Alle kehrten sie nach Hause zurück, alle, die nach Arborlon gekommen waren, um den Elfen Beistand zu leisten. Bis auf zwei. Zuerst brachen die Himmelsreiter auf. Im Morgengrauen des Tages, an dem die Herrschaft Andor Elessedils als neuer König der Elfen begann, traten sie den Flug nach Hause an — drei von den fünf, die zusammen nordwärts geflogen waren, und der Knabe Perk. In aller Stille machten sie sich auf den Weg, verabschiedeten sich nur von dem neuen König und waren fort, noch ehe die Sonne über den Wipfeln der Wälder im Osten aufgegangen war. Den ersten Strahlen der Morgensonne gleich, die die schwingende Nacht jagten, zogen die goldenen Rocks am Himmel ihre Bahn. Am Mittag zogen unter der Führung von Amantar die Bergtrolle aus. So unerschrocken und stolz wie sie gekommen waren, marschierten sie mit grüßend erhobenen Waffen an den Elfen vorüber, die sich in Straßen und Gassen zum Abschied versammelt hatten. Zum ersten Mal seit mehr als tausend Jahren trennten sich Trolle und Elfen nicht als Feinde, sondern als Freunde. Die Zwerge blieben noch einige Tage und halfen den Elfen beim Entwurf der Wiederaufbaupläne für den zerstörten Elfitch. Mit Hilfe jener Pioniere, die noch arbeiten konnten, zeichnete der energische Browork den Elfen einen detaillierten Plan zur Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe. Und als er schließlich mit seinen Leuten die Heimreise antrat, tat er es nicht, ohne zu versprechen, daß in naher Zukunft eine andere Einheit von Zwergenpionieren ausgesandt werden würde, um den Elfen beim Wiederaufbau Unterstützung zu leisten. »Wir wissen, daß wir uns auf die Zwerge verlassen können.« Andor drückte Browork zum Abschied fest die Hand. »Immer«, bestätigte der Zwerg mit einem Nicken. »Denkt daran, wenn wir Euch einmal brauchen.« Als letzte machten sich die Männer aus Callahorn auf den Weg — der kleine Trupp von Freikämpfern und Altgardisten, der die erbitterten Kämpfe um den Elfitch überlebt hatte. Nicht ein Dutzend der Freikämpfer war am Leben geblieben, und nicht sechs von diesen würden je wieder in den Kampf ziehen können. Die Einheit war praktisch ausgelöscht, die Leichen ihrer Soldaten zwischen dem Halys-Joch und Arborlon verstreut. Doch der hochgewachsene, narbengesichtige Grenzländer, den sie den Eisenmann nannten, war wieder einmal mit dem Leben davongekommen. Am frühen Morgen des sechsten Tages nach dem Sieg über die Dämonen-Horden kam er auf seinem mächtigen Rotschimmel zu Andor Elessedil, der am Rande des Carolan stand und mit seinen Baumeistern die von den Zwergpionieren entworfenen Pläne besprach. Nachdem Andor sich hastig entschuldigt hatte, trat er zu dem hochgewachsenen Grenzländer, der vom Pferd gestiegen war und ihn erwartete. Ohne der respektvollen Verneigung zu achten, mit der Stee Jans ihn begrüßte, nahm Andor die Hand des Befehlshabers und drückte sie fest.
»Es geht Euch wieder gut, Befehlshaber?« fragte er lächelnd.
»Ausgezeichnet, Herr«, antwortete Stee Jans, ebenfalls lächelnd. »Ich bin gekommen, um Euch zu danken und Lebewohl zu wünschen. Die Legion reitet wieder für Callahorn.«
Andor schüttelte langsam den Kopf.
»Nicht Ihr habt mir zu danken. Ich — und das Elfenvolk — wir haben Euch zu danken. Keiner hat mehr für uns und dieses Land getan als die Freitruppe. Und Ihr, Stee Jans — was wäre ohne Euch aus uns geworden?«
Der Grenzländer schwieg einen Moment, ehe er sprach.
»Herr, ich denke, wir fanden in Eurem Volk und Eurem Land eine Sache, für die es wert war zu kämpfen. Was wir getan haben, das haben wir gern getan. Und Ihr habt diesen Kampf nicht verloren — das ist das einzige, was zählt.«
»Wie hatten wir mit Eurem Beistand verlieren können?« Wieder umschloß Andor seine Hand. »Und was habt Ihr jetzt vor?«
Stee Jans zuckte die Schultern.
»Die Freitruppe gibt es nicht mehr. Vielleicht wird sie neu aufgestellt werden. Vielleicht auch nicht. Wenn nicht, dann gibt es vielleicht ein neues Legionskommando. Ich werde jedenfalls darum bitten.«
Andor nickte. »Bittet mich, Stee Jans — bittet mich um ein Kommando, und es ist Euer. Es wäre mir und dem Elfenvolk eine Ehre, wenn Ihr annehmen würdet. Wollt Ihr das Angebot in Betracht ziehen?«
Der Grenzländer lächelte und schwang sich in den Sattel seines Pferdes.
»Ich bin schon dabei, es in Betracht zu ziehen, Herr.« Er grüßte schneidig. »Bis wir uns Wiedersehen, Herr — Kraft mit Euch und den Elfen.«
Er wendete den großen Rotschimmel und galoppierte mit wehendem Umhang über den Carolan davon.
So also kehrten sie alle nach Hause zurück, die nach Arborlon gekommen waren, um den Elfen in höchster Not Beistand zu leisten. All die Tapferen. Nur zwei nicht.
Einer war der Talbewohner, Wil Ohmsford.
Hell und warm lag der Sonnenschein über dem Carolan, als sich Wil Ohmsford gegen Mittag dem Tor zum Garten des Lebens näherte. Ruhigen, gemessenen Schrittes schritt Wil den Kiesweg entlang, nichts Zauderndes in seinem Gebaren. Und doch hatte er das Gefühl, nicht weiter zu können, als er schließlich vor dem Tor stand.
Eine Woche hatte er gebraucht, um diesen Weg zurückzulegen. Die ersten drei Tage nach seinem Zusammenbruch in eben diesem Garten hatte er in seinen Gemächern im Herrenhaus der Elessedils zugebracht. Die meiste Zeit hatte er geschlafen. Dann war er zwei Tage lang im abgeschiedenen Park des alten Hauses umhergewandert und hatte mit den brodelnden Gefühlen gerungen, die ihn bei jeder Erinnerung an Amberle quälten. Die letzten zwei Tage hatte er damit zugebracht, jeden Gedanken an das, was zu tun er jetzt gekommen war, tunlichst zu vermeiden.
Lange stand er vor dem Eingang zum Garten und blickte zum Tor aus Silber und Elfenbein empor, ließ den Blick über die efeubewachsenen Mauern und die Hecken gleiten, die den Weg durch den Garten begrenzten. Leute aus der Stadt, die durch das Tor gingen, vor dem er stand, wandten sich nach ihm um. Die Posten der Schwarzen Wache standen starr und unzugänglich zu beiden Seiten, warfen nur einen flüchtigen Blick auf den jungen Mann und richteten die Augen wieder geradeaus. Immer noch zögerte Wil Ohmsford.
Doch er wußte, daß er jetzt nicht umkehren konnte. Er hatte es sich genau überlegt. Einmal noch mußte er sie sehen. Ein letztes Mal. Erst dann würde er Frieden finden.
Noch bevor er sich dessen selbst bewußt wurde, hatte er das Tor passiert und folgte dem geschwungenen Weg, der ihn zu dem Baum führen würde.
Er verspürte eine seltsame Erleichterung, so als hätte er das Rechte getan, indem er sich entschlossen hatte, zu ihr zu gehen. Etwas von der Entschlossenheit, die ihn durch die letzten Wochen begleitet hatte, kehrte jetzt wieder, nachdem sie ihn angesichts von Amberles Verlust völlig verlassen hatte, da er überzeugt gewesen war, versagt zu haben. Er glaubte, dieses Gefühl jetzt besser zu verstehen. Es war weniger ein Gefühl des Versagens gewesen, das er empfunden hatte, als vielmehr ein Erkennen seiner Grenzen. Man kann nicht alles tun, was man vielleicht gern tun würde. Das hatte sein Onkel Flick einmal zu ihm gesagt. Er hatte Amberle zwar vor den Dämonen retten können, nicht aber davor, zum Ellcrys zu werden. Das hatte nie in seiner Macht gelegen, sondern immer nur in ihrer. Ihre Entscheidung war es gewesen, wie sie selbst ihm gesagt hatte — wie auch Allanon ihm versichert hatte. Daran würden Zorn, Bitterkeit und Selbstvorwürfe nichts ändern. Er mußte einen anderen Weg finden, sich mit dem auszusöhnen, was geschehen war. Und er glaubte, diesen Weg jetzt zu kennen. Der Besuch bei ihr war der erste Schritt.
Dann stand sie vor ihm. Klar und scharf hob sich der Ellcrys vor dem Blau des mittäglichen Himmels ab. Der schlanke silberne Stamm und die blutroten Blätter waren von flirrendem Sonnenlicht umspielt. Tränen traten ihm in die Augen, als er dieses herrliche Geschöpf vor sich sah.
»Amberle …« flüsterte er.
Elfenfamilien drängten sich am Fuß des Hügels, auf dem sie stand, und betrachteten ehrfürchtig den Baum. Wil Ohmsford zögerte, dann gesellte er sich zu ihnen.
»Siehst du, er ist wieder gesund«, sagte gerade eine Mutter zu dem kleinen Mädchen. »Die Krankheit ist besiegt.«
Und ihr Land und ihr Volk sind wieder in Sicherheit, fügte Wil stillschweigend hinzu. Weil Amberle sich für sie geopfert hatte. Er holte tief Atem, während er zu dem Baum aufblickte. Sie hatte es so gewollt — nicht nur, weil sie es für notwendig gehalten hatte, sondern weil sie schließlich davon überzeugt gewesen war, daß dies der Sinn ihres Daseins auf der Erde war. Man muß der Erde etwas von dem zurückgeben, was man von ihr bekommen hat! Sie hatte ihr alles zurückgegeben.
Er lächelte traurig. Doch sie hatte nicht alles verloren. Indem sie zum Ellcrys geworden war, hatte sie eine ganze Welt gewonnen.
Amberle.
Wil blickte noch einen langen Augenblick zu ihr auf, dann wandte er sich ab und ging langsam davon.
Er war gerade durch das Tor hinausgegangen, als er Eretria entdeckte. Sie stand etwas abseits von dem Pfad, der aus der Stadt heraufführte, und blitzend traf der Blick ihrer dunklen Augen den seinen. Statt der leuchtenden Seide der Fahrensleute trug sie jetzt die gewöhnlichen Gewänder der Elfen. Und doch war nichts an Eretria gewöhnlich. Sie war jetzt noch so atemberaubend schön wie damals, als Wil sie das erste Mal gesehen hatte. Das lange schwarze Haar, das ihr in Locken über die Schultern floß, schimmerte im Sonnenlicht, und das vertraute strahlende Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie seiner ansichtig wurde.
Stumm trat er zu ihr und lächelte.
»Du siehst wieder wie ein ganzer Mensch aus«, bemerkte sie leichthin.
Er nickte. »Das habe ich dir zu verdanken. Du hast mir wieder auf die Beine geholfen.«
Ihr Lächeln vertiefte sich bei dem Kompliment. Jeden Tag in der vergangenen Woche war sie bei ihm gewesen — hatte ihm zu essen gegeben, seine Wunden frisch verbunden, ihm Gesellschaft geleistet, wenn er Ansprache brauchte, ihn allein gelassen, wenn sie gemerkt hatte, daß er das Alleinsein brauchte. Seine Genesung, sowohl körperlich als auch seelisch, war zum großen Teil ihrer Fürsorge zu danken.
»Man hat mir gesagt, du seist ausgegangen.« Sie warf rasch einen Blick zum Garten des Lebens. »Ich hatte keine Mühe, mir zu denken, wohin du gegangen warst. Da hab’ ich mir gedacht, daß ich dir nachgehen und auf dich warten könnte.« Mit einem fröhlichen Lächeln sah sie ihn an. »Nun, hast du jetzt alle Geister zur Ruhe gelegt?«
Wil sah die Sorge in ihren Augen. Sie verstand besser als jeder andere, was ihm durch den Verlust Amberles angetan worden war. Sie hatten in den Stunden, die sie bei ihm zugebracht hatte, unablässig darüber gesprochen. Geister hatte sie all die sinnlosen Schuldgefühle genannt, die ihn gequält hatten.
»Ja, ich glaube, sie ruhen jetzt«, antwortete er. »Es war gut, daß ich hierher gekommen bin. Mit der Zeit wird es vielleicht…«
Er zuckte lächelnd die Schultern.
»Amberle war der Überzeugung, daß man der Erde etwas schuldet für das Leben, das sie einem gegeben hat. Sie hat mir einmal erklärt, dieseÜberzeugung sei ein Teil ihres Elfenerbes. Und auch mein Erbe wollte sie, glaube ich, damit sagen. Weißt du, sie hat in mir immer mehr den Heiler als den Beschützer gesehen. Ein Heiler sollte ich sein. Denn der Heiler begleicht einen Teil seiner Schuld an die Erde dadurch, daß er jenen hilft, die sie hegen und pflegen. Das ist also meine Gabe an die Erde, Eretria.«
Sie nickte ernst. »Dann kehrst du nach Storlock zurück?«
»Erst heim, nach Shady Vale, dann nach Storlock.«
»Bald?«
»Ich denke schon. Ich denke, es ist Zeit.« Er räusperte sich befangen. »Weißt du, daß Allanon mir den Rappen — Artaq —hinterlassen hat? Als Geschenk. Zum Trost vielleicht.«
Sie wandte das Gesicht ab.
»Ja, vielleicht. Können wir jetzt zurückgehen?«
Ohne auf seine Antwort zu warten, setzte sie sich in Bewegung. Verwirrt zögerte er einen Moment, dann eilte er ihr nach. Stumm gingen sie nebeneinander her.
»Wirst du die Elfensteine behalten?« fragte sie nach einer Weile.
Er hatte einmal, in tiefster Niedergeschlagenheit, gesagt, er wolle sie nicht länger. Er wußte, daß der Elfenzauber seine Spuren in ihm hinterlassen hatte. So wie die Zauberkräfte Allanon gealtert hatten, so hatten sie auch auf ihn eingewirkt — wenn er auch noch nicht wußte, wie. Solche unerklärlichen Kräfte machten ihm immer noch Angst. Und doch lag die Verantwortung für diese Zauberkraft weiter bei ihm; er konnte sie nicht einfach weitergeben.
»Ich werde sie behalten«, antwortete er. »Aber ich werde sie nie wieder gebrauchen. Nie wieder.«
»Nein«, sagte sie leise. »Ein Heiler braucht ja auch solche Zaubersteine nicht.«
An der Mauer des Gartens entlang schritten sie den Pfad hinunter nach Arborlon. Wil spürte die Distanz, die zwischen ihnen lag. Es war eine Kluft, die immer größer wurde, aufgerissen durch ihre Gewißheit, daß er sie wieder einmal verlassen würde. Sie wollte mit ihm gehen. Doch sie würde ihn nicht bitten, sie mitzunehmen — nicht diesmal, nicht wieder. Das verbot ihr der Stolz. Er dachte darüber nach.
»Und wohin gehst du jetzt?« fragte er nach einer Zeit.
Sie zuckte lässig die Schultern.
»Ach, ich weiß noch nicht. Nach Callahorn vielleicht. Ich kann hingehen, wo ich will.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht besuche ich dich einmal. Mir scheint, du brauchst dringend jemanden, der sich um dich kümmert.«
Sie sagte es beinahe scherzhaft, aber die Absicht dahinter war nicht zu verkennen. Ich bin dir bestimmt, Wil Ohmsford, hatte sie in jener Nacht im Tirfing zu ihm gesagt. Und jetzt sagte sie es wieder. Er sah ihr in das dunkle Gesicht und dachte daran, was alles sie für ihn getan, für ihn riskiert hatte. Wenn er sie jetzt verließ, dann hatte sie niemanden. Sie hatte kein Zuhause, keine Familie, kein Volk. Vorher hatte er Gründe gehabt, ihre Bitte, sie mitzunehmen, abzuschlagen. Was hatte er jetzt noch für Gründe?
»Es war nur so eine Idee«, fügte sie hastig hinzu.
»Eine hübsche Idee«, erwiderte er leise. »Aber ich hab´ mir gedacht, du hättest vielleicht Lust gleich mitzukommen.«
Beinahe ehe er sich bewußt wurde, was er beschlossen hatte, waren die Worte ausgesprochen. Lange, lange schwiegen sie gemeinsam. Sie schritten den Pfad hinunter und sahen einander nicht an. Es war fast so, als sei nichts gesagt worden.
»Ja, vielleicht hätte ich Lust dazu«, bemerkte sie schließlich. »Wenn es dir ernst ist.«
»Es ist mir ernst.«
Da sah er ihr Lächeln — dieses wunderbare, strahlende Lächeln. Sie blieb stehen und blickte ihn zärtlich an.
»Es ist beruhigend festzustellen, Wil Ohmsford, daß du endlich zur Vernunft gekommen bist.«
Sie nahm seine Hand und hielt sie ganz fest.
Als Andor Elessedil gegen Mittag über den Carolan zur Stadt zurückritt, sah er den Talbewohner und das Mädchen aus dem Lager der Fahrensleute, die vom Garten des Lebens nach Arborlon hinunterschritten. Er zügelte sein Pferd und blickte den beiden nach, die noch nicht nach Hause zurückgekehrt waren. Er sah, wie sie stehenblieben, sah, wie Eretria Wils Hand faßte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Nun, dachte er, würde wohl auch Wil Ohmsford heimkehren. Aber nicht allein.