»Wil!«
Der Klang seines Namens hing wie ein irrendes Echo im schwarzen Nebel, der ihn einhüllte. Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, um durch die Dunkelheit herabzuschweben und in seinen Schlaf einzudringen. Träge regte er sich, hatte das Gefühl, als sei er gebunden und mit Gewichten beschwert. Mit einer Kraftanstrengung tauchte er aus sich selbst heraus.
»Wil, ist dir auch nichts passiert?«
Die Stimme gehörte Amberle. Er blinzelte in dem Bemühen zu erwachen.
»Wil?«
Sie barg seinen Kopf auf ihrem Schoß, und ihr Gesicht neigte sich über das seine. Das lange kastanienbraune Haar floß über ihn wie ein Schleier.
»Amberle?« fragte er schläfrig und setzte sich auf. Dann streckte er stumm die Arme nach ihr aus und drückte sie fest an sich.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, stieß er hervor.
»Und ich dachte, ich hätte dich verloren.« Sie lachte leise, während sie ihn umschlungen hielt. »Du hast stundenlang geschlafen, bist nicht ein einziges Mal erwacht, seit sie dich hier hereingebracht haben.«
Wil nickte, den Kopf an ihrer Schulter, und wurde plötzlich des betäubenden Duftes von Räucherwerk gewahr, der in der Luft hing. Sogleich wurde ihm klar, daß es dieser berauschende Duft war, der ihn so müde und ermattet machte. Sacht ließ er Amberle los und sah sich um.
Sie befanden sich in einer fensterlosen Zelle. An einer Kette hing von der Decke ein leuchtender Glaszylinder herab, wieder eines dieser Lichter, die ohne Öl oder Pech brannten und keinen Rauch absonderten. Die eine Wand der Zelle bestand ganz aus senkrechten alten Stangen, die im steinernen Boden und der Decke verankert waren. Die einzige Tür der Zelle befand sich in dieser eisernen Wand. Man hatte ihnen einen Krug mit Wasser, eine Eisenschüssel, Handtücher, Decken und drei Strohsäcke in die Zelle gebracht. Auf einer dieser Matratzen lag Eretria. Ihr Atem ging tief und regelmäßig. Jenseits der eisernen Gitterwand befand sich ein Gang, der zu einer Treppe führte und sich dann in Schwärze verlor.
Amberle folgte seinem Blick, der zu Eretria wanderte.
»Ich glaube, ihr ist nichts geschehen — sie schläft nur. Bis jetzt hab’ ich es nicht geschafft, einen von euch beiden zu wecken.«
»Mallenroh«, flüsterte er, als ihm alles wieder einfiel. »Hat sie dir etwas angetan?«
Amberle schüttelte den Kopf.
»Sie hat kaum ein Wort mit mir gesprochen. Anfangs wußte ich nicht einmal, wer mich da gefangengenommen hatte. Die Holzmännchen brachten mich hierher, und ich schlief eine ganze Weile. Dann kam sie zu mir. Sie erzählte mir, daß andere nach mir suchten, daß sie zu ihr gebracht werden würden, genau wie ich zu ihr gebracht worden war. Danach ging sie.« Die meergrünen Augen suchten die seinen. »Sie macht mir Angst, Wil — sie ist schön, aber so kalt.«
»Sie ist ein Ungeheuer. Wie hat sie dich denn überhaupt gefunden?«
Amberle wurde bleich bei der Erinnerung.
»Irgend etwas bedrohte mich, und da bin ich in die Senke hinuntergelaufen. Ich habe es nicht gesehen, aber ich spürte es —es war etwas Böses, das nach mir suchte.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich lief und lief, solange ich konnte, und dann kroch ich. Am Ende bin ich zusammengebrochen. Die Holzmännchen müssen mich gefunden und zu ihr gebracht haben. Wil, war es Mallenroh, die ich spürte?«
Wil schüttelte den Kopf.
»Nein. Es war der Raffer.«
Ratlos starrte sie Wil einen Moment lang an, dann blickte sie zur Seite.
»Und jetzt ist er hier in der Senke, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Wil. »Die Hexe weiß von ihm. Sie sucht ihn.« Er lächelte grimmig. »Vielleicht werden sie einander gegenseitig vernichten.«
Sie erwiderte das Lächeln nicht.
»Wie hast du mich gefunden?«
Er erzählte ihr alles, was geschehen war, seit er sie oben am Rand der Senke zurückgelassen hatte — er berichtete von dem Zusammentreffen mit Eretria, vom Tod Cephelos und der anderen Fahrensleute, vom Wiederauffinden der Elfensteine, der Flucht zurück durch den Wildewald, der Begegnung mit Hebel und Drifter, der Wanderung in die Senke, der Entdeckung der Holzmännchen und der Begegnung mit Mallenroh. Am Ende erzählte er noch, was die Hexe mit Hebel angestellt hatte.
»Der arme alte Mann«, flüsterte sie, und in ihren Augen standen Tränen. »Er wollte ihr doch nichts Böses. Warum hat sie ihm das angetan?«
»Wir alle sind ihr völlig gleichgültig«, erwiderte Wil. »Sie ist nur an den Elfensteinen interessiert. Sie will sie unbedingt haben, Amberle. Hebel sollte uns anderen nur ein Beispiel sein — besonders mir.«
»Aber du wirst sie ihr doch nicht geben, nicht wahr?«
Er sah sie unsicher an.
»Wenn ich dadurch unser Leben retten kann, dann gebe ich sie ihr. Wir müssen hier fort.«
Das Elfenmädchen schüttelte langsam den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß sie uns fortlassen wird, Wil — auch nicht wenn du ihr das gibst, was sie haben will. Nachdem, was du mir von Hebel erzählt hast, glaube ich nicht mehr daran.«
Er schwieg bedrückt einen Moment.
»Ich weiß. Aber vielleicht können wir mit ihr feilschen. Sie würde bestimmt alles tun, um in den Besitz der Steine zu kommen …« Plötzlich brach er ab und lauschte. »Pscht, da kommt jemand.«
Stumm spähten sie durch das Eisengitter vor der Zelle in die Finsternis des Korridors hinaus. Von der Treppe her kam ein leichtes Scharren. Dann tauchte eine Gestalt im Lichtschein auf. Es war Wisp.
»Etwas zu essen«, verkündete er strahlend und hielt ihnen eine Platte mit Brot und Früchten hin. Eilig trippelte er zu ihrer Zelle und schob diePlatte durch eine schmale Öffnung am unteren Ende der Gittertür.
»Gutes Essen«, sagte er und wandte sich schnell ab, um wieder zu gehen.
»Wisp!« rief Wil ihm nach. Der kleine Irrwisch drehte sich um und sah den Talbewohner fragend an. »Kannst du nicht ein bißchen bleiben und mit uns sprechen?« fragte Wil.
Das alte Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Ja, Wisp spricht gern mit euch.«
Wil warf einen Blick auf Amberle.
»Was macht dein Knöchel — kannst du laufen?«
Sie nickte. »Es ist viel besser«, antwortete sie.
Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu der Platte mit dem Essen. Schweigend setzten sie sich nieder. Wisp hockte sich auf die unterste Stufe der Treppe und neigte seinen Kopf zur Seite. Wil nahm sich ein Stück Brot, kaute und nickte beifällig.
»Sehr gut, Wisp.«
Der kleine Bursche grinste. »Sehr gut.«
Wil lächelte. »Wie lange bist du schon hier, Wisp?«
»Lange. Wisp dient der Dame.«
»Hat die Dame dich gemacht — wie sie die Holzmänner gemacht hat?«
Der kleine Irrwisch lachte.
»Holzmänner — klick, klack. Wisp dient der Dame — aber nicht aus Holz gemacht.« Seine Augen leuchteten auf. »Elf wie du.«
Wil war erstaunt. »Aber du bist so klein. Und weshalb bist du so behaart?« Er deutete erst auf seine eigenen Arme und Beine, dann auf die von Wisp. »Hat sie das gemacht?«
Der kleine Elf nickte glücklich.
»Niedlich, hat sie gesagt. Da sieht Wisp niedlich aus. Da kann er mit den Stockmännern herumtollen und spielen. Niedlich.« Er hielt inne und spähte an ihnen vorbei zu Eretria, die immer noch schlief. »Hübsches Ding.« Er wies mit dem Finger zu ihr hin. »Die Hübscheste von allen.«
»Was weißt du über Morag?« fragte Wil, ohne auf Wisps offenkundiges Interesse an Eretria einzugehen.
Wisps altes Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse.
»Bös ist Morag. Sehr bös. Eine lange Zeit lebt sie schon in der Senke, alle beide, sie und die Dame. Sie sind Schwestern. Morag im Osten, die Dame im Westen. Beide haben Holzmännchen, aber nur die Dame hat Wisp.«
»Verlassen sie jemals die Senke — Morag und die Dame?«
Wisp schüttelte den Kopf. »Nie.«
»Warum nicht?«
»Außerhalb der Senke keine Zauberkraft.« Wisp grinste verschlagen.
Das verriet Wil etwas, was er nicht vermutet hatte. Die Macht der Hexenschwestern hatte ihre Grenzen; sie reichte über die Senke nicht hinaus. Das erklärte, warum niemals jemand ihnen irgendwo im Westland begegnet war. Er schöpfte neue Hoffnung. Wenn er ein Mittel finden konnte, um aus der Senke herauszukommen …
»Warum haßt die Dame Morag so sehr?« fragte Amberle.
Wisp überlegte. »Vor langer, langer Zeit war da einmal ein Mann. Schön war er, hat die Dame gesagt. Die Dame wollte ihn für sich haben. Morag wollte ihn für sich haben. Jede wollte den Mann haben. Der Mann —« Er verklammerte die Finger seiner beiden kleinen Hände ineinander und riß sie dann mit Gewalt auseinander. »Fort war er. Tot.« Er schüttelte den Kopf. »Morag tötete den Mann. Böse Morag.«
Böse Mallenroh, dachte Wil. Damit war jedenfalls klar, wie die Hexenschwestern zueinander standen. Er beschloß herauszufinden, was Wisp sonst noch über die Senke wußte.
»Gehst du jemals aus dem Turm heraus, Wisp?« fragte er.
Das alte Gesicht verzog sich wiederum zu einem Grinsen. Es war ein Grinsen des Stolzes.
»Wisp dient der Dame.«
Wil faßte das als eine bejahende Antwort auf.
»Warst du schon mal bei der Hoch warte?« fragte er.
»Sichermal«, antwortete Wisp sogleich.
Darauf folgte ein plötzliches Schweigen. Amberle faßte Wil am Arm und warf ihm einen raschen Blick zu. Wil war so verblüfft über diese Erwiderung, daß er einen Moment lang sprachlos war. Als er sich wieder gefaßt hatte, beugte er sich vor und winkte mit gekrümmtem Finger. Wisp rückte ein bißchen näher.
»Lange, lange Tunnel, die sich durch den Berg schlängeln«, sagte Wil. »In diesen Tunneln kann man sich leicht verirren, Wisp.«
Der behaarte kleine Elf schüttelte den Kopf.
»Wisp nicht.«
»Nein?« meinte Wil ein wenig herausfordernd. »Und was ist mit der Tür aus Glas, das nicht bricht?«
Wisp dachte einen Augenblick nach, dann klatschte er aufgeregt in die Hände.
»Nein, nein, sieht nur aus wie Glas. Wisp kennt das falsche Glas. Wisp dient der Dame.«
Wil versuchte noch, diese Antwort zu entschlüsseln, als Wisp in den Hintergrund der Zelle deutete.
»Schau, das hübsche Ding, hallo, hallo!«
Wil und Amberle drehten sich herum. Eretria hatte sich auf ihrem Strohsack aufgesetzt. Endlich war sie wach. Das schwarze Haar fiel ihr in schweren Locken ins Gesicht, als sie sich mit beiden Händen den Nacken rieb. Langsam blickte sie auf, wollte etwas sagen, sah dann, wie Wil warnend die Finger auf seine Lippen drückte. Sie blickte an ihm vorbei zu Wisp, der mit einem strahlenden Grinsen auf der anderen Seite des Eisengitters kauerte.
»Hübsches Ding, hallo!« wiederholte Wisp und hob winkend die Hand.
»Hallo«, erwiderte sie unsicher. Als sie sah, daß Wil beifällig nickte, setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf. »Hallo, Wisp.«
»Ich will mit dir sprechen, du hübsches Ding.«
Wil und Amberle hatte Wisp völlig vergessen. Eretria stand ein wenig schwankend auf, rieb sich die Augen und gesellte sich zu ihren beiden Freunden. Flink wanderte ihr forschender Blick zur Treppe und dem Flur dahinter.
»Was spielen wir denn jetzt, Heiler?« flüsterte sie aus dem Mundwinkel. Furcht stand in ihren dunklen Augen, doch ihre Stimme zitterte nicht.
Wil wandte den Blick nicht von Wisp.
»Wir versuchen, ihn ein bißchen auszuhorchen, damit wir hier irgendwie wieder rauskommen.«
Sie nickte, dann rümpfte sie plötzlich die Nase.
»Was ist denn das für ein Geruch?«
»Räucherwerk. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich glaube, der Rauch wirkt wie ein Schlaftrunk, wenn man ihn einatmet. Ich glaube, deshalb fühlen wir uns alle so schwach.«
Eretria wandte sich wieder Wisp zu.
»Wozu ist das Räucherwerk gut, Wisp?«
Der behaarte kleine Elf dachte nach, dann zuckte er die Schultern.
»Schöner Geruch. Keine Sorgen.«
»In der Tat«, murmelte Eretria mit einem Blick auf Wil. Dann sah sie Wisp wieder mit strahlendem Lächeln an. »Kannst du die Tür aufmachen, Wisp ?« fragte sie und wies auf die Gitterstangen.
Wisp erwiderte das Lächeln.
»Wisp dient der Dame, hübsches Ding. Ihr müßt bleiben.«
Eretria lächelte wieder. »Ist die Dame jetzt hier, im Turm?«
»Sie sucht den Dämon«, antwortete Wisp. »Sehr schlimm. Hat alle ihre Holzmännchen kaputtgemacht.« Er schnitt eine Grimasse. »Sie wird dem Dämon sehr weh tun.« Er rieb zwei Finger aneinander. »Sie wird machen, daß er verschwindet.« Dann hellten sich seine Züge auf. »Wisp könnte dir kleine Holzfiguren zeigen. Wie den kleinen Mann mit dem Hund. In der Schachtel, hübsche Dinger, so wie du.«
Er wies auf Eretria, die blaß wurde und hastig den Kopf schüttelte. »Ach nein, Wisp, besser nicht. Schwatz lieber ein bißchen mit mir.«
Wisp nickte freundlich. »Wir schwatzen nur.«
Während Wil dem Gespräch lauschte, kam ihm plötzlich ein Einfall. Er beugte sich vor und umfaßte die Eisenstangen der Zellenwand mit beiden Händen.
»Wisp, was hat die Dame mit den Elfensteinen gemacht?«
Wisp sah ihn an.
»In der Schachtel sind sie, gut aufgehoben in der Schachtel.«
»In was für einer Schachtel, Wisp? Wo hebt die Dame die Schachtel auf?«
Wisp wies uninteressiert zum dunklen Korridor, während er unverwandt Eretria anstarrte.
»Schwatz mit mir, hübsches Ding«, bat er.
Wil sah Amberle an und zuckte die Schultern. Sehr erfolgreich war er nicht in seinen Bemühungen, Wisp auszuhorchen. Der kleine Bursche interessierte sich ausschließlich für Eretria.
Das Mädchen kreuzte die Beine und wippte ein wenig hin und her.
»Würdest du mir die hübschen Steine zeigen, Wisp? Könnte ich sie sehen?«
Wisp sah sich verstohlen um.
»Wisp dient der Dame. Wisp ist treu.« Er schwieg und überlegte. »Wisp kann dir die Holzfiguren zeigen, hübsches Ding.«
Eretria schüttelte den Kopf.
»Nein, Wisp, schwatzen wir lieber. Warum mußt du hier in der Senke bleiben? Warum gehst du nie von hier fort?«
»Wisp dient der Dame.« Wisp wiederholte eifrig diese, seine Lieblingsantwort, und sein Gesicht wurde unruhig. »Geht niemals aus der Senke fort. Kann nicht fortgehen.«
Irgendwo hoch oben im Turm ertönte ein Glockenschlag, dann war es wieder still. Hastig sprang Wisp auf.
»Die Dame ruft«, erklärte er Wil, den Blick schon zur Treppe gerichtet.
»Wisp!« rief Wil ihm nach. Der kleine Bursche blieb stehen. »Wird die Dame uns fortgehen lassen, wenn ich ihr die Elfensteine gebe?«
Wisp schien nicht zu verstehen. »Fortgehen?«
»Fort, aus der Senke heraus?« erläuterte Wil.
Wisp schüttelte den Kopf. »Keiner geht fort. Niemals. Holzfiguren.« Er winkte Eretria zu. »Das hübsche Ding ist für Wisp. Paß gut auf das hübsche Ding auf. Dann schwatzen wir noch ein bißchen. Später.«
Er machte kehrt und sprang die Treppe hinauf. Die Gefangenen blickten ihm nach, bis die Finsternis ihn verschluckte. Die Glocke hoch im Turm schlug ein zweites Mal.
Wil sprach als erster.
»Wisp könnte sich täuschen. Mallenroh will die Elfensteine unbedingt haben. Ich glaube, sie würde uns fortlassen, wenn ich bereit wäre, sie ihr zu geben.«
Dicht zusammengedrängt kauerten sie vor der Tür ihrer Zelle und spähten voller Unbehagen in die Finsternis des Korridors auf der anderen Seite.
»Nein, Wisp täuscht sich nicht.« Amberle schüttelte bedächtig den Kopf. »Hebel hat uns doch erzählt, daß niemand sich in die Senke hineinwagt. Er hat gesagt, daß noch nie jemand wieder zurückgekommen ist.«
»Das Elfenmädchen hat recht«, stimmte Eretria zu. »Niemals wird diese Hexe uns fortlassen. Sie wird uns alle in Holzfiguren verwandeln.«
»Nun, dann müssen wir uns einen anderen Plan einfallen lassen.«
Wil umfaßte die Eisenstangen der Zelle, um ihre Stärke zu prüfen. Eretria stand auf und blickte vorsichtig zur düsteren Treppe hin.
»Ich habe einen anderen Plan, Heiler«, sagte sie leise.
Sie griff in ihren rechten Stiefel, teilte die Lederfalten an der Innenseite und zog eine dünne Metallstange mit einem merkwürdig geformten Haken am Ende heraus. Dann griff sie in den linken Stiefel und nahm den Dolch heraus, den Wil schon vorher gesehen hatte, als Hebel sie am Rand zur Senke überrascht hatte. Mit einem triumphierenden Lächeln hielt sie den Dolch hoch und ließ ihn dann wieder in den Stiefel gleiten.
»Wie konnte Mallenroh den denn übersehen?« fragte Wil erstaunt.
Das Mädchen zuckte die Schultern.
»Sie hat sich gar nicht die Mühe gemacht, ihren Holzmännern zu befehlen, mich zu durchsuchen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, uns fühlen zu lassen, wie ohnmächtig wir sind.«
Sie trat zur Zellentür und prüfte aufmerksam das Schloß.
»Was machst du da?« Wil trat zu ihr.
»Ich sorge dafür, daß wir hier rauskommen«, erklärte sie, während sie angestrengt ins Schlüsselloch starrte. Dann blickte sie zu ihm auf und hob den kleinen Metallschaft hoch. »Ein Dietrich. Es gibt bei den Fahrensleuten weder Mann noch Frau ohne ein solches Ding. Weil allzu viele schlecht beratene Bürger immer wieder versuchen, uns einzusperren. Sie trauen uns wahrscheinlich nicht.«
Sie zwinkerte Amberle zu; die runzelte die Stirn.
»Manche von diesen Leuten haben wahrscheinlich guten Grund, euch nicht zu trauen«, meinte sie.
»Wahrscheinlich.« Eretria blies Staub von dem Schloß, »jeder von uns schwindelt ab und zu mal — nicht wahr, Schwester Amberle?«
»Augenblick mal.« Wil kniete neben ihr nieder, ohne das Gespräch zu beachten. »Angenommen, du bringst das Schloß auf, Eretria, was tun wir dann?«
Sie sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Sinnen.
»Wir fliehen, Heiler — so schnell und so weit es geht.«
Wil schüttelte den Kopf.
»Das geht nicht. Wir müssen bleiben.«
»Wir müssen bleiben?« wiederholte sie ungläubig.
»Eine Zeitlang zumindest.« Wil warf einen flüchtigen Blick auf Amberle, dann faßte er seinen Entschluß. »Eretria, ich glaube, jetzt ist der Moment gekommen, daß wir den Schwindel, von dem du eben gesprochen hast, mal aus der Welt schaffen sollten. Hör mir jetzt gut zu.«
Er winkte Amberle, sich zu ihnen zu gesellen, und dann klärte er Eretria in aller Eile darüber auf, wer Amberle war, wer er selbst war, was sie in den Wildewald geführt hatte und was sie in Wirklichkeit suchten. Er ließ nichts aus in seinem Bericht, denn es war jetzt notwendig, daß Eretria die lebenswichtige Bedeutung ihrer Suche nach dem Blutfeuer begriff. Sie befanden sich in diesem Turm in großer Gefahr, doch selbst wenn es ihnen gelingen sollte, sich zu befreien, wurde die Gefahr nicht geringer werden, die sie bedrohte. Wenn ihm selbst irgend etwas zustoßen sollte, sagte er, dann sollte Eretria alles tun, was in ihrer Macht stand, um Amberle bei der Flucht aus der Senke zu helfen.
Als er geendet hatte, starrte Eretria ihn sprachlos an. Dann wandte sie sich Amberle zu.
»Ist das alles wahr, Elfenmädchen? Ich glaube, dir traue ich eher.«
Amberle nickte. »Es ist alles wahr.«
»Und ihr seid entschlossen, hier zu bleiben, bis ihr dieses Blutfeuer gefunden habt?«
Amberle nickte wieder.
Eretria schüttelte voller Zweifel den Kopf.
»Kann ich das Samenkorn mal sehen, das du bei dir hast?«
Unter ihrem Kittel zog Amberle das Samenkorn des Ellcrys hervor, das sorgfältig in weißes Leinen eingeschlagen war. Sie packte es aus und hielt es der staunenden Eretria hin. Silberweiß und vollkommen geformt lag es auf ihren Händen. Die Zweifel in Eretrias Augen erloschen, und sie wandte sich wieder Wil zu.
»Wo du hingehst, da gehe auch ich hin, Wil Ohmsford. Wenn du sagst, daß wir bleiben müssen, dann ist die Sache erledigt. Aber aus dieser Zelle hier müssen wir trotzdem raus.«
»Also gut«, stimmte Wil zu. »Dann suchen wir Wisp.«
»Wisp?«
»Wir brauchen ihn. Er weiß, wo Mallenroh die Elfensteine versteckt hat, und er kennt Sichermal, er kennt sich aus in seinen unterirdischen Gängen und weiß um all seine Geheimnisse. Er kennt die Senke. Wenn wir Wisp als Führer haben, dann könnte es uns gelingen, unsere Mission zu erfüllen und lebend von hier zu entkommen.«
Eretria nickte.
»Aber erst einmal müssen wir von hier entkommen. Ich brauche bestimmt eine ganze Weile, um dahinterzukommen, wie das Schloß da funktioniert. Seid so leise wie möglich. Beobachtet die Treppe.«
Vorsichtig schob sie das Metallrohr mit dem Haken in das Schlüsselloch und begann, es behutsam hin und her zu drehen.
Wil und Amberle rückten zur anderen Seite des Gitters hinüber, von wo aus sie den dunklen Korridor besser beobachten konnten, der vom Turm aus die Treppe herunterführte. Die Minuten verrannen, und noch immer war es Eretria nicht gelungen, die Zellentür zu öffnen. Schwaches Kratzen und Knirschen war in der tiefen Stille zu hören, während der Dietrich im Schloß hin und her bewegt wurde. Eretria schimpfte leise vor sich hin, als ihre Versuche, das Schloß zu öffnen, immer wieder fehlschlugen. Amberle kauerte sich neben Wil, ihre Hand locker auf seinem Knie.
»Und was tun wir, wenn sie es nicht schafft?« flüsterte sie nach einer Weile.
Wil hielt die Augen auf den Korridor gerichtet.
»Sie schafft es schon.«
Amberle zweifelte. »Aber wenn sie es nicht schafft — was dann?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du solltest Mallenroh die Elfensteine nicht geben«, erklärte Amberle leise.
»Das haben wir doch schon besprochen. Ich muß dich hier herausbringen.«
»Wenn sie die Steine erst hat, dann wird sie uns vernichten.«
»Nein, nicht, wenn ich es richtig anpacke.«
»Jetzt hör mir doch mal zu!« Ihre Stimme war zornig. »Mallenroh hat keine Achtung vor menschlichem Leben. In ihren Augen sind die Menschen nutzlose Wesen, soweit sie ihr nicht dienen. Hebel begriff das nicht, als er ihr damals vor langer Zeit am Rand der Senke das erste Mal begegnete. Er sah nur ihre Schönheit und die magischen Kräfte, mit denen sie sich umgab, die Träume, die sie mit ihren Worten spann, den Eindruck, den sie hinterließ — nur Blendwerk. Er sah nicht das Böse, das darunter lag — oder er sah es jedenfalls erst viel zu spät.«
»Aber ich bin nicht Hebel.«
Sie holte tief Atem.
»Nein. Aber es beruhigt mich, daß deine Sorge um mich und um die Mission, die ich zu erfüllen habe, jetzt dein Urteil beeinflußt. Du besitzt eine solche Entschlossenheit, Wil. Du meinst, daß du jedes Hindernis überwinden kannst, ganz gleich wie mächtig es ist. Ich neide dir deine Entschlossenheit — mir fehlt sie vollkommen.«
Sie nahm seine Hände in die ihren.
»Ich will dir nur begreiflich machen, daß ich auf dich angewiesen bin. Du kannst es nennen, wie du willst — ich brauche deine Kraft und deine Stärke, deine Überzeugung, deine Entschlossenheit. Aber weder dies noch deine Gefühle für mich dürfen dein Urteil beeinflussen. Sonst sind wir beide verloren.«
»Entschlossenheit ist so ziemlich die einzige Waffe, über die ich noch verfüge«, erwiderte er leise und sah ihr in die Augen. »Im übrigen finde ich gar nicht, daß es dir an Entschlossenheit mangelt.«
»Doch, Wil. Allanon wußte das, als er dich auswählte, um mich zu beschützen. Ich glaube, er wußte, wie wichtig deine Entschlossenheit für unser Überleben werden würde. Und ohne sie, Wil, wären wir längst tot.« Sie hielt einen Moment inne, und als sie weitersprach, war ihre Stimme sehr leise. »Du irrst dich, wenn du sagst, daß es mir nicht an Entschlossenheit fehlt. Ich habe sie nie in ausreichendem Maße besessen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du kennst mich nicht so gut, wie du glaubst, Wil.«
Er musterte forschend ihr Gesicht.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, daß es gewisse Dinge gibt…« Sie brach ab. »Ich meine, daß ich nicht so stark bin, wie ich gern sein würde — nicht so mutig, nicht einmal so zuverlässig wie du. Weißt du noch, Wil, als wir in Havenstead aufbrachen? Damals hast du nicht sonderlich viel von mir gehalten. Und ich habe auch nicht viel von dir gehalten.«
»Amberle, du hattest Angst. Das ist doch nicht —«
»O ja, da hast du recht, ich hatte große Angst«, unterbrach sie ihn rasch. »Ich habe immer noch Angst. Und gerade die Tatsache, daß ich Angst habe, ist die Ursache für alles, was geschehen ist.«
An der Zellentür brummte Eretria zornig vor sich hin, lehnte sich zurück und begutachtete aus zusammengekniffenen Augen das widerspenstige Schloß. Einmal sah sie kurz zu Wil hinüber, dann machte sie sich wieder an die Arbeit.
»Du willst mir doch etwas ganz Bestimmtes sagen, Amberle. Was ist es?« fragte Wil leise.
Amberle schüttelte langsam den Kopf.
»Ich bemühe mich, den Mut aufzubringen, dir das eine zu sagen, das ich dir bis jetzt einfach nicht sagen konnte.« Sie starrte in die öde Düsternis der Zelle. »Ich vermute, es drängt mich gerade jetzt, es dir zu sagen, weil ich nicht weiß, ob sich noch eine andere Gelegenheit überhaupt bieten wird.«
»Dann sag es mir doch«, ermunterte er sie.
Sie hob das kindliche Gesicht zu ihm auf.
»Ich habe Arborlon verlassen und meine Pflichten als Erwählte im Dienste des Ellcrys im Stich gelassen, weil ich mit der Zeit eine solche Angst vor dem Ellcrys bekam, daß ich es nicht mehr ertragen konnte, auch nur in seiner Nähe zu sein. Das klingt töricht, ich weiß, aber hör mich bitte bis zum Ende an. Ich habe dies nie jemandem erzählt. Ich glaube, meine Mutter hat es gemerkt und verstanden, aber sonst niemand. Ich kann das auch den anderen nicht zum Vorwurf machen. Ich hätte mich ja vielleicht erklären können, aber ich zog es vor, das nicht zu tun. Ich war einfach der Meinung, ich könnte mit niemandem darüber sprechen.«
Sie machte eine kurze Pause.
»Ich hatte einen schweren Stand, nachdem ich von dem Ellcrys erwählt worden war. Ich wußte natürlich um die Einzigartigkeit meiner Erwählung. Ich wußte, daß ich seit fünfhundert Jahren die erste Frau war, die der Baum erkoren hatte, die erste Frau seit den Tagen des Zweiten Krieges der Rassen. Ich nahm meine Erwählung einfach an, obwohl es viele gab, die sie in Frage stellten. Ganz offen. Doch ich war die Enkelin von Eventine Elessedil; so sonderbar fand ich es gar nicht, daß ich erwählt worden war. Und meine Familie — ganz besonders mein Großvater — war so stolz.
Aber ich entdeckte bald, daß meine Erwählung nicht nur im Hinblick darauf, daß ich eine Frau war, etwas Besonderes war. Vom ersten Tag meines Dienstes an nahm ich eine Ausnahmestellung unter meinen Miterwählten ein. Der Ellcrys, das war wohlbekannt, pflegte nur sehr selten zu jemandem zu sprechen. Es war praktisch noch nie vorgekommen, außer unter ganz besonderen Umständen natürlich, daß er nach dem Zeitpunkt ihrer Berufung mit den Erwählten gesprochen hatte. Mit mir aber sprach er vom ersten Tag an — nicht einmal oder zweimal, sondern jeden Tag; nicht flüchtig, nicht obenhin, sondern ausführlich und mit Absicht. Immer war ich allein; die anderen waren nie dabei. Er pflegte mir zu sagen, wann ich kommen sollte, und ich folgte dem Befehl natürlich. Ich fühlte mich tief geehrt; ich nahm eine Sonderstellung ein, ich lag ihm mehr am Herzen als jeder andere zuvor, und das machte mich sehr stolz.«
Sie schüttelte den Kopf bei der Erinnerung.
»Anfangs war es wunderbar. Der Ellcrys erzählte mir Dinge, die sonst niemand wußte, Geheimnisse über die Erde und das Leben auf ihr, die bei den Rassen seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten waren. Er erzählte mir von den Großen Kriegen, von den Rassenkriegen, von der Geburt der Vier Länder und ihrer Einwohner, von allem, was seit Beginn der neuen Welt sich ereignet hatte. Er schilderte mir, wie die alte Welt gewesen war, obwohl sein Gedächtnis manchmal versagte, wenn er allzuweit zurückgriff. Manches von dem, was er mir berichtete, verstand ich nicht. Aber ich verstand vieles. Ich begriff, was er mir über das Wachstum lebendiger Wesen sagte, über die Pflege von Pflanzen und Tieren. Das war sein Geschenk an mich, die Fähigkeit, die Dinge zum Wachsen zu bringen. Es war ein wunderschönes Geschenk. Und die Gespräche waren zauberisch — allein die Möglichkeit, von all diesen wundersamen Dingen zu hören.
So war es am Anfang. Da hatte ich meinen Dienst gerade erst aufgenommen, und die Gespräche waren so neu und aufregend, daß ich das, was geschah, fraglos hinnahm. Bald aber entwickelte sich etwas sehr Unangenehmes. Das wird sich vielleicht merkwürdig anhören, Wil, aber ich fing an, mich in den Baum zu verlieren. Ich verlor allmählich alles Gefühl dafür, wer ich war. Ich war nicht mehr ich; ich war ein Teil des Ellcrys. Ich weiß bis heute nicht, ob das von ihm gewollt war, oder ob es nur das natürliche Ergebnis unserer nahen Beziehung war. Damals hielt ich es für gewollt. Ich bekam Angst vor dem, was mir da geschah — und dann wurde ich sehr zornig. Wurde von mir als Erwählte erwartet, auf meine eigene Persönlichkeit, meine eigene Identität zu verzichten, um die Bedürfnisse des Baumes befriedigen zu können? Ich hatte den Eindruck, daß der Ellcrys mit mir spielte; daß er mich benutzte. Aber ich täuschte mich.
Die anderen Erwählten begannen die Veränderung an mir zu sehen. Allmählich kam ihnen, glaube ich, der Verdacht, daß an meiner Beziehung zu dem Ellcrys etwas anders und besonders war. Ich spürte, wie sie mich mieden; ich spürte, wie sie mich beobachteten. Und die ganze Zeit verlor ich mich immer mehr an den Ellcrys — jeden Tag war wieder ein Stück von mir entschwunden. Ich war entschlossen, dem ein Ende zu machen. Ich fing an, den Baum zu meiden, wie die anderen Erwählten mich mieden.
Ich weigerte mich, zu ihm zu gehen, wenn er darum bat; ich sandte einen anderen an meiner Statt. Als er mich fragte, was nicht in Ordnung sei, erklärte ich es ihm nicht. Ich hatte Angst vor ihm; ich schämte mich; ich war voller Zorn auf die ganze Situation.«
Ihr Mund wurde schmal und bitter.
»Schließlich kam ich zu dem Schluß, das wahre Problem läge darin, daß ich nicht dafür geschaffen war, eine Erwählte zu sein. Ich schien mir nicht in der Lage, mit der Verantwortung fertigzuwerden oder zu begreifen, was von mir erwartet wurde. Der Ellcrys hatte für mich etwas getan, was er für keinen anderen Erwählten getan hatte — etwas Wunderbares, Herrliches — ich konnte es nicht annehmen. Ich fand es unrecht, wie ich reagierte; ich war der Meinung, daß keiner der anderen so reagiert hätte. Und ich kam zu dem Schluß, daß meine Berufung zur Erwählten ein Irrtum gewesen war.
Da ging ich, Wil, kaum einen Monat nach meiner Erwählung. Ich sagte meiner Mutter und meinem Großvater, daß ich fortgehen würde, daß ich dem Ellcrys nicht länger dienen könne. Ich sagte ihnen nicht, warum. Das brachte ich nicht über mich. Als Erwählte zu versagen, war schlimm genug. Aber zu versagen, weil der Baum Forderungen an mich stellte, die jeder andere mit Freuden erfüllt hätte — nein. Vor mir selber konnte ich zugeben, was zwischen dem Ellcrys und mir geschehen war, aber keinem anderen konnte ich es bekennen. Meine Mutter schien zu verstehen. Mein Großvater nicht. Es gab harte Worte zwischen uns, die Bitterkeit in uns beiden zurückließ. Mit Schimpf und Schande beladen in meinen eigenen Augen und in den Augen der anderen ging ich aus Arborlon fort, fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren. Ich leistete den Elfeneid zum Dienst in fremdem Land; ich wollte mich in einem der anderen Länder niederlassen und die Leute dort das lehren, was ich über die Pflege und Erhaltung der Erde und des Lebens wußte. Ich wanderte, bis ich Havenstead fand. Das Dorf wurde mein Zuhause.«
Tränen schimmerten jetzt in ihren Augen.
»Aber ich habe mich getäuscht. Das kann ich jetzt sagen — ich muß es jetzt sagen. Ich bin vor einer Verantwortung davongelaufen, die mir bestimmt war. Ich bin vor meinen Ängsten davongelaufen. Ich enttäuschte alle, und letzten Endes ließ ich meine Miterwählten zurück, ohne mich zu sterben.«
»Du beurteilst dich zu hart«, widersprach Wil.
»Meinst du?« Sie verzog den Mund. »Ich fürchte, ich beurteile mich selbst nicht hart genug. Wäre ich in Arborlon geblieben, dann hätte der Ellcrys vielleicht früher von seinem nahenden Tod gesprochen. Ich war es, mit der er schon zuvor gesprochen hatte — mit keinem der anderen. Die anderen wußten nicht einmal, was sich abgespielt hatte. Zu mir hätte der Ellcrys vielleicht gesprochen, so rechtzeitig vielleicht, daß das Blutfeuer hätte gefunden und das Samenkorn gepflanzt werden können, ehe die Mauer der Verfemung ins Wanken geriet und die Dämonen sich befreien konnten. Begreifst du, Wil? Wenn das zutrifft, dann habe ich alle die Elfen, die jetzt tot sind, auf dem Gewissen.«
»Es ist genauso möglich«, entgegnete Wil, »daß die Warnung des Ellcrys auch dann nicht einen Tag früher gekommen wäre, wenn du Arborlon nicht verlassen hättest, sondern geblieben wärst. Dann wärst du jetzt tot wie die anderen und den noch lebenden Elfen keine Hilfe.«
»Und damit soll ich meine Handlungen rechtfertigen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber du sollst jetzt nicht zurückblicken und Mutmaßungen darüber anstellen, was hätte sein können. Vielleicht war alles so gewollt, wie es sich entwickelt hat. Das kannst du doch gar nicht wissen.« Seine Stimme wurde härter. »Jetzt hör du mir mal einen Moment zu. Nimm an, der Ellcrys hätte sich einen anderen deiner Miterwählten zu diesen täglichen Gesprächen auserkoren. Hätte dieser Erwählte anders als du auf das Erlebnis reagiert? Wäre ein anderer den Gefühlen gegenüber immun gewesen, die dich bedrängten? Das glaube ich nicht, Amberle. Ich kenne dich. Ich kenne dich vielleicht besser als jeder andere, nach dem, was wir alles gemeinsam durchgemacht haben.Du besitzt Charakterstärke, du hast den Mut deiner Überzeugung und du besitzt Entschlossenheit, auch wenn du es anders behauptest.«
Er schob seine Hand unter ihr Kinn.
»Ich kenne niemanden — niemanden, Amberle —, der diese lange Reise und all die Gefahren und Unbilden besser gemeistert hätte als du. Ich denke, es ist Zeit, daß ich dir einmal sage, was du mir so gerne sagst. Glaub an dich selbst. Hör auf zu zweifeln. Hör auf Mutmaßungen anzustellen. Glaube einfach. Habe ein bißchen Vertrauen in dich selbst, Amberle, du verdienst dieses Vertrauen.«
Sie weinte jetzt ganz offen.
»Ich habe dich so gern.«
»Und ich dich.« Er küßte ihre Stirn. »Sehr, sehr.«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und er umschlang sie. Als sie zu ihm aufblickte, waren die Tränen versiegt.
»Jetzt mußt du mir etwas versprechen«, bat sie ihn.
»Ja, gut.«
»Versprich mir, dafür zu sorgen, daß ich bis zum Ende durchhalte — daß ich nicht wanke, daß ich nicht vom eingeschlagenen Weg abweiche, daß ich nicht davor zurückschrecke, das zu tun, was mich hierhergeführt hat. Sei meine Kraft und mein Gewissen. Versprich mir das.«
Er lächelte sanft. »Ich verspreche es dir.«
»Ich habe immer noch Angst«, gestand sie leise.
An der Zellentür sprang Eretria auf.
»Heiler!«
Wil sprang auf, und Amberle folgte ihm. Zusammen liefen sie zu Eretria hinüber. Ihre schwarzen Augen funkelten. Wortlos zog sie das Metallrohr aus dem Schlüsselloch und steckte es wieder in ihren Stiefel. Augenzwinkernd umfaßte sie dann die Eisenstangen der Zellentür und zog. Lautlos öffnete sie die Tür.
Wil Ohmsford lächelte triumphierend. Jetzt mußten sie nur noch Wisp finden.