröckeln, und er konnte sie nicht aufrechterhalten. Einer Gruppe von Dämonen gelang der Durchbruch, und die Erwählten wurden ermordet — alle außer Amberle. Als ich kam, war der Ellcrys in tiefer Verzweiflung. Amberle müsse gefunden werden, sagte er zu mir. Und da zog ich aus, um sie zu suchen.«
Ein Schatten neuer Bitterkeit flog über Wils Gesicht.
»Dann wußtet Ihr schon in Havenstead, daß der Ellcrys Amberle noch immer als seine Erwählte betrachtete.«
»Ja, das wußte ich.«
»Und Ihr wußtet auch, daß er Amberle sein Samenkorn anvertrauen würde.«
»Ich will dich der Mühe entheben, weitere Fragen zu stellen. Ich wußte alles. Die alten Geschichtsbücher der Druiden in Paranor offenbarten mir die Wahrheit über die Erschaffung des Ellcrys — und über die einzige Möglichkeit seiner Wiedererschaffung.«
Er zögerte. »Eines sollst du verstehen, Talbewohner. Auch mir lag dieses Mädchen am Herzen. Ich hatte kein Verlangen, sie zu täuschen, wenn du meine Unterlassungen als Täuschung bezeichnen willst. Es war einfach notwendig, daß Amberle auf andere Art als durch mich die Wahrheit über sich selbst entdeckte. Ich zeigte ihr einen Weg, dem sie folgen konnte; ich gab ihr keine Landkarte, die jeden Knick und jede Wendung erklärte. Ich war der Meinung, daß sie allein die Entscheidungen treffen sollte, vor die sie gestellt werden würde. Weder du noch ich noch sonst einer hatte das Recht, diese Entscheidungen für sie zu treffen.«
Wil Ohmsford senkte den Blick.
»Vielleicht. Und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie von Beginn an gewußt hätte, wohin der Pfad, auf den Ihr sie gestellt hattet, führen würde.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Seltsam. Ich dachte, die Wahrheit über alles, was geschehen ist, würde mir irgendwie helfen. Aber sie hilft mir nicht. Überhaupt nicht.«
Darauf folgte ein langes Schweigen. Wil blickte wieder auf.
»Ich habe jedenfalls nicht das Recht, Euch das zum Vorwurf zu machen, was geschehen ist. Ihr tatet, was Ihr tun mußtet — das weiß ich. Ich weiß, daß die Entscheidungen immer bei Amberle lagen. Aber sie so zu verlieren — das ist so schwer…«
Der Druide nickte. »Es tut mir leid, Wil.«
Er erhob sich.
»Warum habt Ihr mich gerade jetzt geweckt, Allanon?« fragte Wil unvermittelt. »Um mir dies zu sagen?«
Der große Alte richtete sich auf.
»Um dir dies zu sagen und um dir Lebewohl zu sagen, Wil Ohmsford.«
»Lebewohl?«
»Auf einen anderen Tag, Talbewohner.«
»Aber — wohin geht Ihr denn?«
Es kam keine Antwort. Wil fühlte, wie er wieder schläfrig wurde; der Druide ließ ihn in den Schlummer zurückgleiten, dem er ihn entrissen hatte. Hartnäckig kämpfte er dagegen an. Es gab noch vieles zu sagen, und er wollte es sagen. Allanon konnte nicht einfach so gehen, so unerwartet in der Nacht untertauchen wie er aufgetaucht war, vermummt wie ein Dieb, der fürchtete, ein Blick auf seine Züge könnte ihn verraten …
Plötzlicher Verdacht erwachte in ihm. Schwach streckte er den Arm aus und faßte das Gewand des Druiden.
»Allanon.«
Schweigen füllte das kleine Schlafgemach.
»Allanon — laßt mich Euer Gesicht sehen.«
Einen Moment lang glaubte er, der Druide hätte ihn nicht gehört. Allanon stand reglos an seinem Lager und blickte aus den tiefen Schatten seiner Gewänder zu ihm hinunter. Wil wartete. Langsam hob der Druide beide Hände und streifte die Kapuze ab.
»Allanon?« flüsterte Wil bestürzt.
Haar und Bart des Druiden, einst kohlschwarz, waren von grauen Strähnen durchzogen. Allanon war gealtert.
»Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man sich zauberischer Kräfte bedient.« Allanons Lächeln war dünn und spöttisch. »Diesmal, fürchte ich, habe ich mich ihrer allzu ausgiebig bedient; es raubte mir mehr, als ich zu geben bereit war.« Er zuckte die Schultern. »Jedem von uns ist nur ein bestimmtes Maß an Lebenskraft gegeben, Talbewohner — nur so viel und kein Quentchen mehr.«
»Allanon«, rief Wil leise. »Allanon, es tut mir leid. Geht noch nicht.«
Allanon schob die Kapuze wieder über den Kopf und umfaßte Wils Hände mit den seinen.
»Es ist Zeit für mich zu gehen. Wir brauchen beide Ruhe. Schlaf wohl, Wil Ohmsford. Versuche, nicht schlecht von mir zu denken; ich glaube, daß Amberle es auch nicht tut. Such deinen Trost in diesem: Du bist ein Heiler, und Aufgabe eines Heilers ist es, Leben zu erhalten. In dieser Sache hast du genau das getan — du hast den Elfen und dem Westland das Leben erhalten. Und wenn auch Amberle dir verloren scheint, so bedenke doch, daß du sie immer in der Erde finden kannst. Berühre die Erde, und Amberle wird bei dir sein.«
Er glitt davon in die Dunkelheit und drückte die Flamme der Kerze aus.
»Geht nicht«, rief Wil schläfrig.
»Leb wohl, Wil.« Die tiefe Stimme schwebte auf Nebelschwaden. »Sag Flick, daß er recht gehabt hat mit seiner Mahnung über mich. Das wird ihn freuen.«
»Allanon«, murmelte Wil noch einmal leise, dann war er eingeschlafen.
So still wie die Schatten der Nacht glitt der Druide durch die dämmrig erleuchteten Gänge des Hauses der Elessedils. Leibgardisten bewachten diese Korridore, Elfen-Jäger, die in der Schlacht am Elfitch gekämpft und sie überlebt hatten, harte Männer, die sich so leicht nicht rühren ließen. Doch Allanon wichen sie; der Blick des Druiden gebot es ihnen.
Wenig später stand er im Schlafgemach des Elfenkönigs. Kerzenlicht erleuchtete den Raum mit gedämpftem, milden Licht, das durch die Dunkelheit in Ecken und verborgene Nischen sickerte. Die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Es war sehr still.
Auf dem breiten Bett am anderen Ende des Zimmers lag Eventine, in Verbände und Leintücher gehüllt. In einem hochlehnigen Rohrstuhl an seiner Seite schlummerte unruhig Andor Elessedil.
Stumm trat Allanon an das Fußende des Bettes. Der alte König schlief. Langsam und röchelnd ging sein Atem, und seine Haut hatte die Farbe von Pergament. Das Ende seines Lebens war nahe.
Das Ende eines Zeitalters, dachte der Druide. Nun würde bald keiner von ihnen mehr sein, keiner von denen, die gegen den Dämonen-Lord gekämpft und die Suche nach dem geheimnisvollen Schwert von Shannara miterlebt hatten. Nur die Ohmsfords waren noch da, Shea und Flick.
Ein grimmiges Lächeln der Ironie flog über Allanons Lippen. Und er selbst natürlich. Er war noch da. Er war immer da.
Unter den leinenen Decken regte sich Eventine Elessedil. Jetzt ist es soweit, sagte sich Allanon. Zum ersten Mal in dieser Nacht zeigte sich ein Hauch von Bitterkeit in seinen harten Zügen.
Schweigend und lautlos zog er sich in die bergenden Schatten im Hintergrund des Raumes zurück und wartete.
Mit einem Ruck fuhr Andor Elessedil aus dem Schlaf. Mißtrauisch flog sein Blick durch das leere Schlafgemach, nach Gespenstern forschend, die nicht da waren. Ein beängstigendes Gefühl des Alleinseins überkam ihn. So viele, die hätten hier sein sollen, waren nicht mehr — Arion, Pindanon, Crispin, Ehlron, Tay, Kerrin. Alle waren sie tot.
Schwer ließ er sich wieder in den Korbsessel sinken. Wie lange, fragte er sich, hatte er geschlafen? Er wußte es nicht. Gael würde bald kommen und Speise und Trank mitbringen. Gemeinsam würden sie dann an der Seite des Königs weiterwachen. Und warten.
Erinnerungen quälten ihn; Erinnerungen an seinen Vater, an das, was gewesen war, Geister der Vergangenheit, Bilder von Zeiten und Orten und Ereignissen, die für immer vergangen waren. Bittersüß waren die Erinnerungen, die ihm gemeinsames Glück ins Gedächtnis riefen, aber auch die Vergänglichkeit solchen Glücks. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn ihn die Erinnerungen in dieser Nacht verschont hätten.
Er mußte plötzlich an seinen Vater und Amberle denken. Sie waren einander ganz besonders nahe gewesen. Eine Zuneigung hatte zwischen ihnen bestanden, die verlorengegangen, aber wiedergefunden worden war. Und jetzt? Immer noch war die Wandlung, die Amberle durchgemacht hatte, unbegreiflich. Stets mußte er sich von neuem daran erinnern, daß sie Wirklichkeit war, nicht Einbildung. Noch jetzt konnte er den kleinen Himmelsreiter, Perk, vor sich sehen, als dieser ihm berichtete, was er miterlebt hatte. Das Kindergesicht war voller Ehrfurcht, aber auch voller Angst gewesen, und dazu voll von einem tiefen Ernst, der keine Zweifel gestattete.
Sein Kopf sank zurück und seine Augen schlossen sich. Wenige erst kannten die Wahrheit. Er war sich noch immer nicht schlüssig darüber, ob es so bleiben sollte oder nicht.
»Andor.«
Er zuckte hoch. Die durchdringenden blauen Augen seines Vaters blickten ihn an. Er war einen Moment lang so erstaunt, daß er nur stumm auf den alten Mann hinuntersah.
»Andor — was ist geschehen?«
Die Stimme des Elfenkönigs war dünn und rauh. Rasch kniete Andor an seiner Seite nieder.
»Es ist vorbei«, antwortete er leise. »Wir haben gesiegt. Die Dämonen sind wieder durch den Fluch der Verfemung gebannt. Der Ellcrys …«
Er konnte nicht zu Ende sprechen. Ihm fehlten die Worte. Die Hand seines Vaters glitt unter den Decken hervor und suchte die seine.
»Und Amberle?«
Andor holte tief Atem. Tränen standen in seinen Augen. Er zwang sich, dem Blick seines Vaters zu begegnen.
»Es geht ihr gut«, flüsterte er. »Sie ruht sich jetzt aus.«
Darauf folgte eine lange Pause. Der Schatten eines Lächelns huschte über die Züge des alten Königs.
Dann fielen seine Augen zu. Er war tot.
Allanon blieb noch mehrere Minuten in den Schatten stehen, ehe er vortrat.
»Andor!« rief er leise.
Der Elfenprinz stand auf, ließ die Hand seines Vaters los.
»Er ist tot, Allanon.«
»Und Ihr seid jetzt König. Seid der König, den er sich gewünscht hat.«
Andor wandte sich um und betrachtete den Druiden mit forschendem Blick.
»Wußtet Ihr es, Allanon? Oft habe ich mir seit Baen Draw diese Frage gestellt. Wußtet Ihr, daß all dies geschehen würde, daß ich König werden würde?«
Das Gesicht des Druiden schien sich zu verschließen, verlor allen Ausdruck.
»Ich hätte das, was geschah, nicht verhindern können, Elfenprinz«, antwortete er. »Ich konnte nur versuchen, Euch auf das Kommende vorzubereiten.«
»Dann habt Ihr es gewußt?«
Allanon nickte. »Ich habe es gewußt. Ich bin ein Druide.«
Andor holte tief Atem.
»Ich werde mein Bestes geben, Allanon.«
»Dann werdet Ihr es gut machen, Andor Elessedil.«
Er sah dem Elfenprinz nach, als dieser wieder an das Lager seines Vaters trat und den alten König zudeckte wie ein Kind, um dann wieder niederzuknien.
Geräuschlos wandte sich Allanon um und glitt aus dem Zimmer, aus dem Herrenhaus, aus der Stadt, aus dem Land. Niemand sah ihn gehen.
Es war früher Morgen, als jemand Wil Ohmsford sanft wachschüttelte. Silbergraues Licht fiel durch die verhangenen Fenster, die weichende Dunkelheit ganz zu vertreiben. Langsam schlug Wil die Augen auf und sah den kleinen Perk an seinem Bett stehen.
»Wil?« Das Gesicht des kleinen Himmelsreiters war ernst.
»Hallo, Perk.«
»Wie geht es Euch?«
»Etwas besser, glaube ich.«
»Gut.« Ein flüchtiges Lächeln flog über Perks Gesicht. »Ich hatte richtig Angst.«
Wil erwiderte das Lächeln.
»Ich auch.«
Perk setzte sich auf den Bettrand.
»Es tut mir leid, daß ich Euch geweckt habe, aber ich wollte nicht abreisen, ohne Euch Lebewohl gesagt zu haben.«
»Du verläßt uns?«
Der Junge nickte. »Ich hätte schon gestern abend losfliegen müssen, aber ich wollte Genewen noch etwas Ruhe gönnen. Sie war müde nach dem langen Flug. Aber jetzt muß ich wirklich aufbrechen. Ich hätte ja schon vor zwei Tagen im Rockhort zurücksein müssen. Man sucht wahrscheinlich schon nach mir.« Er schwieg einen Moment. »Aber sie werden es schon verstehen, wenn ich erzähle, was passiert ist. Dann sind sie bestimmt nicht böse.«
»Hoffentlich nicht. Das wäre mir arg.«
»Mein Onkel Dayn hat gesagt, er würde es ihnen auch erklären. Wußtet Ihr, daß mein Onkel Dayn hier war, Wil? Mein Großvater schickte ihn. Onkel Dayn sagte, ich hätte mich wie ein echter Himmelsreiter verhalten. Er sagte, was Genewen und ich getan haben, sei von großer Bedeutung gewesen.«
Wil stützte sich auf.
»Das war es wirklich, Perk. Von sehr großer Bedeutung.«
»Ich konnte Euch doch nicht einfach im Stich lassen. Ich wußte, daß Ihr mich vielleicht brauchen würdet.«
»Wir brauchten dich sogar ganz dringend.«
Perk blickte auf seine Hände nieder.
»Wil, das mit der Dame Amberle tut mir leid. Wirklich.«
Wil nickte. »Ich weiß, Perk.«
»Sie war tatsächlich verzaubert, nicht wahr? Sie war verzaubert, und durch die Verzauberung wurde sie in einen Baum verwandelt.« Hastig blickte er auf. »Das wollte sie doch, nicht wahr? Sie wollte sich in den Baum verwandeln, damit die Dämonen verschwanden? So sollte es doch sein, nicht?«
Wil schluckte. »Ja.«
»Ich hatte wirklich Angst«, sagte Perk leise. »Es kam so plötzlich. Sie hatte ja vorher kein Wort davon gesagt. Darum erschreckte es mich dann so.«
»Ich glaube nicht, daß sie dich erschrecken wollte.«
»Nein, das glaube ich auch nicht.«
»Sie hatte nur nicht die Zeit für Erklärungen.«
Perk zuckte die Schultern. »Ich weiß. Es kam so plötzlich.«
Es war ein Weilchen still, dann stand der kleine Himmelsreiter auf.
»Ich wollte Euch nur Lebwohl sagen, Wil. Werdet Ihr uns einmal besuchen? Oder könnte ich Euch vielleicht besuchen —aber erst, wenn ich älter bin. Vorher darf ich nicht über die Grenzen vom Westland hinausfliegen.«
»Ich komme dich besuchen«, versprach Wil. »Bald.«
Perk winkte kurz und ging zur Tür. Seine Hand lag schon auf der Klinke, als er sich noch einmal umwandte.
»Ich hab’ sie wirklich gemocht, Wil — ganz unheimlich.«
»Ich habe sie auch gemocht, Perk.«
Der kleine Himmelsreiter lächelte flüchtig und eilte hinaus.