An eben diesem Nachmittag, als das Tageslicht fast schon ganz verblaßt war, und der Regen in feinen Dunst übergegangen war, ritt die Legionsfreitruppe in Arborlon ein. Die Leute der Stadt, die sie sahen, hielten mitten in ihrem Tun inne und flüsterten tuschelnd. Von den Höhen der Baumpfade bis hinunter zu den Waldwegen pflanzte sich das Stimmengemurmel fort. Die Soldaten der Freitruppe waren nicht zu verwechseln. Andor Elessedil befand sich noch mit seinem Vater und Allanon im Studierzimmer des Herrenhauses — merkwürdigerweise von Allanon festgehalten, der darauf bestand, daß er sich mit den Karten des Sarandanon und den vorgeschlagenen Abwehrplänen vertraut machte —, als Gael die Nachricht von dem Eintreffen der Truppen überbrachte. »Herr, eine Kavallerieeinheit der Grenzlegion aus Callahorn ist eingetroffen«, verkündete der junge Elf. »Unsere Patrouillen sichteten sie vor einer Stunde östlich der Stadt und geleiteten sie dann herein. Sie mußten in wenigen Minuten die Stadt erreichen.« »Die Grenzlegion!« Ein Lächeln unsagbarer Erleichterung breitete sich auf dem müden Antlitz des alten Königs aus. »Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Welche Einheit ist es, Gael? Wie viele sind ihrer?« »Das ist noch nicht bekannt, Herr. Ein Bote, den der Spähtrupp ausgesandt hatte, überbrachte die Neuigkeit, aber Einzelheiten wurden nicht mitgeteilt.«
»Ganz gleich!« Eventine war aufgesprungen und eilte an die Tür. »Jede Hilfe ist willkommen, ganz gleich —«
»Elfenkönig!« Allanons tiefe Stimme hielt Eventine Elessedil auf. »Wir haben hier eine wichtige Arbeit zu verrichten, die nicht unterbrochen werden sollte. Vielleicht kann Euer Sohn an Eurer Stelle gehen — sei es nur, um die Grenzlegionäre zu begrüßen.«
Überrascht starrte Andor den Druiden an, wandte sich dann fragend an seinen Vater. Der König zögerte. Als er den fragenden Blick in den Augen seines Sohnes sah, nickte er.
»Gut, Andor. Heiße den Befehlshaber der Legion in meinem Namen willkommen und sage ihm, daß ich ihn später am Abend persönlich begrüßen werde. Trage Sorge, daß der Truppe angemessenes Quartier zur Verfügung gestellt wird.«
Erfreut darüber, zur Abwechslung einmal mit einer Aufgabe von einiger Bedeutung betraut worden zu sein, eilte Andor in Begleitung einer Schar von Elfen-Jägern aus dem Herrenhaus. Seine Überraschung über den unerwarteten Vorschlag Allanons schlug rasch in neugierige Verwunderung um. Dies, so fiel ihm auf, war nicht das erste Mal, daß der Druide sich bemühte, ihn in den Gang der Ereignisse einzuschließen. Der Druide hatte auf seiner — Andors — Anwesenheit bestanden, als Eventine von Amberle und dem Blutfeuer berichtet hatte. Vor seinem Aufbruch nach Paranor hatte er Andor die Verantwortung für den Schutz des Königs übertragen. Und er hatte es verstanden, in Andor ein Gefühl der Verbundenheit zu wecken, das allein ihn im Hohen Rat veranlaßt hatte, sich für Amberle zu entscheiden, obwohl alle gegen sie zu sein schienen. Dieses gleiche Gefühl hatte Andor an diesem Nachmittag verspürt, als Allanon seinem Vater den Stab des Ellcrys übergeben hatte. Arion, dachte Andor, hätte bei diesen Anlässen zugegen sein müssen, nicht er. Wie kam es, daß Arion stets abwesend war?
Mit diesen Überlegungen beschäftigt, hatte er gerade das Tor zum Park des Herrensitzes hinter sich gelassen, als die ersten Marschformationen der Grenz-Kavallerie auf der Straße auftauchten, die nach Arborlon hineinführte. Andor machte halt und blickte dem sich nähernden Zug stirnrunzelnd entgegen. Diese Reiter kannte er. Lange graue, scharlachrot gesäumte Umhänge bauschten sich im Wind, und breitkrempige Hüte, mit einer scharlachroten Feder geziert, saßen schräg auf den Köpfen der Reiter. Lange Bogen und breite Schwerter waren an den Sätteln festgemacht, kurze Schwerter schräg über den Rücken der Reiter geschnallt. Jeder hielt eine Lanze, an deren Spitze ein kleiner Wimpel in den Farben Rot und Grau flatterte, und die Pferde trugen leichten Lederharnisch mit Metallspangen. Geleitet von den Elfen-Jägern, die ihrer auf Patrouille östlich der Stadt ansichtig geworden waren, ritten sie in Reih und Glied durch die vom Regen aufgeweichten Straßen Arborlons und blickten weder nach rechts noch nach links in die staunend gaffende Menge.
»Die Freitruppe«, murmelte Andor vor sich hin. »Sie haben uns die Freitruppe geschickt.«
Es gab kaum jemanden, der nicht schon einmal von der Freitruppe gehört hatte, der berühmtesten und umstrittensten Einheit, die der Grenzlegion von Callahorn angehörte. Ihr Name beruhte auf dem Versprechen, das jenen gegeben wurde, die sich dieser Einheit anschlossen — daß sie, ohne Fragen fürchten zu müssen, ohne Erklärungen abgeben zu müssen, alles hinter sich lassen konnten, was bis zu ihrem Eintritt in die Freitruppe Teil ihres Lebens gewesen war. Die meisten hatten viel zurückzulassen. Sie kamen aus verschiedenen Ländern, und jeder hatte eine andere Geschichte, doch die Gründe, weshalb sie kamen, waren einander ähnlich. Es waren Diebe unter ihnen, Mörder und Betrüger, Deserteure, Männer von niederer Geburt und von hoher, Männer von Ehre und Ehrlose, Männer, die auf der Suche waren, Männer, die auf der Flucht waren — alle jedoch hatten sie eines gemeinsam: Sie wollten dem entkommen, was sie waren, sie wollten vergessen, was sie gewesen waren, sie wollten von vorn anfangen. Bei der Freitruppe wurde ihnen diese Chance gegeben. Kein Soldat der Freitruppe wurde je nach seiner Vergangenheit gefragt; sein Leben begann an dem Tag, an dem er zu der Truppe stieß. Was vorher gewesen war, war abgeschlossen; nur die Gegenwart war von Bedeutung und das, was einer aus sich machte, solange er bei der Truppe diente.
Meist war diese Zeitspanne kurz. Die Freitruppe war die Stoßtruppe der Legion; als solche wurde sie als entbehrlich betrachtet. Ihre Soldaten ritten als erste in die Schlacht und starben als erste. Bei jeder Auseinandersetzung seit Gründung der Freitruppe vor etwa dreißig Jahren waren ihre Verlustzahlen stets am höchsten gewesen. Ihre Soldaten konnten zwar die Vergangenheit hinter sich lassen, handelten sich jedoch dafür eine höchst ungewisse Zukunft ein. Doch die meisten fanden, das sei ein fairer Tausch. Im Leben hatte schließlich alles seinen Preis, und dieser Preis war nicht zu hoch. Er war, im Gegenteil, den Soldaten, die ihn bezahlten, eine Quelle des Stolzes; er verlieh ihnen ein Gefühl von Bedeutung, eine Identität, die sie unter allen übrigen Soldaten der Vier Länder heraushob. Es gehörte zur Tradition der Freitruppe, daß ihre Soldaten den Tod in der Schlacht fanden. Die Männer der Freitruppe fürchteten das Sterben nicht; der Tod gehörte zu ihrem täglichen Leben, und sie betrachteten ihn wie einen alten Bekannten, mit dem sie mehr als einmal in Tuchfühlung gekommen waren. Nein, das Sterben war nicht wichtig; wichtig war nur, heldenhaft zu sterben.
Sie hatten ihren Mut und ihre Tapferkeit oft genug unter Beweis gestellt. Jetzt, so schien es, waren sie nach Arborlon gesandt worden, um sie von neuem zu beweisen.
Vor dem schmiedeeisernen Tor machte die Kompanie halt, und ein hochgewachsener Mann, der an der Spitze des Zuges ritt, schwang sich von seinem Pferd. Nachdem er die Zügel einem anderen Reiter übergeben hatte, schritt er dem Elfenprinzen entgegen. Vor ihm blieb er stehen und zog den breitkrempigen Hut.
»Ich bin Stee Jans«, sagte er, sich verneigend, »der Befehlshaber der Legionsfreitruppe.«
Aufs höchste erstaunt über die Erscheinung des Befehlshabers, antwortete Andor nicht gleich. Groß und mächtig wie ein Turm stand Stee Jans vor dem Elfenprinzen. Sein von Wind und Wetter gegerbtes, dennoch jugendliches Gesicht war von zahllosen Narben bedeckt. Rostrotes Haar fiel dem Befehlshaber in festgeflochtenen Zöpfen auf die Schultern. In einem Ohr blinzelte ein großer goldener Ring. Nußbraune Augen, so hart, daß sie wie aus Stein gemeißelt schienen, fixierten den Elfenprinzen.
Andor ertappte sich dabei, daß er diesen Mann entgeistert anstarrte, und faßte sich hastig.
»Ich bin Andor Elessedil — Eventine ist mein Vater.«
Er streckte dem anderen zum Gruß die Hand entgegen. Der Druck von Stee Jans’ schwieliger, knorriger Hand war eisenhart. Andor entzog ihm rasch die seine und blickte die lange Reihen grauer Reiter hindurch. Doch vergebens suchte er nach anderen Einheiten der Legion.
»Der König hat mich gebeten, Euch in seinem Namen willkommen zu heißen und Euch ein angemessenes Quartier zu beschaffen. Wann können wir die anderen Einheiten erwarten ? «
Ein dünnes Lächeln glitt über das narbige Gesicht des Befehlshabers.
»Es kommen keine anderen Einheiten, Herr. Nur die Soldaten der Freitruppe.«
»Nur die —« Andor brach verwirrt ab. »Und wie viele sind Euer, Befehlshaber?«
»Sechshundert.«
»Sechshundert!« Es gelang Andor nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. »Aber was ist mit der Grenzlegion? Wann wird die geschickt werden?«
Stee Jans schwieg einen Moment.
»Herr, ich denke, ich sollte unverblümt zu Euch reden. Es kann sein, daß die Legion überhaupt nicht geschickt wird. Der Rat der Städte hat noch keine Entscheidung getroffen. Wie den meisten Räten fällt es ihnen leichter, über Entscheidungen zu diskutieren, als welche zu fällen. Euer Gesandter hat überzeugend gesprochen, wie ich hörte, doch im Rat sitzen viele, die zur Vorsicht mahnen, und manche, die sich auf nichts einlassen wollen. Der König unterwirft sich den Beschlüssen des Rates; der Rat schielt immer mit einem Auge nach Süden. Die Föderation ist eine Gefahr, die der Rat real sehen kann; Euere Dämonen sind kaum mehr als ein Mythos.«
»Ein Mythos!« Andor war entsetzt.
»Ihr könnt von Glück sagen, daß man Euch wenigstens die Freitruppe zu Hilfe gesandt hat«, fuhr der hochgewachsene Mann unerschüttert fort. »Und nicht einmal die hätte man ausgeschickt, läge dem Rat nicht daran, sein Gewissen zu beruhigen. Den guten Willen wenigstens müsse man den Elfen zeigen, hieß es. Da war die Freitruppe gerade recht — wie immer, wenn jemand geopfert werden muß.«
Die Worte waren eine schlichte Feststellung, ohne Groll und ohne Bitterkeit vorgebracht. Die Augen des Befehlshabers blieben undurchdringlich und ausdruckslos. Andor errötete.
»Ich hatte nicht gedacht, daß die Männer von Callahorn so einfältig sind!« stieß er ärgerlich hervor.
Stee Jans musterte ihn abschätzend einen Augenblick lang.
»Soweit ich unterrichtet bin, baten die Grenzländer die Elfen um Unterstützung, als Callahorn von den Heeren des Dämonen-Lords angegriffen wurde. Doch Eventine wurde vom Dämonen-Lord gefangengenommen, und in seiner Abwesenheit war der Hohe Rat der Elfen unfähig zu handeln.« Er machte eine kurze Pause. »So ähnlich liegen die Dinge jetzt in Callahorn. Die Grenzgebiete haben Führer; diese haben seit Balinors Tod keinen Führer mehr.«
Andor musterte den anderen mit einem kritischen Blick, und sein Zorn verrauchte langsam.
»Ihr seid ein offener, freimütiger Mann, Befehlshaber.«
»Ich bin ein ehrlicher Mann, Herr. Das erlaubt mir, die Dinge klarer zu sehen.«
»Was Ihr mir da berichtet habt, wird einigen Leuten in Callahorn vielleicht nicht gefallen.«
Der Grenzländer zuckte die Schultern.
»Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich hier bin.«
Ein Lächeln breitete sich langsam auf Andors Gesicht aus. Stee Jans gefiel ihm — sowenig er im Augenblick über ihn wußte.
»Befehlshaber, ich wollte Euch nicht im Zorn empfangen. Mein Zorn hat nichts mit Euch zu tun. Bitte versteht das. Die Freitruppe ist hier höchst willkommen. Jetzt laßt mich für eine Unterkunft für Euch sorgen.«
Stee Jans schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht nötig; ich schlafe dort, wo meine Soldaten schlafen. Herr, wie ich höre, beabsichtigen die Elfen morgen in aller Frühe aufzubrechen.« Andor nickte. »Dann wird auch die Freitruppe aufbrechen. Wir brauchen nur die eine Nacht Rast.
Bitte richtet das dem König aus.«
»Ich werde es ihm sagen«, versprach Andor.
Der Befehlshaber der Freitruppe salutierte, dann machte er kehrt und schritt zu seinem Pferd zurück. Nachdem er sich wieder in den Sattel geschwungen hatte, nickte er den Reitern der Elfenpatrouille, die ihn und seine Leute begleiteten, kurz zu, und der lange graue Zug schwenkte wieder nach links, die schlammige Straße hinunter.
Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ungläubigkeit blickte Andor den Soldaten nach. Sechshundert Mann! Und die Dämonen werden zu Tausenden über das Elfenreich herfallen! Er fragte sich, was sechshundert Südländer da noch ausrichten konnten.