Grau und trüb brach der Tag über dem Wildewald an und hüllte die Wälder in Schatten, die sich wie Blutflecken auf der dunklen Erde ausbreiteten. Wolken verschleierten den Morgenhimmel, hingen bleiern und tief über dem Tal, und eine drückende Stille lag in der Luft, wie eine Warnung vor dem Nahen eines sommerlichen Gewitters. Schon waren die Fahrensleute wieder unterwegs, glitten, so schattenhaft wie sie gekommen waren, wieder aus der Lichtung hinaus, auf der Hebels Hütte stand; voran die Reiter, dann der Wagen, auf dem Wil und Amberle saßen, die Hände erhoben, um dem alten Mann flüchtig zuzuwinken, der schweigend vor seiner Hütte stand und ihnen nachblickte. Gemächlich rollte der Wagen in die Düsternis der Wälder hinein. Die massigen, alten Bäume schlossen sich immer enger um sie, bis schließlich nur noch dünne Lichtfäden durch das Blätterdach sickerten und nichts weiter zu sehen war als der schmale, von tiefen Furchen durchzogene Pfad, der in die Tiefen des Tals hineinführte. Gegen Mitte des Vormittags hatten sie die Hauptstraße wieder erreicht und wandten sich nach Osten. Als der Tag sich langsam wärmte und die Kühle der Nacht verdampfte, sammelten sich Nebel auf dem Grund des Tales, die wie weiße Schleier zwischen den Bäumen hingen. Wil und Amberle saßen schweigend neben der alten Frau und dachten an das, was vor ihnen lag. Zu einem Gespräch mit Hebel war es nicht mehr gekommen, denn sie hatten die ganze Nacht hindurch fest geschlafen, und bei ihrem Erwachen hatte Cephelo dafür gesorgt, daß der alte Mann nicht in ihre Nähe kam. Jetzt fragten sie sich beide, was er ihnen vielleicht noch hätte sagen können, wenn sich eine Gelegenheit dazu geboten hätte. Ab und zu trabte Cephelo auf seinem Pferd nach hinten zu ihnen, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, doch das Lächeln und das Gespräch wirkten gezwungen und künstlich. Es War beinahe so, als suche er etwas, doch weder Wil noch Amberle hatten die geringste Ahnung, was es sein könnte. Eretria hielt sich ganz von ihnen fern, und Amberle war verwundert über diese plötzliche Veränderung im Verhalten des Mädchens. Wil jedoch verstand sie nur allzu gut. Gegen Mittag gab Cephelo an einer Weggabelung tief im Wald das Zeichen zum Anhalten. Aus der Ferne grollte bedrohliches Donnergrollen, und der Wind stürmte in heftigen Böen, die zornig an denBäumen rüttelten und Blätter, Staub und Äste durch die Luft wirbelten. Cephelo ritt zum Wagen zurück und hielt neben Wil an. »Hier trennen sich unsere Wege, Heiler«, verkündete er und wies auf die Kreuzstraße. »Euer Weg führt nach links, die kleinere Straße hinunter. Er ist nicht zu verfehlen — Ihr braucht ihm nur zu folgen. Noch vor Einbruch der Nacht müßtet Ihr die Senke erreichen.«
Wil wollte etwas erwidern, doch der Fahrensmann hob rasch die Hand.
»Bevor Ihr etwas sagt, laßt mich Euch raten, mich nicht zu bitten, Euch zu begleiten. Das war nicht unsere Abmachung, und ich habe andere Verpflichtungen, die ich erfüllen muß.«
»Ich wollte nur fragen, ob wir etwas Proviant mitnehmen könnten«, erklärte Wil kühl.
Der Fahrensmann zuckte die Schultern.
»Für ein, zwei Tage, ja, aber nicht mehr.«
Er nickte der alten Frau zu, die durch die Tür in den Wagen hineinging. Wil fiel auf, daß Cephelo recht unbehaglich im Sattel hin und her rutschte, während sie auf die Rückkehr der Alten warteten. Irgend etwas stimmte da nicht.
»Und wie finde ich Euch, um Euch Euren Anteil an der Belohnung zu bezahlen?« fragte Wil unvermittelt.
»Belohnung? Ach ja.« Cephelo schien die Belohnung ganz vergessen zu haben. »Also, ich habe schon gesagt, ich werde es wissen, wenn Ihr Euren Lohn erhalten habt. Ich werde zu Euch kommen, Heiler.«
Wil nickte, stand auf und stieg vom Wagen herunter. Er wandte sich um, Amberle zu helfen und warf ihr einen raschen Blick zu, als er sie herunterhob. Ihr schien das Verhalten des Fahrensmannes so befremdlich wie ihm, das sah er ihr an. Er wandte sich wieder Cephelo zu.
»Könntet Ihr uns ein Pferd geben? Dann —«
»Wir können keines unserer Pferde entbehren«, unterbrach ihn Cephelo. »Ich finde, Ihr solltet Euch jetzt auf den Weg machen. Es sieht nach einem Gewitter aus.«
Die alte Frau kam aus dem Wagen und reichte Wil einen Beutel. Der warf ihn über die Schulter und dankte ihr. Dann blickte er noch einmal den Fahrensmann an.
»Gute Reise, Cephelo.«
Der Mann nickte. »Euch das gleiche, Heiler. Lebt wohl.«
Wil nahm Amberle beim Arm und führte sie durch die Schar der Reiter zur Kreuzstraße. Eretria saß auf ihrem Braunen, und ihr schwarzes Haar flatterte im stürmischen Wind. Wil blieb an ihrer Seite stehen und streckte ihr die Hand hin.
»Leb wohl, Eretria.«
Sie nickte stumm. Ihr dunkles Gesicht war ausdruckslos, kalt und schön. Ohne ein Wort wendete sie dann ihr Pferd und ritt zu Cephelo zurück. Wil schaute ihr einen Moment lang nach, doch sie blickte nicht zu ihm zurück. Er ging weiter, dem Pfad entgegen, der nach Süden führte. Der Wind blies ihm Staub und Erde in die Augen, und er beschattete sie mit einer Hand. Mit Amberle an seiner Seite machte er sich auf den Weg.
Hebel saß den ganzen Morgen an seiner Werkbank hinter der kleinen Hütte und arbeitete an der Holzskulptur einer Sumpfkatze. Wahrend er schnitzte, wanderten seine Gedanken zu den Ereignissen des vergangenen Abends zurück, zu den beiden jungen Elfen und ihrem seltsamen Unterfangen, zu den Warnungen, die er geäußert hatte, und die sie ignoriert hatten. Er verstand es nicht. Warum weigerten sie sich, auf ihn zu hören? Er hatte es doch klar und deutlich ausgesprochen, daß jeder, der sich in die Senke wagte, des Todes war. Und er hatte ihnen ebenso klar und deutlich zu verstehen gegeben, daß die Senke das Reich der Hexenschwestern war, die keine Eindringlinge duldeten. Was also konnte es sein, was diese Geschwister trieb, sich trotz allem in die Senke zu wagen ?
Nur die Suche nach einer Wurzel, aus der eine bestimmte Medizin gemacht werden konnte? Er glaubte es nicht. Da steckte mehr dahinter. Und je länger er diesen Gedanken hin und her wendete, desto plausibler schien er ihm. Die beiden waren gewiß nicht so töricht, einem Burschen wie Cephelo die Wahrheit anzuvertrauen; nein, dieser junge Mann ganz sicher nicht — dazu war er zu klug. Sichermal lag in den Tiefen der Hochwarte; was für eine Wurzel wuchs im Bauch eines Berges, in den niemals Sonnenlicht eindrang, um sein Wachstum zu fördern? Aber Zauberkräfte hatten einst in Sichermal gewirkt, das hatte die Hexe ihm zugeflüstert — Zauberkräfte aus einem anderen Zeitalter, längst verloren und vergessen. War es möglich, daß die jungen Elfen hofften, diese Kräfte wiederzuentdecken?
Der alte Mann hielt in seiner Arbeit inne und blickte zu dem immer dunkler werdenden Himmel auf. Das Heulen des Windes in den Bäumen schwoll an. Das wird ein arges Gewitter geben, dachte er. Schlimm für die jungen Elfen, denn das Gewitter würde sie zweifellos überraschen, noch ehe sie die Senke erreichten. Er schüttelte den Kopf. Er wäre ihnen nachgeeilt, wenn er glauben könnte, daß es etwas ausrichten würde. Doch die beiden waren offenbar fest entschlossen. Dennoch, es war arg. Ganz gleich, was sie in Sichermal zu finden hofften, ob Wurzel oder Zauberkraft, sie hätten besser daran getan, das Unternehmen zu vergessen. Denn sie würden es nicht überleben.
Drifter, der zu seinen Füßen lag, hob den Kopf und streckte schnuppernd die Nase in den Wind. Dann knurrte er plötzlich, tief und zornig. Hebel blickte verwundert zu ihm hinunter und sah sich dann um. Die Schatten der Bäume fielen in die Lichtung, aber nichts rührte sich.
Drifter knurrte wieder, und seine Nackenhaare sträubten sich. Mißtrauisch ließ Hebel den Blick schweifen. Da draußen trieb sich etwas herum, hielt sich in der Düsternis des nahenden Gewitters verborgen. Er stand auf und nahm die Axt zur Hand. Vorsichtig machte er sich auf den Weg zu den Bäumen. Drifter begleitete ihn, immer noch knurrend.
Dann aber hielt er an. Er wußte selbst nicht, weshalb er anhielt. Es war einfach so, daß plötzlich etwas Eiskaltes sich in seinen Körper hineinstahl, ihn so schüttelte, daß er kaum stehen konnte. Drifter lag auf dem Bauch zu seinen Füßen und wand sich wimmernd, als sei er geschlagen worden. Der alte Mann bemerkte flüchtige Bewegungen — einen gewaltigen, vermummten Schatten. Eben noch war er da, und gleich darauf war er verschwunden. Eine schreckliche Furcht überfiel ihn, so heftig, daß er nicht die Kraft aufbringen konnte, sie abzuschütteln. Sie hielt ihn mit grausamen Klauen umkrallt, während er hilflos in den finsteren Wald spähte und mit aller Kraft, die noch in ihm war, wünschte, er könnte sich umdrehen und fliehen. Die Axt entglitt seiner Hand und fiel nutzlos zu Boden.
Dann plötzlich verließ ihn das Gefühl, war so rasch verschwunden, wie es gekommen war. Rundum heulte der Wind, und die ersten dicken Regentropfen schlugen ihm in das verwitterte Gesicht. Er holte tief Atem und hob die Axt vom Boden auf. Drifter an seiner Seite, wich er langsam zurück, bis er spürte, wie seine Beine die Werkbank berührten. Da erst blieb er stehen, eine Hand fest im Nackenhaar des großen Hundes verkrallt, um das Zittern zu beruhigen, das ihn schüttelte. Mit entsetzlicher Gewißheit erkannte er, daß er nie zuvor dem Tod so nahe gewesen war.
Noch keine volle Stunde waren Wil und Amberle marschiert, als das Gewitter sie einholte. Erst waren es nur ein paar dicke Tropfen, die durch das dichte Laubdach des Waldes fielen; doch bald wurde ein heftiger Schauer daraus. In Strömen peitschte der Sturm den Regen über den Weg, und krachende Donnerschläge brachen sich in den Bäumen. Das dämmrige Licht, das über dem Pfad lag, verdunkelte sich noch mehr, undwasserschwere Äste neigten sich herab und versperrten ihnen den Weg. Innerhalb von Minuten waren sie bis auf die Haut durchnäßt, da sie ihre Umhänge genau wie ihre übrigen Sachen im Wagen der Fahrensleute zurückgelassen hatten. Die dünnen Gewänder, die man ihnen statt dessen gegeben hatte, klebten ihnen auf der Haut. Doch da sie gegen all diese Unbilden nichts tun konnten, zogen sie einfach die Köpfe zwischen die Schultern und marschierten weiter.
Mehrere Stunden lang fiel der Regen; nur ab und zu trat eine kurze Pause ein, trügerische Verheißung auf ein baldiges Ende des Gewitters. Wil und Amberle aber wanderten tapfer weiter, während ihnen das Wasser am Körper herunterrann, der Schlamm an ihren Stiefeln klebte.
Unverwandt hielten sie die Augen auf den durchweichten Pfad gerichtet. Als der Regen dann endlich wirklich verebbte und das Gewitter nach Osten abzog, stiegen Nebel aus den Wäldern auf und verdichteten die graue Düsternis. Bäume und Büsche hoben sich schwarz und glänzend aus den Nebenschleiern, und das Tropfen des Wassers klang laut in der Stille. Der Himmel blieb dunkel und wolkenverhangen; im Osten rollte noch immer der Donner. Als der Nebel noch dichter wurde, mußten die beiden Wanderer ihre Schritte verlangsamen.
Nun begann der Pfad sich abwärts zu neigen, in einem leichten Gefalle zunächst, das kaum wahrnehmbar war, mit der Zeit jedoch immer steiler wurde. Wil und Amberle rutschten auf dem glitschigen Schlammboden abwärts, während sie hoffnungsvoll in die Finsternis spähten, die vor ihnen lag, und doch nichts entdeckten, als den dunklen Tunnel des Pfades und die schwarze Mauer der Bäume. Noch stiller war es jetzt geworden, da selbst das Summen der Insekten verstummt war.
Plötzlich dann, so unvermittelt, als hätte jemand einen Schleier gelüftet, teilten sich die Bäume des Waldes, der Hang wurde eben, und vor ihnen dehnte sich die große, dunkle Mulde der Senke. Wil und Amberle blieben mitten auf dem schlammigen Weg stehen und starrten hinunter in das beeindruckende Tal. Sie wußten sogleich, daß sie die Senke gefunden hatten; diese riesige Schlucht schwarzen Waldes konnte nichts anderes sein. Es war, als wären sie auf einen riesigen, stillen See gestoßen, der ruhig und leblos dalag und dessen dunkle Oberfläche von undurchdringlicher Vegetation überwuchert war, so daß man seine Wasser nicht mehr sehen konnte. Aus der schattendunklen Mitte ragte die Hochwarte zum Himmel auf, eine einsame Felsnadel, die kahl und zerklüftet die Finsternis durchbohrte. Die Senke war so trostlos wie ein offenes Grab, das von Tod sprach.
Schweigend standen Wil und Amberle am Rande der Senke und kämpften gegen das aufsteigende Gefühl der Abwehr, das mit jedem Augenblick wuchs, während sie in die lautlose Schwärze hinabblickten.
»Da müssen wir hinunter«, flüsterte Wil schließlich.
Amberle nickte. »Ich weiß.«
Suchend blickte er sich nach einem Weg um, dem sie folgen konnten. Ihr Pfad schien ein Stück weiter vorn ganz aufzuhören. Doch als Wil ein paar Schritte ging, sah er, daß er doch nicht versiegte, sondern sich teilte, um sich in zwei neuen Pfaden abwärts zu winden. Wil zögerte, während er die beiden Wege musterte und überlegte, auf welchem man wohl leichter in die Senke hinuntergelangen könnte. Schließlich entschied er sich für den Pfad, der nach links führte. Er hielt Amberle seine Hand entgegen, und sie umschloß sie fest. Dann gingen sie los, Wil voraus. Immer wieder geriet er ins Rutschen, als unter ihm Steinbrocken und durchweichte Erde nachgaben. Amberle blieb dicht hinter ihm, und so tasteten sie sich vorsichtig vorwärts.
Da verlor Wil plötzlich den Halt und stürzte, Amberle mit sich reißend. Sie stolperte abwärts über seine Beine und fiel kopfüber vom schlammigen Pfad, um mit einem Angstschrei im Waldesdunkel zu verschwinden. Angstvoll kroch Wil ihr nach, kämpfte sich durch dichtes Gestrüpp, das sich in seine Kleider verhakte und ihm das Gesicht zerkratzte. Er hätte Amberle vielleicht nie gefunden, hätte sie nicht die leuchtenden Kleider der Fahrensleute getragen. Plötzlich gewahrte er etwas Rotes in der Dunkelheit.
Sie lag eingeklemmt zwischen zwei Büschen, atemlos, das Gesicht von Schlamm verschmiert. Ihre Augen flackerten unsicher, als er sie berührte.
»Wil?«
Er half ihr, sich aufzusetzen, und hielt sie in seinen Armen.
»Alles in Ordnung? Hast du dir weh getan?«
»Nein, ich glaube nicht.« Sie lächelte. »Du bist ziemlich tolpatschig, weißt du das?«
Er nickte, lachend vor Erleichterung.
»Komm, jetzt steh erst einmal auf.«
Er legte seinen Arm um ihre Taille und hob sie hoch. Ihr zierlicher Körper war so leicht wie eine Feder. Sacht ließ er sie zu Boden gleiten, doch da schrie sie auf und sank wieder zu Boden, während ihre Hand an ihren Knöchel griff.
»Ich hab’ mir den Fuß verstaucht.«
Wil betastete den Knöchel.
»Gebrochen ist nichts«, stellte er fest. Er ließ sich neben ihr nieder. »Wir können ja eine Weile rasten und dann weitergehen. Ich kann dir den Hang runterhelfen; ich kann dich auch tragen, wenn es anders nicht geht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ach, Wil, es tut mir so leid. Ich hätte vorsichtiger sein sollen.«
»Du? Ich bin doch gestürzt!« Er lachte, in dem Bemühen sie aufzumuntern. »Na, vielleicht kommt eine von den Hexenschwestern vorbei und hilft uns.«
»Das ist gar nicht komisch.« Amberle machte ein unwilliges Gesicht und sah sich ängstlich um. »Vielleicht sollten wir bis zum Morgen warten, bevor wir weiter hinuntersteigen. Vielleicht schmerzt mein Knöchel bis dahin nicht mehr so. Außerdem mußten wir die Nacht da unten verbringen, wenn wir jetzt noch hinunterklettern, und das verlockt mich wirklich nicht.«
Wil nickte. »Mich auch nicht. Warten wir ruhig bis morgen. Es wird früh genug wieder hell.«
»Vielleicht sollten wir bis zum oberen Rand zurücksteigen.« Hoffnungsvoll sah sie ihn an.
Wil lächelte. »Glaubst du wirklich die Geschichten, die der Alte erzählt hat? Glaubst du wirklich, daß da unten Hexen hausen?«
»Du nicht?« fragte sie leise.
Er zögerte, dann zuckte er die Schultern.
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Ja, doch, ich glaube schon. Es gibt kaum noch etwas, was ich nicht glaube.« Er beugte sich ein wenig vor und umschlang die angezogenen Beine mit den Armen. »Wenn es da unten Hexen gibt, dann kann ich nur hoffen, daß sie vor Elfensteinen Angst haben. Das ist nämlich so ziemlich der einzige Schutz, den wir noch haben. Aber wenn ich die Steine gebrauchen muß, um den Hexen Angst zu machen, kann’s natürlich passieren, daß wir erst richtig in Schwierigkeiten geraten.«
»Ich glaube nicht«, versetzte sie ruhig.
»Du bist immer noch überzeugt, daß ich ihre Kräfte beherrschen kann, nicht wahr — sogar nach dem, was auf dem Pykon passiert ist?«
»Ja. Aber du solltest die Steine besser nicht einsetzen.«
Er sah sie an. »So eine Bemerkung hast du schon einmal gemacht. Nach der Geschichte im Tirfing, als wir am Mermidon rasteten. Du machtest dir Sorgen um mich. Du sagtest, ich solle die Steine nicht mehr gebrauchen, selbst wenn ich dich nur dadurch retten könnte.«
»Ja, das weiß ich noch.«
»Und später, als wir vom Pykon flohen, erzählte ich dir, daß ich keine Macht mehr über die Steine habe, daß mir ihre Kräfte nicht mehr zugänglich sind, daß mein Elfenblut nicht stark genug ist. Da sagtest du, ich solle in meinem Urteil über mich nicht so vorschnell sein — du hättest Vertrauen zu mir.«
»Ja, das weiß ich auch noch.«
»Dann sieh dir doch mal an, was du gesagt hast. Ich glaube, ich sollte die Steine gebrauchen, glaube aber nicht, daß ich dazu fähig bin. Du glaubst, daß ich es vermag, findest aber, ich sollte sie lieber nicht gebrauchen. Merkwürdig, nicht?« Er schüttelte den Kopf. »Und wir wissen immer noch nicht, wer von uns beiden recht hat. Da sind wir nun beinahe am Ziel, und ich weiß immer noch nicht —«
Er brach ab, als ihm bewußt wurde, was er da sagte.
»Es ist ja auch nicht wichtig«, schloß er und wandte sich von ihr ab. »Am besten ist es, wir erfahren es nie. Am besten ist es, sie werden meinem Großvater zurückgegeben.«
Danach schwiegen sie eine Weile. Beinahe gedankenlos griff Wil unter den Kittel und nahm den Beutel mit den Elfensteinen heraus. Er wog ihn sinnend in der Hand und wollte ihn eben wieder einstecken, als ihm auffiel, daß die Steine sich irgendwie merkwürdig anfühlten. Stirnrunzelnd öffnete er die Zugschnur und ließ die Steine in seine geöffnete Hand gleiten. Es waren drei gewöhnliche Kieselsteine.
»Wil!« rief Amberle entsetzt.
Wil starrte auf die Kieselsteine wie gelähmt. Er sprach kein Wort, doch seine Gedanken rasten.
»Cephelo«, flüsterte er schließlich. »Cephelo. Irgendwie hat er es geschafft, die Steine zu vertauschen. Heute nacht wahrscheinlich, während ich schlief. Ja, nur da kann es geschehen sein. Am Morgen in Grimpen Ward waren sie noch im Beutel. Da hab’ ich nachgesehen.« Langsam stand er auf, während er immer noch sprach. »Aber heute morgen hab’ ich es vergessen. Ich war so hundemüde gestern abend — und du bist ja praktisch augenblicklich eingeschlafen. Er muß etwas ins Bier gemischt haben, um ganz sicherzugehen, daß ich nicht erwachen würde. Kein Wunder, daß er es so eilig hatte, uns loszuwerden. Kein Wunder, daß er Hebels Warnungen so herunterspielte. Er wäre glückselig, wenn wir nie wieder auftauchen würden. Die Belohnung bedeutete ihm gar nichts. Die Elfensteine wollte er haben. Von Anfang an.«
Leichenblaß im Gesicht, schickte er sich an, den Pfad hinaufzusteigen. Dann fiel ihm plötzlich Amberle ein. Hastig machte er kehrt und hob sie in seine Arme. Das Mädchen fest an sich gedrückt, rannte er stolpernd zum Rand der Senke hinauf. Dort sah er sich kurz um, dann ging er zu einer Gruppe hoher Büsche und Sträucher, die ein paar Schritte abseits vom Pfad stand. Im Schutz der dichtbelaubten Zweige ließ er das Elfenmädchen zur Erde hinunter.
»Ich muß zurück und die Elfensteine holen«, erklärte Wil ruhig. »Kann ich dich hier zurücklassen?«
»Wil, du brauchst die Steine nicht.«
Er hob abwehrend die Hand.
»Wenn wir das nachprüfen wollen, dann möchte ich auf jeden Fall die Steine in meiner Hand halten. Du hast gehört, was der alte Mann über die Senke erzählt hat. Die Steine sind unser einziger Schutz.«
Amberles Gesicht war leichenblaß geworden.
»Cephelo bringt dich um.«
»Vielleicht. Vielleicht ist er inzwischen so weit, daß ich ihn gar nicht mehr einholen kann. Aber ich muß es versuchen, Amberle. Wenn ich ihn bis zum Morgengrauen nicht gefunden habe, dann kehre ich um, das verspreche ich dir. Mit oder ohne die Steine, ich gehe mit dir zusammen in die Senke hinunter.«
Sie wollte noch etwas erwidern, aber dann brach sie ab. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hob die Hände, um sein Gesicht zu berühren.
»Du liegst mir am Herzen«, flüsterte sie. »Wirklich.«
Er sah sie erstaunt an. »Amberle!«
»Geh«, drängte sie ihn mit brüchiger Stimme. »Cephelo hat sicher schon sein Nachtlager aufgeschlagen. Du kannst ihn vielleicht noch einholen, wenn du dich sputest. Aber sei vorsichtig, Wil Ohmsford — gib dein Leben nicht töricht hin. Komm zu mir zurück.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn.
»Geh jetzt. Schnell!«
Noch einen Lidschlag lang blickte er sie wortlos an, dann sprang er durch die Büsche auf den Pfad hinaus. Ohne noch einmal zurückzublicken, lief er los und war nach Sekunden in der Finsternis des Waldes verschwunden.