Mit zarten Schleiern grauen Zwielichts glitt die Nacht über das Westland, und der kühle Hauch des Abends ließ sich in den Wäldern nieder. Die Wolken, die beinahe sieben Tage lang den sommerlichen Himmel verhüllt hatten, öffneten sich, so daß im verblassenden Sonnenlicht schmale Streifen von Blau aufleuchteten. Im Westen färbte sich der Horizont zu einem glühenden Scharlachrot, und der Widerschein des strahlenden Lichts fiel sanft über die regennassen Wälder. Aus den Nebelschleiern, die das Wirrnismoor verdunkelten, tauchten jene fünf auf, die von dem kleinen Trupp, der in Arborlon aufgebrochen war, noch übrig waren. Wie verlorene Seelen, die der Unterwelt entkommen sind, glitten sie ins Licht. Abgespannt und erschöpft waren sie, ihre Gesichter und Hände voller Schwielen und Kratzer, ihre Kleider schmutzverkrustet und zerfetzt. Sie sahen aus wie zerlumpte Bettler. Nur ihre Waffen verrieten, daß sie etwas anderes waren. Schwerfällig stapften sie durch den letzten schlammigen Graben, an den letzten dornigen Büschen vorüber, kletterten mühsam zu einer kleinen Anhöhe hinauf und machten schließlich schweratmend vor den Zwillingstürmen des Pykon halt. Es war ein ehrfurchtgebietender, großartiger Anblick. Zu beiden Seiten des breiten Mermidon, der sich glitzernd zum ostwärts gelegenen Grasland von Callahorn wand, erhoben sich in majestätischer Würde die beiden gewaltigen Felsspitzen des Pykon, der ein natürliches Tor zu der weitläufigen, buckeligen Bergkette bildete, die die Elfen den Steinkamm nannten. Einsam und unzugänglich ragten die beiden Felstürme in den Himmel hinein, schweigenden Wächtern gleich, die das Land zu ihren Füßen behüteten. Ihre Felswände waren von Rissen und Wülsten gezeichnet wie das Gesicht eines Greises von den Linien des Alters. Am Nordfuß des Berges leuchtete grün ein Fichtenwald, der sich nach oben hin lichtete, immer dünner wurde, bis schließlich nur noch vereinzelte Krüppelkiefern blieben und wilde Blumen, die dem dunklen Fels farbenfrohe Glanzlichter aufsetzten. Noch weiter oben funkelten Schnee und Eis. In aller Eile hielt Crispin eine Beratung ab. Auf ihrem Marsch durch die Wildnis des Wirrnismoores waren sie weiter nach Osten geraten, als in seiner Absicht gelegen hatte, so daß sie nun hier, am Pykon, angelangt waren, statt wie geplant an den Ausläufern des Steinkamms. Das Naheliegende wäre nun gewesen, den Pykon zu umgehen und am Mermidon flußaufwärts zu marschieren bis zum Steinkamm. Doch sie hätten diesen langen Marsch zu Fuß unternehmen müssen und mindestens zwei weitere Tage gebraucht, um die Strecke zu bewältigen. Außerdem — und das war ein wesentlicher Gesichtspunkt — hätten sie eine leicht zu verfolgende Spur hinterlassen.
Der Hauptmann der Elfen-Jäger meinte, er hätte eine bessere Möglichkeit zu bieten. Tief im Inneren des Pykon, eine gewaltige Felsspalte in der näher liegenden Spitze überbrückend, stand eine Festung der Elfen, die seit dem Zweiten Krieg leer und verlassen lag. Crispin war vor drei Jahren einmal dort gewesen, und wenn er sie wiederfinden konnte, dann konnte er ihnen auch die Wege zeigen, die von der trutzigen alten Burg durch die Felswüste des Berges abwärts führten zum Mermidon. Am Fluß gab es einen Schiffsanlegeplatz und vielleicht auch ein Boot; wenn nicht, so war auf jeden Fall Holz genug da, um eines zu bauen. Der Mermidon floß von dieser Stelle aus anfangs noch ein Stück nach Osten, ehe er abschwenkte und südwärts zum Steinkamm strebte. Wenn sie sich des Flusses bedienten und von seinen Wassern tragen ließen, konnten sie die Reise in der Hälfte der Zeit bewältigen, die sie zu Fuß brauchen würden — an einem Tag also etwa. Und, fügte Crispin hinzu, es gab noch einen anderen Grund, diesen Weg einzuschlagen. Der Fluß würde alle Spuren auslöschen.
Dieses letzte Argument bestimmte ihre Entscheidung. Keiner hatte die Begegnung mit dem Raffer im Drey-Wald vergessen. Es war anzunehmen, daß der Dämon noch immer nach ihnen suchte, und sie wollten alles tun, um ihm die Suche zu erschweren. Sie waren sich schnell einig darüber, daß es am besten wäre, den von Crispin vorgeschlagenen Weg zu gehen.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, nahmen sie den Aufstieg zum Pykon in Angriff. Den Fichtenwald am Fuß des Berges hatten sie schnell durchquert und erreichten die unteren Hänge, als die Nachmittagssonne hinter dem bewaldeten Horizont unterging. Die Nacht senkte sich über das Land, und im Osten ging mit sanftem Glanz der Mond auf. Sterne funkelten am tiefen Blau des Himmels und erhellten den Weg der fünf Wanderer, die stetig aufwärts stiegen. Es war eine stille, friedliche Nacht, von süßen Düften erfüllt, die ein milder Südwind aus den Wäldern mitbrachte. Sie fanden einen breiten, viel begangenen Trampelpfad, der sich zwischen Felsbrocken hindurchwand und an zerklüfteten Abgründen vorüberführte, während er sich im Schatten des Berges aufwärts schlängelte. Die Wälder dahinter versanken allmählich in der Tiefe, und sie konnten weit auf das dunkle Wirrnismoor hinaussehen, das sich wüst und öde nach Norden dehnte bis zur feinen Linie des Singenden Flusses.
Es war fast Mitternacht, als endlich die Elfenfestung in Sicht kam. Das massige alte Kastell war tief in eine gewaltige Felsspalte hineingebaut, mit seinen Zinnen und Türmen, seinen Schießscharten und Wehrgängen eine eindrucksvolle Silhouette vor dem mondhellen Felsen des Berges. Eine lange, gewundene Treppe führte den Steilhang hinauf zu einem gähnenden Tor im äußeren Schutzwall der Burg. Die schweren, eisenbeschlagenen Torflügel, die rissig und verwittert in den rostigen Angeln hingen, waren der Nacht geöffnet. Wachtürme kauerten wie vierschrötige Raubtiere auf wuchtigen, aus Steinquadern errichteten Mauern, deren schmale Fensterhöhlen schwarz und leer waren. Eisendornen bewehrten die Brüstungen. Hoch oben im Wald spitzer Türme schlugen Eisenketten, an denen einst die Banner der Elfenkönige befestigt waren, klirrend gegen eiserne Masten. Aus den Tiefen des Berges hoch über der Festung scholl der durchdringende Ruf eines Nachtvogels, schwoll an, bis er vom gellenden Pfeifen des Windes nicht mehr zu unterscheiden war, verlor sich dann in vielfältigem Echo. Die fünf, die von der kleinen Truppe aus Arborlon geblieben waren, kletterten keuchend die Treppe zum Tor der verlassenen Festung hinauf und traten vorsichtig ins Innere. Ein hoher, geschlossener Gang führte zu einer zweiten Mauer. Unkräuter hatten sich durch die Risse in dem Stein gebohrt, der den Gang pflasterte. Dumpf hallten die Schritte der fünf Wanderer durch die Stille. Fledermäuse flatterten mit wild schlagenden Flughäuten aus der Dunkelheit auf. Kleine Nagetiere huschten flink über den brüchigen Stein. Spinnweben hingen in feinen Schleiern von der Decke und hefteten sich in langen bleichen Fäden an die Kleider der Wanderer.
Am Ende des Durchgangs führte ein Tor in einen großen Hof, der vom Heulen des Windes erfüllt war. Zu beiden Seiten einer Brustwehr führten Treppen zu einem Söller vor dem Hauptturm der uralten Festung hinauf. Es war eine gewaltige steinerne Zitadelle, die Hunderte von Fuß in den Nachthimmel hinaufragte. Fenster kennzeichneten die verschiedenen Stockwerke des Turmes, der weit über das Land blickte. In der Mitte des Söllers, in eine schützende Nische eingelassen, befand sich eine hölzerne Tür. Darunter war eine zweite Tür, die vom Hof direkt in den Turm führte. Beide waren verschlossen.
Wil war gar nicht recht geheuer, als er den Blick über die uralten, verwitterten Mauern und Brustwehren wandern ließ. Der tobende Wind pfiff ihm um die Ohren und blies ihm Staub und Schmutz in die Augen. Er zog die Kapuze seines Umhangs tiefer in die Stirn. Die Festung war ihm unheimlich. Sie flößte ihm Angst ein. Die Geister der Toten waren hier zu Hause; Lebende waren hier Störenfriede. Er blickte Amberle an und sah das gleiche Unbehagen auf ihren Zügen.
Crispin hatte Dilph zum Söller hinaufgeschickt. Er selbst trat jetzt mit Katsin im Schlepptau auf die untere Tür im Turm zu. Den Riegel konnte er nicht öffnen, so warf er sich denn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Sie widerstand auch Katsins Bemühungen. Wil beobachtete diese Anstrengungen, die Tür gewaltsam zu öffnen, mit wachsender Beunruhigung. Die Festung schloß sie alle ein wie ein Gefängnis. Er wollte nur fort von hier.
Dilph kam die Treppe vom Söller herunter. Seine Worte verloren sich beinahe im gellenden Heulen des Windes. Die obere Tür war offen. Crispin nickte. Nachdem er einige herumliegende Holzscheite aufgesammelt hatte, die ihnen im Turm als Fackeln dienen konnten, führte er die kleine Truppe die Treppe hinauf zum Söller. Die Tür oben war angelehnt. Crispin trat nur einen Schritt hinein, entzündete mit Zunder eines der Scheite als Fackeln, die er bei sich hatte, zündete eine zweite an und gab sie Dilph, winkte sie dann alle herein und drückte die Tür zu.
Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, von dem mehrere dunkle Gänge abzweigten. Hinten war eine Wendeltreppe, die sich vom Erdgeschoß aufwärts in die Finsternis wand. Dichter Staub hing in der vom Wind bewegten Luft, und das Felsgestein des Turms war durchdrungen vom modrigen Geruch ständiger Feuchtigkeit.
Die Fackel hoch in der Hand, schritt Crispin einmal durch den kleinen Raum, prüfte den schweren Eisenriegel, durch den die Tür gesichert war, und kehrte wieder zu den anderen zurück. Hier würden sie bis zum Morgen rasten. Katsin und Dilph würden im Hof Wache halten, während Wil und Amberle schliefen. Crispin würde sich inzwischen auf die Suche nach dem Durchgang machen, der sie durch den Berg zu den Ufern des Mermidon führen würde.
Dilph reichte Wil seine Fackel. Gefolgt von Katsin schlüpfte er in die Nacht hinaus. Crispin verriegelte die Tür hinter ihnen, ermahnte Wil und Amberle, sie keinesfalls zu öffnen, und verschwand dann in der Finsternis eines der Gänge. Wil und Amberle blickten ihm nach, bis das Licht seiner Fackel in der Schwärze unterging. Dann trat Wil an die Tür, steckte seine Fackel in einen eisernen Halter an der Wand, und hockte sich, den Rücken zur Tür gelehnt, auf dem Boden nieder. Amberle wickelte sich fest in ihre Decke und streckte sich neben ihm aus. Durch die Türritzen drang pfeifend der Wind und jagte mit gespenstischem Wimmern durch die dunklen Gänge.
Sie brauchten lange, bis sie einschliefen.
Wil konnte später nicht sagen, ob er überhaupt geschlafen hatte. Er hatte den Eindruck, daß es mehr ein Dahindämmern als ein Schlafen war, ein leichter, unruhiger Schlummer, in unsicherer Schwebe zwischen Wachen und Schlafen. Er träumte, irrte durch die Schleier des Halbschlafs, die wie Nebel über seinem Unbewußten hingen. Dunkelheit und Nebel senkten sich in einem Wald der Phantasien über ihn, und er verlor den Weg. Und doch, so schien es ihm, war er hier schon einmal gewesen. Sie war ihm vertraut, diese labyrinthhafte Landschaft, die er da durchwanderte, während Dunkelheit und Nebel sie verschleierten. Es war ein Traum und doch kein Traum …
Da spürte er plötzlich die schreckliche Gegenwart des Ungeheuers, das irgendwo in der Dunkelheit auf ihn lauerte, und schlagartig erinnerte er sich. Havenstead — diesen Traum hatte er in Havenstead gehabt. Das Ungeheuer hatte ihn verfolgt, und er war geflohen, doch vergebens geflohen, denn es hatte kein Entrinnen gegeben. Schließlich war er erwacht. Aber konnte er das jetzt auch? Helle Panik überfiel ihn. Es war wirklich da draußen, das Ungeheuer, das schreckliche Wesen. Es trachtete ihm nach dem Leben. Er konnte ihm nicht entfliehen, konnte ihm nicht entrinnen, wenn er nicht erwachte. Doch er konnte den Weg nicht finden, der aus Dunkelheit und Nebel herausführte.
Er hörte sich aufschreien, als es ihn packen wollte.
Augenblicklich war er wach. Die Elfensteine in der Tasche seines Kittels brannten wie Feuer an seinem Körper. Wild fuhr er unter seiner Decke hoch und blinzelte angespannt in das schummrige Licht der Fackel. Amberle setzte sich neben ihm auf, das Gesicht noch vom Schlaf umwölkt. Ihre Züge waren bleich und voller Angst. Mit unsicherer Hand berührte Wil die Elfensteine. War es sein Schrei gewesen, der sie beide geweckt hatte, fragte er sich. Doch das Elfenmädchen sah ihn gar nicht an. Sie starrte unverwandt auf die Tür.
»Da draußen«, wisperte sie.
Mit einem Sprung war Wil auf den Beinen, zog Amberle mit sich hoch. Er lauschte, doch er hörte nichts.
»Vielleicht war es der Wind«, sagte er schließlich leise und voller Zweifel. Er legte seine Hand auf ihren Arm. »Ich seh´ lieber mal nach. Sperr die Tür hinter mir ab. Mach nur auf, wenn du meine Stimme hörst.«
Er zog den schweren Eisenriegel zurück und glitt in die Nacht hinaus. Schrill pfiff der Wind durch die Tür, bevor er sie hinter sich schloß. Amberle schob den Riegel wieder vor und wartete.
Einen Moment lang kauerte Wil abwartend in der Dunkelheit der Türnische und spähte in die Nacht. Mondlicht erhellte den Söller und fiel milchig auf die Mauern und Brustwehren rundum. Vorsichtig huschte Wil zur Brüstung und blickte in den Hof hinunter. Er war leer. Von Katsin und Dilph war keine Spur zu sehen. Er zögerte, unsicher, was er tun sollte. Dann eilte er über den Söller zur Treppe. Dort hielt er noch einmal an, um den stillen Hof zu überblicken. Nichts. Er stieg die ersten Stufen hinunter.
Der wütende Wind fegte Staub und kleine Steine über den Hof. Wil glitt lautlos die Stufen hinunter. Er hatte beinahe den Hof erreicht, als er Katsin sah. Oder das, was von Katsin noch übrig war — ein Körper mit grotesk verrenkten Gliedern, der zusammengesunken an der Turmwand unter dem Söller hockte. Nur ein paar Fuß entfernt lag Dilph, kaum sichtbar unter dem schweren Holz der Turmtür, die so fest verschlossen gewesen war, daß keiner von ihnen sie hatte öffnen können.
Wil überlief es eiskalt. Der Raffer! Er hatte sie gefunden. Und er war im Turm!
Wie von Furien gejagt, stürzte er die Treppe zum Söller wieder hinauf. Hoffentlich war es nicht schon zu spät!
Amberle glaubte, aus der Düsternis des Treppenschachts hinter ihr ein Geräusch aufsteigen hören, das irgendwo aus den Tiefen des Turmes kam. Ängstlich sah sie sich um und lauschte. Sie hockte noch immer lauschend da, als jemand an die Turmtür trommelte. Mit einem erschreckten Aufschrei sprang sie auf.
»Amberle! Mach auf!«
Es war Wils Stimme, kaum hörbar im Toben des Windes. Hastig schob sie den schweren Riegel zurück. Wil schoß herein und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht war kreideweiß vor Angst.
»Sie sind tot — alle beide!« Nur mit Anstrengung gelang es ihm, leise zu sprechen. »Der Raffer hat sie ermordet. Er ist hier, in diesem Turm!«
Amberle wollte etwas sagen, doch Wil drückte ihr hastig die Hand auf den Mund. Ein Geräusch — er hatte ein Geräusch gehört —, ja, dort im Treppenschacht. Es war der Raffer. Er wußte es mit absoluter Sicherheit. Er suchte sie. Und wenn er den Weg in diesen kleinen Raum gefunden hatte, dann gab es für sie kein Entkommen mehr. Kopflose Panik überwältigte Wil. Wie hatte das geschehen können? Wie hatte der Dämon sie so rasch finden können? Was sollte er jetzt tun?
Die Fackel vor sich haltend wie einen Schild, trat er von der Tür weg und weg vom Treppenschacht. Amberle schien ihm versteinert, wie sie stolpernd zurückwich wie er. Hier konnten sie nicht bleiben, sagte er sich wie betäubt, und blickte auf die Korridore, die sich zu beiden Seiten öffneten. In welchen von ihnen war Crispin hineingelaufen? Er war nicht sicher. Er entschied sich für den, in dem seiner Erinnerung nach der Hauptmann der Elfenjäger verschwunden war, und raste, Amberle fest an der Hand haltend, in die Finsternis hinein.
Mehrere hundert Fuß weiter hielten sie stolpernd an. Der Korridor endete hier, verzweigte sich in drei neue Gänge. Wieder wollte wilde Angst Wil alle klare Überlegung rauben. Welchen Gang sollte er nehmen? Er hielt die Fackel tief zum Boden hinunter. Crispins Stiefel hatte im Staub der Jahrhunderte eine klare, leicht zu lesende Spur hinterlassen. Ihr konnten sie folgen. Doch ihr konnte auch der Raffer folgen. Er schluckte seine Angst hinunter und rannte weiter.
Seite an Seite hetzten Wil und Amberle durch die finsteren Korridore der Festung, durch Säle, in denen Moder und Staub sich breitgemacht hatten, durch Gemächer, an deren Wänden zerfallende Teppiche hingen, über Altane und Gesimse, unter denen schwarze Abgründe gähnten. Ein tiefes, alles durchdringendes Schweigen wohnte in der uralten Zitadelle, so daß sogar das Heulen des Windes verklang und nur das Donnern ihrer Stiefel auf dem Steinboden zu hören war. Zweimal liefen sie in die Irre, rannten einen falschen Gang hinunter, bis sie merkten, daß die Spur verschwunden war und sie in ihrer Hast eine Abzweigung übersehen hatten. Mehrmals stießen sie auf zwei Spuren, wenn Crispin auf seiner Suche nach dem richtigen Weg einen Fehler gemacht hatte und wieder umgekehrt war. Jedesmal verloren sie kostbare Sekunden mit dem Bemühen, festzustellen, wohin Crispin tatsächlich gelaufen war. Und immer saß ihnen das schreckliche Gefühl im Nacken, daß gleich der Raffer aus der Düsternis hinter ihnen auftauchen und ihre letzte Chance auf ein Entkommen vertan sein würde.
Dann schimmerte das flackernde Licht einer Fackel in der Dunkelheit vor ihnen auf. Sie liefen ihm keuchend entgegen und sahen mit tiefer Erleichterung, wie sich langsam Crispins Gestalt aus den Schatten hob. Der Hauptmann war auf dem Rückweg von seiner Suche nach dem Weg, der durch den Berg führte. Die Klinge seines gezogenen Schwertes blitzte im Fackelschein, als er ihnen entgegenstürzte und abrupt stehenblieb.
»Was ist geschehen?« fragte er, als er die Angst in ihren Augen sah.
In aller Eile berichtete Wil. Crispins Gesicht wurde aschfahl.
»Dilph und Katsin auch noch! Kann denn nichts dieses Ungeheuer aufhalten?« Einen Moment lang blickte er schweigend auf sein Schwert hinunter, dann winkte er ihnen. »Kommt. Wir haben vielleicht doch noch eine Chance.«
Zusammen rannten sie den Gang hinunter, durch den Crispin gekommen war, bogen nach links in einen anderen Gang ab, durchquerten einen großen Saal, der früher als Waffenkammer gedient hatte, hasteten eine Treppe hinunter in eine weite, öde Rundhalle, bogen wieder in einen Gang ein. Am Ende dieses letzten Korridors wartete eine hohe Eisentür, die mit schweren Bolzen in den Fels des Berges eingelassen war. Crispin zog die Riegel zurück und öffnete die Tür. Brüllend schlug ihnen der Wind in die Gesichter, als wolle er sie ins Innere der Festung zurückschleudern. Der Elfen-Hauptmann warf seine Fackel weg, senkte entschlossen den Kopf und trat in die Dunkelheit hinaus. Amberle und Wil folgten.
Zu ihren Füßen gähnte eine tiefe Kluft, die entstanden war, als der Berg in uralter Zeit durch eine schwere Erschütterung vom Gipfel bis zum Fuß hinunter gespalten worden war. Ein schmaler Steg überspannte den Abgrund. Er führte von der kleinen Felsnische, in der sie standen, zu einem schlanken Turm, der in die gegenüberliegende Wand gebaut war. Der Wind fegte jaulend über die Kluft und rüttelte mit wütendem Geheul an dem schmalen eisernen Steg. Nur ein dünner Mondstrahl drang in die Tiefe der Schlucht hinunter und erhellte ein kurzes Stück des Stegs auf der anderen Seite.
Crispin zog Wil und Amberle nahe zu sich heran.
»Wir müssen hinüber!« schrie er durch das Tosen des Windes. »Haltet Euch am Geländer fest und schaut nicht nach unten.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe!« rief Amberle, den Blick voller Besorgnis auf den Steg gerichtet.
Wil spürte, wie ihre kleinen Hände krampfhaft seinen Arm umfaßt hielten.
»Ihr müßt!« Crispins Erwiderung duldete keine Widerrede. »Das ist unser einziger Ausweg.«
Amberle warf einen flüchtigen Blick auf die Eisentür in der Felswand, dann sah sie Crispin wieder an. Stumm nickte sie.
»Bleibt dicht bei mir!« mahnte der Elf.
Sie gingen los. Vorn der Elfen-Hauptmann, dann Amberle, zum Schluß Wil. Langsam und vorsichtig tappten sie durch die Dunkelheit, die Hände fest am Geländer auf beiden Seiten, die Köpfe gesenkt. Der Wind zerrte in wilden Stößen an ihnen, riß an ihren Kleidern und rüttelte an dem schmalen Steg, bis sie das Gefühl hatten, er müsse jeden Moment in den Abgrund stürzen. Als sie aus dem Schutz der Felswand traten, fegte die eisige Luft von den Gletschern des Berges über sie hinweg. Hände und Füße wurden rasch gefühllos vor Kälte, und das Eisen der Brücke fühlte sich an wie Eis. Schritt für Schritt tasteten sie sich voran, gelangten endlich aus den Schatten der Wand in silbriges Mondlicht, das in einem schmalen Streifen über dem Steg lag. Endlich hatten sie die letzte Etappe dieser gefährlichen Gratwanderung erreicht. Und Augenblicke später sprangen sie auf die Plattform vor dem einsamen Turm. Die Fenster in den dunklen Nischen waren dunkel, die Steinmauern von glitzerndem Eis überzogen. Eine Tür führte in das Innere des Turms.
Crispin führte Amberle vom Steg zum Eingang des Turms. Als Wil an ihrer Seite war, griff der Elf in einen Holzkasten, der an die Turmmauer gelehnt stand, und entnahm ihm zwei schwere Hämmer. Einen reichte er Wil und wies dann zur schmalen Brücke hinaus.
»Die Pfeiler des Stegs werden von sechs Bolzen gehalten — drei auf jeder Seite. Wenn wir die Bolzen herausschlagen, bricht der Steg ein. Das wurde extra so angelegt, um feindlichen Verfolgern zu entgehen, falls die Festung je überrannt werden sollte. Nehmt Ihr die drei auf der rechten Seite.«
Wil eilte auf die Plattform hinaus. Drei Bolzen, die horizontal durch Ringe getrieben waren, hielten die Strebepfeiler des Stegs in der Plattform, auf der er stand. Den Hammer fest in der Hand, begann er, gegen den ersten Bolzen zu schlagen. Rost und Schmutz hatten sich rundherum festgesetzt, und er löste sich nur sehr langsam aus seiner Fassung. Als er endlich heraussprang, fiel er lautlos in die Schlucht. Eilig nahm Wil sich den nächsten Bolzen vor. Im Rasen des Windes konnte er die Hammerschläge kaum hören, doch er spürte die Kälte, die seine ungeschützten Hände gefühllos machte. Der zweite Bolzen löste sich und fiel in die Tiefe.
Plötzlich begann die Brücke unter einer schweren Erschütterung zu schwanken. Wil und Crispin, die Hämmer in den Händen, blickten gleichzeitig auf. In den tiefen Schatten der gegenüberliegenden Wand bewegte sich etwas.
»Schnell!« rief der Elfen-Hauptmann.
Wie ein Wahnsinniger schlug Wil auf den letzten Bolzen ein, ließ einen wahren Hagel von Schlägen auf den runden Kopf niedergehen, doch der Bolzen rührte sich nicht von der Stelle. Er war eingerostet. Wil packte den Hammer mit beiden Händen und donnerte mit aller Wucht auf den Bolzen ein. Jetzt endlich bewegte er sich ein winziges Stück.
Auf der Brücke schob sich ein Schatten heran, der finsterer war als die Nacht. Mit einem Sprung kam Crispin auf die Beine. Zwei der Bolzen auf seiner Seite waren heraus, der dritte zur Hälfte herausgeschlagen.
Doch die Zeit war abgelaufen. Der Raffer tauchte aus dem Dunkel ins Mondlicht — gigantisch, finster, gesichtslos. Crispin spannte seinen Bogen und schoß seine Pfeile mit solcher Geschwindigkeit auf das Ungeheuer ab, daß Wil seine Bewegungen kaum verfolgen konnte. Doch alle Pfeile wurden mühelos zur Seite geschleudert. Wil krampfte sich der Magen zusammen. Verzweifelt schlug er auf den Bolzen ein, und dieser rutschte noch ein Stück weiter durch den Ring. Doch dann blieb er stecken.
Da fielen ihm plötzlich die Elfensteine ein. Die Elfensteine! Jetzt mußte er sich ihrer Kraft bedienen! Wilde Entschlossenheit durchflammte ihn. Er sprang auf, griff in seinen Kittel und riß den Lederbeutel heraus. In Sekundenschnelle hatte er die Steine in der Hand, hielt sie so fest umfaßt, daß sie in sein Fleisch einschnitten. Der Raffer kam immer näher, ein riesenhaftes, schattendunkles Ungeheuer, das tief zusammengekauert den Steg entlangkroch. Er war keine zwanzig Fuß mehr entfernt. Wil schwang die Faust mit den Steinen in die Höhe und beschwor mit aller Willenskraft, die ihm zu Gebote stand, das Feuer, das dieses Ungeheuer vernichten würde.
Die Elfensteine flammten blitzartig auf, und ihr blaues Feuer stieß züngelnd in die Nacht. Dann aber schien in Wils Innerem eine Schranke herabzufallen. Und im nächsten Moment versiegte der Kraftstrom der Steine.
Entsetzen packte Wil. Verzweifelt versuchte er noch einmal sein Glück. Nichts geschah. Amberle stürzte zu ihm, schrie wie eine Rasende auf ihn ein — doch ihre Worte verloren sich im gellenden Heulen des Windes. Wil war wie vom Donner gerührt vor Schreck und Entsetzen. Er hatte versagt! Er besaß keine Macht mehr über die Kraft der Elfensteine.
Da sprang plötzlich Crispin auf den Steg hinaus. Keinen Augenblick hatte er gezögert. Er warf den Bogen beiseite und zog sein Schwert, um dem Dämon entgegenzutreten. Das Ungeheuer schien flüchtig zu zögern. Eine direkte Konfrontation hatte es nicht erwartet. Wild rüttelte der Wind an der schmalen Eisenbrücke.
»Die Bolzen!« rief Crispin scharf nach hinten zurück.
Immer noch fassungslos schob Wil die Elfensteine unter seinen Kittel, ergriff wieder den Hammer und begann erneut, mit aller Kraft auf den Bolzen einzuschlagen. Er rührte sich nicht. Amberle kam aus den Schatten hinter ihm gelaufen. Sie nahm den Hammer, den Crispin weggeworfen hatte, und fing an, den anderen Bolzen mit erbitterten Schlägen zu bearbeiten.
Draußen auf der schmalen Brücke focht Crispin einen Kampf der Verzweiflung. Mit Scheinangriffen drang er auf den Raffer ein, um ihn aus dem Gleichgewicht zu werfen und so seinen Sturz in den Abgrund herbeizuführen. Doch der Dämon ließ sich nicht aus der Reserve locken, blieb in Lauerstellung, während er die Hiebe und Attacken des Elfen mit wuchtigem Arm abwehrte. Crispin verstand sich auf den Kampf mit dem Schwert, doch er vermochte nicht, die Abwehr des Ungeheuers zu durchdringen. Immer weiter schob sich der Raffer vorwärts, und der Elf war gezwungen, Boden abzugeben.
Ein ungeheurer Zorn über seine eigene Ohnmacht packte Wil Ohmsford. Den Hammerstiel mit beiden Händen umspannend, hieb er mit aller Gewalt auf den runden Kopf des Bolzens ein, und endlich sprang dieser aus seiner Fassung und sauste in die Schlucht hinunter. Doch da lief ein plötzlicher Ruck durch die Brücke und der waghalsig kämpf ende Crispin verlor das Gleichgewicht. Als er taumelnd nach hinten stolperte, stürzte sich der Raffer auf ihn. Krallenhände schlugen sich in den Kittel des Elfs. Mit blankem Entsetzen sahen Wil und Amberle, wie der Raffer Crispin in die Höhe schleuderte. Das Schwert des Elfen-Hauptmanns sauste blitzend abwärts zur Kehle des Dämonen, doch die Klinge zersprang, als sie auftraf. Der Raffer wehrte den Hieb ab wie eine lästige Fliege. Noch einen Moment lang hielt er Crispin über seinem vermummten Kopf, dann schleuderte er den Elf von der Brücke in die schwarze Tiefe. Lautlos taumelte Crispin durch die Luft und war verschwunden.
Und wieder rückte der grauenhafte Töter näher.
Da packte ein plötzlicher Windstoß mit gewaltiger Kraft die schon schwankende Brücke und rüttelte mit solcher Heftigkeit an ihr, daß auch der letzte Bolzen aus seiner Fassung brach. Der schmale Steg löste sich von der Plattform, an der er festgemacht war, und fiel klirrend in den Abgrund, den Raffer mit sich reißend, der das eiserne Gestänge umklammert hielt. Gemächlich beinahe sank der Steg herab, schwang mit metallischem Knirschen zur gegenüberliegenden Wand hinüber, fiel durch den schmalen Streifen Mondlicht in den Schatten zurück und krachte schließlich donnernd gegen den Fels. Doch er löste sich nicht ganz aus seiner Verankerung. Die Pfeiler auf der anderen Seite, geknickt zwar und verbogen, hielten ihn noch, und schaukelnd wippte er im tosenden Wind hin und her. In den finsteren Schatten der Wand war er kaum sichtbar. Der Raffer war nirgends zu sehen.
Amberles Stimme übertönte plötzlich das Heulen des Sturms, ein schrilles, verängstigtes Wimmern. Doch Wil konnte nicht verstehen, was das Elfenmädchen rief. Er hielt noch immer seinen Hammer umklammert, und in seinem Geist herrschte das Chaos. Crispin und die Elfen-Jäger waren nicht mehr. Die Kraft der Elfensteine war verloren. Amberle und er waren allein.
Weinend drückte sie sich an seine Schulter und flehte ihn an, diesen Ort zu verlassen. Jetzt erst wandte er sich ihr zu und zog sie an sich. Flüchtig war ihm, als höre er Allanons Stimme, die ihm sagte, daß der Druide sich vor allen anderen auf ihn, Wil Ohmsford, verlasse. Amberle fest an seiner Seite, verschwand er im Schutz des einsamen Turmes.