Sie fanden ihn beinahe augenblicklich. Gerade waren sie von der Zelle zum Fuß der Treppe gelaufen und spähten blinzelnd aufwärts in die Finsternis des Korridors, als sie Schritte nahen hörten. Rasch bedeutete Wil Eretria, an die Wand zurückzuweichen, während er Amberle mit sich auf die andere Seite zog. An den kalten Stein gepreßt warteten sie, während die Schritte näherkamen, leichte, vertraute Dribbelschritte, die Wil sogleich erkannte. Wenig später tauchte Wisps Altmännergesicht aus der Dunkelheit des Korridors. »Hübsches Ding, hallo, hallo. Willst du mit Wisp schwatzen?« Mit festem Griff packte Wil ihn am Schlafittchen. Wisp schrie auf vor Schreck und strampelte wie ein Wahnsinniger, um sich zu befreien, als Wil ihn vom Boden hochhob. »Sei ganz still!« flüsterte Wil warnend und drehte den kleinen Burschen herum, so daß dieser sehen konnte, wer ihn gepackt hielt. Wisp riß die Augen auf. »Nein, nein, ihr könnt nicht fort.« »Sei still!« Wil schüttelte ihn, bis er keinen Laut mehr von sich gab. »Noch ein Wort und ich dreh’ dir den Kragen um, Wisp.« Wisp nickte voll ängstlichen Eifers, während sein behaarter kleiner Körper sich in Wils Händen wand. Wil ging in die Knie und setzte seinen Gefangenen auf den Boden, hielt ihn aber weiterhin am Kragen fest. »Jetzt hör mal genau zu, Wisp«, sagte Wil. »Ich möchte die Elfensteine zurückhaben, und du wirst mir zeigen, was die Hexe mit ihnen gemacht hat. Verstehst du?«
Wisp schüttelte heftig den Kopf.
»Wisp dient der Dame. Ihr könnt nicht fort!«
»In einer Schachtel sind sie, hast du gesagt.« Wil ging auf seinen Einwurf gar nicht ein. »Bring mich da hin, wo sie die Schachtel aufbewahrt.«
»Wisp dient der Dame! Wisp dient der Dame!« wiederholte der kleine Bursche voller Verzweiflung. »Ihr müßt bleiben! Geht zurück!«
Wil war ratlos. Da trat Eretria heran und neigte ihr dunkles Gesicht zu Wisp hinunter. Blitzend fuhr der Dolch aus ihrem Stiefel, und sie legte ihn dem kleinen Burschen an den Hals.
»Jetzt hör mal her, du kleiner Irrwisch«, sagte sie. »Wenn du uns nicht sofort zu den Elfensteinen bringst, dann schneide ich dir den Hals von einem Ohr zum anderen durch. Dann kannst du gar niemanden mehr dienen.«
Wisps Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen.
»Tu Wisp nichts, du Hübsche. Wisp mag dich, du hübsches Ding. Er mag dich. Tu ihm nichts.«
»Wo sind die Elfensteine?« fragte sie, während sie dem kleinen Elf die Klinge noch fester an die Kehle drückte.
Plötzlich begann die Turmglocke zu schlagen — einmal, zweimal, dreimal, dann ein viertes Mal. Wisp ließ einen erschreckten Aufschrei hören und begann unter Wils Hand wieder heftig zu strampeln. Wil schüttelte ihn ärgerlich.
»Was ist los, Wisp? Was gibt’s?«
Hilflos sank der Kleine in sich zusammen. »Morag kommt«, wimmerte er.
»Morag?« Ein plötzliches Gefühl völliger Verzweiflung stieg in Wil auf. Was führte Morag plötzlich in die finstere Residenz ihrer Schwester? Hastig blickte er die anderen an, doch ihre Augen spiegelten nur die Verwirrung, die er selbst verspürte.
»Wisp dient der Dame«, wimmerte Wisp und begann zu weinen.
Eilig sah Wil sich um.
»Wir brauchen etwas, um ihm die Hände zu binden.«
Eretria riß sich die lange Schärpe herunter, die sie um die Taille trug, und band damit dem kleinen Burschen die Hände auf den Rücken. Wil nahm die lose herabhängenden Enden und wickelte sie sich um eine Hand.
»Jetzt hör mir zu, Wisp.« Er zog dem jammernden Elf den Kopf zurück, bis ihre Blicke sich trafen. »Hör mir zu!«
Wisp hörte zu.
»Du bringst uns jetzt in das Gemach, wo die Dame die Elfensteine aufbewahrt hat. Wenn du versuchen solltest davonzulaufen, oder jemanden zu warnen, dann weißt du wohl, was dir dann passiert?«
Er wartete geduldig, bis Wisp nickte.
»Dann sei also nicht so dumm, so etwas zu versuchen. So, und jetzt bring uns zu den Elfensteinen.«
Wisp wollte etwas entgegnen, doch gleich drohte Eretria wieder mit dem Dolch. Eingeschüchtert nickte der Kleine noch einmal.
»So ist es gut, Wisp.« Wil ließ seinen Kopf los. »Jetzt gehen wir.«
Hintereinander gingen sie los, Wisp an der Spitze und Wil direkt dahinter, fest die Schärpe in der Hand, mit der Wisps Arme gebunden waren. Eretria und Amberle folgten. Beinahe blind stiegen sie durch die Finsternis aufwärts, und nach einer Weile sahen sie in der Ferne ein Licht, in dessen Schein sie schwach die Konturen der Treppe erkennen konnten. Ein Zylinder ähnlich dem, der ihre Zelle erleuchtet hatte, tauchte auf, und sie gingen unter ihm hindurch. In der Ferne schimmerten noch mehr solcher Lampen durch die Dunkelheit.
Immer weiter ging es die Wendeltreppe des Turms hinauf. Von Zeit zu Zeit kamen sie an dunklen, leeren Korridoren vorüber und an Türen, die fest verschlossen waren, doch Wisp verlangsamte nicht einmal den Schritt. Die Glockenschläge waren verklungen; der Turm war in tiefes Schweigen eingehüllt. Der schwere Duft von Räucherwerk wurde stärker, je höher sie kamen. Er benebelte Wil und die beiden Mädchen, und sie bemühten sich, den Rauch möglichst nicht einzuatmen. Wil begann allmählich argwöhnisch zu werden. Vielleicht war Wisp durchtriebener als er schien.
Dann aber erreichten sie einen Treppenabsatz, und Wisp blieb stehen. Er wies in einen dämmrig erleuchteten Korridor, der ein kurzes Stück in den Turm hineinführte und vor einer schweren, eisenbeschlagenen Tür endete. Von jenseits der Tür waren Stimmen zu hören.
Wil neigte sich hastig zu ihm hinunter.
»Was ist, Wisp?«
Das alte Gesicht war ängstlich und naß von Schweiß.
»Morag«, wisperte Wisp und schüttelte dann rasch den Kopf. »Sehr schlimm. Sehr böse.«
Wil richtete sich auf.
»Morag geht uns nichts an. Wo sind die Elfensteine?«
Wieder deutete Wisp auf die Tür. Wil zögerte und sah den Kleinen unsicher an. Sagte Wisp die Wahrheit? Dann kniete Eretria neben dem kleinen Irrwisch nieder und sprach ihn mit sanfter Stimme an.
»Wisp, bist du da auch sicher?«
Wisp nickte. »Ich lüge nicht, meine Hübsche. Bitte tu es nicht.«
»Ich will dir ja gar nichts tun«, versicherte sie ihm, ihn fest anblickend. »Aber du dienst der Dame und nicht uns. Können wir glauben, was du sagst?«
»Wisp dient der Dame«, pflichtete Wisp mit dünnem Stimmchen bei und schüttelte dann wieder den Kopf. »Wisp lügt nicht. Die schönen Steine sind dort drüben, auf der anderen Seite vom großen Saal, in einem kleinen Zimmer oben an der Treppe. In einer Schachtel mit hübschen Blumen, die rot und golden ist.«
Noch einen Moment lang blickte Eretria ihm in die Augen, dann sah sie zu Wil auf und nickte.
»Gibt es keinen anderen Weg, um an die Schachtel heranzukommen?« drängte Wil den kleinen Elf.
Wisp schüttelte den Kopf.
»Eine Tür nur.« Er wies den Korridor hinunter.
Schweigend sah Wil ihn an, dann winkte er den anderen, ihm zu folgen. Leise schlichen sie den kurzen Gang hinunter und blieben vor der Tür stehen. Die Stimmen, die herausdrangen, waren schrill und zornig. Wil holte tief Atem, dann drückte er langsam und sorgsam die Klinke der Tür herunter und zog. Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt. Wil spähte hindurch.
Sein Blick fiel in den Saal, wo Mallenroh sie empfangen hatte. Der weite Raum, dessen massige Mauern aus Steinquadern errichtet waren, wirkte schattig und düster. Nur einige der merkwürdigen rauchlosen Lichter, die wie Spinnen von einer unsichtbaren Decke herabhingen, erleuchtete ihn schwach. Unmittelbar hinter der Tür führte eine Folge halbkreisförmig gehauene Stufen abwärts. Und dort, wo die Treppe endete, drängten sich Hunderte von Holzmännchen um zwei gertenschlanke schwarze Gestalten, die einander gegenüberstanden. Die beiden Frauen kreischten und fauchten wie wütende Katzen.
Wil Ohmsford starrte die beiden entgeistert an. Die Hexenschwestern, Morag und Mallenroh, die letzten ihrer Art, seit Jahrhunderten erbitterte Feindinnen aus Gründen, die längst vergessen waren, glichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie waren Zwillinge. Fließende schwarze Gewänder umhüllten ihre hochgewachsenen Gestalten, feingesponnenes graues Haar, durchwoben von Nachtschatten, umrahmte die schön geschnittenen Gesichter, fleckenlos weiß war die Haut, geisterhaft in der Dunkelheit — eine sah aus wie das Spiegelbild der anderen. Beide waren sie feingliedrig, beide geschmeidig und zart. In diesem Augenblick jedoch war ihre Schönheit entstellt durch den Haß, der ihre Züge verzerrte und die violetten Augen verfinsterte. Ihre Worte erreichten den lauschenden Wil; ihre Stimmen waren jetzt leise, nicht mehr so schrill, aber hart und ätzend.
»Meine Macht ist der deinen gleich, Schwester, und ich fürchte nichts, was du tun könntest. Du kannst mich ja nicht einmal deines armseligen Hauses verweisen. Wir sind wie Fels und Stein, weder die eine noch die andere ist stärker.« Die Sprecherin lachte spöttisch. »Aber du möchtest das am liebsten alles ändern, Schwester. Du möchtest dich mit Zauberkräften rüsten, die nicht dir gehören. Und indem du das tust, würdest du unsere gemeinsame Herrschaft über dieses Gebiet beenden. Töricht bist du, Schwester. Du kannst keine Geheimnisse vor mir haben. So schnell wie du weiß ich, was deine Absicht ist.« Sie machte eine Pause. »Und ich weiß von den Elfensteinen.«
»Du weißt nichts«, schrillte die andere, die, wie Wil jetzt sah, Mallenroh war. »Verlaß mein Haus, Schwester. Geh, solange du noch kannst, oder ich werde Mittel und Wege finden, dich wünschen zu machen, du hättest meinen Rat befolgt.«
Morag lachte wieder. »Sei still, du Törichte. Du kannst mich nicht schrecken. Ich werde dann gehen, wenn ich das habe, was zu holen ich hergekommen bin.«
»Die Elfensteine gehören mir!« schrie Mallenroh. »Ich habe sie, und ich werde sie behalten. Die Gabe war für mich bestimmt.«
»Schwester, keine Gabe wird dir gehören, wenn ich es nicht wünsche. Solche Kräfte, wie sie den Elfensteinen innewohnen, müssen jener gehören, die am besten geeignet ist, sie zu beherrschen. Und die bin ich. Die bin ich immer gewesen.«
»Nie warst du besser für irgendwas geeignet als ich, Schwester.« Mallenroh spie der anderen zu Füßen. »Ich habe dir gestattet, dieses Tal mit mir zu teilen, weil du die letzte meiner Schwestern warst, und ich Mitleid hatte mit einer, so häßlich und so unnütz wie du. Denk nach, Schwester. Ich habe stets meinen Teil an schönen Dingen gehabt; aber du, du hast nichts gehabt als die Gesellschaft deiner stimmlosen Holzmänner.« Ihre Stimme wurde zu einem Zischen. »Erinnerst du dich des Menschenwesens, das du mir rauben wolltest, des Schönen, der mir gehörte, den du unbedingt für dich haben wolltest? Erinnerst du dich, Schwester? Ach, selbst dieser Schöne war dir verloren, ist es nicht so? So unachtsam warst du, daß du ihn vernichtetest.«
Morag funkelte die andere zornig an.
»Du warst es, die ihn vernichtet hat, Schwester.«
»Ich?« Mallenroh lachte höhnisch. »Eine Berührung von dir, und er verdorrte vor #######.«
Morags Gesicht war wie versteinert vor Wut.
»Gib mir die Elfensteine.«
»Ich gebe die gar nichts!«
Wil Ohmsford, der reglos hinter der schweren Tür kauerte, spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter und fuhr erschrocken zusammen. Eretria spähte an ihm vorbei durch den Spalt.
»Was ist denn los?«
»Bleib zurück«, flüsterte er, und seine Augen kehrten sogleich zu der Szene zurück, die sich im Saal abspielte.
Morag stand jetzt ganz dicht vor Mallenroh.
»Gib mir die Elfensteine. Du mußt sie mir geben.«
»Scher dich zurück in das Loch, aus dem du herausgekrochen bist, du Giftnatter«, höhnte Mallenroh. »Kehr doch zurück in dein leeres Nest.«
»Schlange! Dein eigen Fleisch und Blut möchtest du töten!«
»Verschwinde, du Ungeheuer!« kreischte Mallenroh. »Verschwinde endlich!«
Blitzartig schoß Morags Hand unter den schwarzen Gewändern hervor und versetzte Mallenroh einen brennenden Schlag ins Gesicht. Laut klang das Klatschen durch die Stille. Entgeistert taumelte Mallenroh zurück. Die hölzernen Glieder der Holzmänner klapperten, als diese sich ängstlich zusammendrängten und vor den beiden wütenden Hexen zurückwichen.
Dann schrillte ganz unerwartet Mallenrohs Gelächter durch den weiten Saal.
»Du bist erbärmlich, Schwester. Du kannst mir nichts antun. Geh nach Hause. Dort kannst du auf mich warten. Ich werde zu dir kommen. Ich werde dir den Tod bringen, den du verdienst. Du bist es nicht wert, als Sklavin gehalten zu werden.«
Morag stürzte vor und schlug wieder zu. Es war ein rascher, plötzlicher Hieb, auf den Mallenroh mit einem schrillen Wutschrei reagierte.
»Gib mir die Elfensteine!« In Morags Stimme schwang ein Unterton tollwütiger Raserei. »Gib sie mir endlich!«
Sie ging auf Mallenroh los, und ihre Hände schlossen sich um den Hals der Schwester. Wieder torkelte Mallenroh zurück. Ihr schönes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Ineinander verschlungen stürzten die Hexenschwestern auf den steinernen Boden des großen Saales, während sie sich kreischend schlugen und kratzten wie die Katzen. Dann gelang es Mallenroh sich loszureißen, und sie sprang wieder auf die Beine. Mit schneller, schlangenhafter Bewegung streckte sie eine Hand aus. Augenblicklich brach eine gewaltige Wurzel aus dem Stein zu ihren Füßen hervor und umrankte fest Morags sich windende Gestalt. Aufwärts glitt sie in die Dunkelheit und trug die um sich schlagende Morag mit sich, während sie immer höher wuchs, hinaufstrebte in die Finsternis jenseits der Lampen. Morag schrie gellend. Plötzlich erstrahlte die Finsternis in einem grellen Blitz, und grünes Feuer lief züngelnd die ganze Wurzel entlang und verbrannte sie zu Asche. In dicken Wolken stieg der Qualm von den zusammengesunkenen Aschehäufchen auf. Dann aber kam Morag wieder, schwebte wie ein Geist durch die Rauchschleier herab, bis sie wieder auf dem steinernen Boden des Turms stand.
Mallenroh kreischte vor Zorn, und das grüne Feuer sprang jetzt aus ihren Fingern, um ihre Schwester einzuhüllen. Morag schlug zurück. Einen Moment lang standen beide in grünen Flammen, und ihr schrilles Kreischen brach sich an den steinernen Wänden des Saales. Dann erlosch das Feuer, und die Schwestern standen einander wieder gegenüber, hochgewachsene schwarze Gestalten, die einander belauerten.
»Diesmal werde ich mich endlich von dir befreien«, flüsterte Mallenroh. Ihre Stimme war erfüllt von kaltem Haß, und sie stürzte sich auf ihre Schwester.
Morag wehrte den Angriff ab und schleuderte Mallenroh von sich weg. Wieder züngelten die grünen Flammen aus ihren Fingern. Mallenrohs Schrei stieg hoch und schrecklich in die Luft, und sie verschwand in undurchdringlichen Rauchschleiern. Einen Augenblick später tauchte sie ein paar Schritte zur Rechten wieder auf, und diesmal brach das Feuer aus ihren Händen hervor. Hin und her wogte der Kampf zwischen den beiden Schwestern, die einander immer wieder in wütender Raserei angriffen. Funken der grünen Flammen fielen auf die unglücklichen Holzmänner herab; innerhalb von Augenblicken standen Dutzende von ihnen in Flammen.
Und wieder prallten die Schwestern aufeinander, rangen heulend miteinander, während das Feuer aus ihren Fingern loderte. Die schwarzen Gewänder flogen im wütenden Kampf, und das Feuer barst wie eine gewaltige Säule aus dem Steinboden unter ihnen empor. Ein schreckliches Kreischen drang aus beider Kehlen, als ihre Hände sich ineinanderkrallten, und ihre hochgewachsenen Gestalten sich aufbäumten in Kampfeswut. Grüne Flammen breiteten sich aus wie Wasserlachen, rannen bis in die hinterste Ecke des Saales, um die angstvollen Holzmännchen zu verzehren. Hitze von solcher Intensität strahlte von der Feuersäule ab, daß sie Wil und seinen Gefährten, die noch immer hinter der angelehnten Tür hockten, die Gesichter versengte.
Dann begann der Turm selbst zu erzittern; Stein und Holz barsten, und in Kaskaden regnete es Splitter und Staub durch den Raum und die Finsternis. Wil sah, wie die Feuersäule von den beiden Hexenschwestern emporstieg, um gierig an den gewaltigen Holzbalken zu lecken, die den Turm stützten. Überall standen die Holzmännchen in Flammen, gaben dem Feuer Nahrung, so daß es sich im ganzen Saal ausbreiten konnte.
Hastig sprang Wil auf. Wenn sie noch länger zauderten, würden sie den Flammen nicht mehr entkommen können. Schlimmer noch, es konnte geschehen, daß der Turm einstürzte und sie unter seinen schweren Steinen begrub. Sie mußten jetzt den Ausbruch wagen. Es würde gefährlich werden, aber noch gefährlicher wäre es gewesen zu bleiben.
Er schob Wisp zum Türspalt.
»Wo ist das Zimmer mit der Schachtel, Wisp?«
Wisp jammerte und schluchzte. Wil schüttelte ihn ärgerlich.
»Zeig mir das Zimmer.«
Wisp streckte die Hand durch die Tür. Ganz rechts, praktisch auf der anderen Seite des Saales, zog sich eine schmale Wendeltreppe hin, die zu einer Tür hinaufführte.
Wil warf Amberle einen raschen Blick zu. Mit ihrem verletzten Knöchel würde sie nicht so schnell laufen können.
»Schaffst du es?« fragte er.
Sie nickte stumm. Er sah Eretria an, und die nickte ebenfalls. Da holte er tief Atem.
»Dann los!«
Den strampelnden Wisp unter einem Arm, zog er die schwere Holztür weit auf und schoß in den Saal hinein. Die Hitze der Flammen brandete ihm wie eine Flutwelle entgegen, traf sengend sein Gesicht, brannte bis in seine Kehle hinunter. Er senkte den Kopf, folgte der Steinmauer nach rechts und sprang die abgerundeten Treppenstufen hinunter. Holzmänner umdrängten ihn in heilloser Verwirrung, doch er schleuderte sie zur Seite, um seinen Gefährten den Weg freizumachen. Sie rannten hinunter zum Grund des Turmes, bahnten sich zwischen Flammenpfützen einen Weg zu der fernen Wendeltreppe.
Da schoß plötzlich die Feuersäule in einer Explosion aufwärts, die sie alle zu Boden schleuderte. Benommen rafften sie sich wieder auf und sahen, wie der Kampf zwischen den Hexenschwestern noch grimmiger wurde. Das Feuer änderte plötzlich seine Farbe vom geheimnisvollen Grün zum hell lodernden Orange. Eine echte, natürliche Flamme war aus ihm geworden. Die Hexenschwestern kreischten. Das Feuer sprang an ihren Gestalten empor, züngelte in ihrem wehenden grauen Haar. Es verbrannte sie.
»Schwester!« schrie eine von ihnen in hellem Entsetzen.
Brennendes Fleisch knisterte; mit erstaunlicher Schnelligkeit umhüllten die Flammen die Hexenschwestern mit lodernden Schleiern, verzehrten sie. Eben hatte sie noch dagestanden, in grimmiger Umklammerung; und nun war nichts mehr von ihnen übrig. Jede war den Kräften der anderen gewachsen gewesen; doch als ihrer beider Kräfte sich vereint hatten, hatten sie dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Alles was von ihnen blieb, war ein Haufen Asche und verkohltes Fleisch.
Wil hörte, wie Amberle entsetzt aufschrie. Dann fielen plötzlich die Holzmännchen in sich zusammen; wie Marionetten klappten sie zusammen, Arme und Beine lösten sich von den Rümpfen, Finger und Zehen verdorrten, und schließlich war nur noch ein riesiger Haufen schwelenden Holzes von ihnen übrig. Die Zauberkraft, die sie geschaffen und erhalten hatte, war mit den Hexenschwestern zugrunde gegangen. In dem brennenden Saal war nichts Lebendes mehr außer den drei Menschen und Wisp.
Die Zeit wurde knapp. Hustend im beißenden Rauch, sprang Wil auf. Wisp fest unter dem Arm, hastete er durch Flammen und Rauch, schleuderte mit den Füßen zur Seite, was von den Holzmännern noch geblieben war, rief Amberle und Eretria immer wieder drängend zu, sie sollten sich beeilen. Wisp hing weinend in seinem Arm, doch Wil hatte in diesem Moment kein Gefühl dafür und kümmerte sich nicht um den Kleinen, während er sich zu der Wendeltreppe auf der anderen Seite des Saales durchschlug und endlich die ersten Stufen hinaufstolperte. Oben an der Tür griff er zur Klinke, wähn ml er im stillen darum flehte, daß die Tür offen sein möge. Sie war offen. Mit tränenden Augen stürzte er hustend und keuchend hinein.
Das Prasseln des Feuers folgte ihm und übertönte Wisps Geschrei und Gezeter. Das ganze Zimmer war mit schwerer dunkler Seide ausgeschlagen, und Nachtschatten rankten an Wänden und schmiedeeisernen Spalieren. Angespannt spähte Wil durch die Dunkelheit und fand endlich, was er suchte. Auf einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, zwischen allen möglichen Ziergegenständen und Döschen mit Räucherwerk und Parfüm, stand ein großer, kunstvoll geschnitzter Holzkasten, dessen Deckel mit Blumen in Rot und Gold geschmückt war. Die Elfensteine! Wilde Freude durchfuhr ihn. Wisp schrie und zeterte wie ein Wahnsinniger, doch Wil, von der Hitze und vom Rauch halb betäubt, hörte ihn nicht. Sein ganzes Trachten war darauf gerichtet, die Steine zurückzuholen. Vage nahm er wahr, daß Eretria und Amberle ins Zimmer kamen, während er schon zu dem Tisch mit dem Holzkasten rannte. Gerade wollte er zugreifen, als Eretria in lauter Warnung aufschrie und ihn mit einem kräftigen Puff zur Seite stieß.
»Wie oft muß ich dich eigentlich noch retten, Heiler?« schrie sie, um sich im lauten Prasseln des Feuers verständlich zu machen. Sie riß einen eisernen Schlüssel von einem Haken an der Wand, näherte sich dem Kasten von der Seite und klappte mit Hilfe des langen Schlüssels vorsichtig den Deckel hoch. Ein blitzschnelles grünes Ding schoß aus dem Kasten und wickelte sich fest um den Schaft des Schlüssels. Hastig schlug Eretria den Schaft auf den Steinfußboden, bis das Ding, das sich darumgeschlungen hatte, nur noch eine leblose Hülle war.
Wil starrte voller Entsetzen hinunter. Es war eine Viper.
»Er wollte dich warnen!«
Eretria deutete auf Wisp. Der kleine Bursche schluchzte besinnungslos.
Wil war einen Moment lang so voller Entsetzen, daß er sich weder rühren noch sprechen konnte. Ein Biß von dieser Viper… Eretria stieß den Holzkasten mit ihrem Dolch an und schob ihn vom Tisch herunter. Edelsteine und Geschmeide ergossen sich auf den Fußboden. Mitten unter ihnen lag der lederne Beutel. Eretria hob ihn auf, behielt ihn einen Moment lang in der Hand, als überlege sie, was sie damit anfangen sollte, dann reichte sie ihn Wil. Er nahm ihn wortlos, öffnete die Zugschnur, blickte hinein.
Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. Die Elfensteine gehörten wieder ihm.
Ein neues Beben erschütterte den Turm; im großen Saal brach einer der massigen Stützbalken aus Holz in einem Funkenregen zusammen. Wil stopfte den Beutel mit den Elfensteinen unter seinen Kittel und rannte zur Tür, Wisp und Eretria mit sich ziehend. Sie mußten sofort weg von hier.
Doch lautes Hämmern, das plötzlich aus dem Inneren eines großen hölzernen Schrankes herausdrang, ließ ihn innehalten. In die trommelnden Schläge mischten sich gedämpfte Rufe und Schreie und das Knurren irgendeines Tieres. Wil warf Eretria einen raschen Blick zu. Jemand war in diesem Schrank gefangen. Wil zögerte nur einen Augenblick. Ganz gleich, was oder wer es war, man mußte ihm die Chance geben, dem brennenden Turm zu entkommen. Er stürzte zu dem Schrank und öffnete den Riegel. Die Türen flogen auf, und ein massiger dunkler Leib stürzte sich auf Wil, so daß dieser nach rückwärts torkelte. Laute Rufe drangen durch das von Rauch erfüllte Gemach, während Wil sich bemühte, seinen Angreifer abzuwehren. Dann wurde das Tier mit einem Ruck von ihm weggezogen, und ein vertrautes Gesicht zeigte sich.
»Hebel!« rief Wil erstaunt.
»Zurück, Drifter!« Der alte Mann gab dem Hund einen scharfen Klaps. »Was ist hier eigentlich los? Was hab’ ich denn da in dem Schrank gemacht?«
Unsicher stand Wil auf.
»Hebel! Die Hexe, Mallenroh — sie hat Euch in eine Holzskulptur verwandelt! Erinnert lhr Euch nicht?« Er lachte vor Erleichterung. »Wir dachten schon, Ihr wärt auf immer verloren! Ich versteh gar nicht, wie — «
Amberle nahm ihn beim Arm.
»Die Zauberkraft wirkt nicht mehr, Wil. Als Mallenroh starb, verlor der Zauber seine Kraft. Deshalb sind ja auch die Holzmännchen einfach so zusammengefallen — weil der Zauber nicht mehr wirkte. Und sicher war es so auch mit Hebel und dem Hund.«
Eine neue Rauchwolke wälzte sich durch die offene Tür, und Eretria rief ängstlich nach den anderen.
»Wir müssen hier raus.«
Wil machte sich sogleich auf den Weg zur Tür, den vor Angst wie versteinerten Wisp noch immer unter dem Arm.
»Nehmt Amberle mit«, rief er Hebel zu.
Draußen, auf dem Treppenabsatz, machten sie erschrocken halt. Der ganze große Saal stand in Flammen. Brennende Holzmännchen waren überall auf dem Boden verstreut. Die Holzbalken, die die gewölbte Decke trugen, krachten und bogen sich unter den züngelnden Flammen. Selbst die steinernen Mauern schimmerten in roter Glut von der Hitze. Das große Portal, das aus dem Saal zum Turm hinausführte, war verschlossen und verriegelt. Zögernden Schrittes stieg Wil die Treppe hinunter, während er in Flammen und Rauch nach einem Weg suchte, der sie zu dem Portal führen würde.
Da flog dieses plötzlich krachend auf, und die beiden Flügel schlugen donnernd gegen die Steinmauern. Wil Ohmsford und die anderen, die inzwischen den Fuß der schmalen Wendeltreppe erreicht hatten, blieben verblüfft stehen und spähten durch die Feuerswand. Tageslicht strömte durch das offenstehende Tor, und Wil hatte einen Moment lang den Eindruck, daß sich im Saal etwas Schattenhaftes bewegte. Angestrengt starrte er in die Flammen und versuchte festzustellen, was er da gesehen hatte. Oder hatte er sich vielleicht nur eingebildet, daß da ein Schatten…
Drifter, der ein paar Schritte zurück war, kauerte sich plötzlich knurrend und winselnd zusammen.
Da wußte er es. Der Raffer! Er hatte den Raffer vergessen.
»Wisp!« schrie er in wilder Verzweiflung und schüttelte den kleinen Elf so fest, daß das alte Gesicht vor ihm wie rasend hin und her wackelte. »Wie kommen wir hier raus? Jetzt hör mir zu! Du mußt mir einen anderen Weg nach draußen zeigen!«
»Wisp — raus — da drüben.«
Ein Arm wies schwach die Richtung.
Wil sah die Tür zu ihrer Linken, vielleicht vierzig Schritte durch das Feuer. Er zögerte keinen Augenblick. Nachdem er seinen Gefährten zugerufen hatte, ihm zu folgen, stürzte er durch die Flammen und die Rauchschwaden zur Tür. Er meinte beinahe, den eisigen Atem des Raffers in seinem Nacken zu spüren. Irgendwo draußen im großen Saal pirschte sich das Ungeheuer lauernd an sie heran.
Sie erreichten die Tür. Hustend und würgend fand Wil die Klinke und drückte sie herunter. Auch diese Tür war nicht verschlossen. Die anderen vor sich herschiebend, hastete er hindurch, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor.
Dann rannten sie — eine Wendeltreppe hinunter, die sich tief unter den Grund des Turmes schraubte, durch schwarze Finsternis, die von rauchlosen Lichtern nur spärlich erleuchtet war, durch muffig riechende Feuchtigkeit, die ihre erhitzten Körper abkühlte. Stolpernd und taumelnd rannten sie abwärts, und ihre Schritte widerhallten dumpf in der Stille.
Am Fuß der Treppe öffnete sich ein Gang, der sich im trüben Licht einiger Lampen durch die Tiefen der Erde schlängelte. Diesen Korridor liefen sie hinunter. Wil voraus, noch immer den wimmernden Wisp tragend; dann Hebel — Drifter an seiner Seite — und Eretria, die Amberle stützten. Endlos wand sich der Tunnel durch die Dunkelheit, bald in der einen, bald in der anderen Richtung; weiß schimmernde Insekten krochen hastig davon, als sie nahten, Staub wirbelte auf unter ihren eilenden Füßen.
Immer wieder blickte Wil durch die Schatten zurück. Hatte sich dort etwas gerührt? Hatte er dort etwas gehört? Tränen verschleierten seinen Blick, und er wischte sie sich zornig aus den Augen. Wo war der Raffer? Den ganzen Weg von Arborlon bis zu diesem Tunnel war er ihnen gefolgt. Er war hier, ganz nahe; er konnte es spüren. Der Raffer war hier.
Noch ein Stück, und der Tunnel mündete in eine zweite Treppe, die sich dunkel und leer aufwärtswand. An ihrem Fuß blieb Wil stehen bis die anderen ihn eingeholt hatten, dann nahmen sie gemeinsam den Anstieg in Angriff. Lange wanderten sie aufwärts durch die Finsternis, hofften bei jeder neuen Windung der Treppe vergeblich, daß sie dahinter das Tageslicht erblicken würden. Unaufhörlich lauschten sie nach Geräuschen des Ungeheuers, das sie verfolgte. Aber sie hörten nichts. Schweigen lag über dem Schacht und hüllte jene ein, die ihn erklommen.
Schließlich gelangten sie zu einer Falltür, die fest verriegelt war. Mit Gewalt riß Wil den Riegel zurück, drückte seine Schulter gegen die Tür und stemmte sich dagegen. Mit einem gedämpften Krachen flog die Tür auf; wolkenverhangenes, trübes Sonnenlicht ergoß sich in den dunklen Schacht. Hastig krochen die Menschen und der Hund aus dem Bauch der Erde heraus.
Sie standen wieder in der Senke, die sie grau, nebelverhangen und still umgab. Hinter ihnen befand sich der Wasserturm Mallenrohs, in dichte Rauchschwaden eingehüllt, die hoch in die Bäume hinaufstiegen und über Wall und Graben dahinzogen. Der Wald rundum war leer. Der Raffer war nirgends zu sehen.