15

Er erwachte mit den schlimmsten Kopfschmerzen, die er je in seinem Leben gehabt hatte. Das Gefühl, wie ein schlanker Ast in einem wilden Sturm geschüttelt zu werden, riß ihn aus dem Schlaf, und er brauchte mehrere Minuten, um sich bewußt zu werden, daß er sich in einem der Wohnwagen der Fahrensleute befand. Er lag auf einem Strohsack im hinteren Teil des Wagens, die Augen auf ein merkwürdiges Sortiment von Wandbehängen, Seiden- und Spitzenstoffen, Metall- und Holzgeräten gerichtet, die alle mit der Bewegung des holpernden Wagens hin und her schwangen. Ein Strahl hellen Sonnenlichts fiel durch ein angelehntes Fenster, und da wußte er, daß er die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Amberle erschien neben ihm, in den meergrünen Augen einen Ausdruck des Tadels. »Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, wie du dich heute morgen fühlst, wie?« sagte sie. Ihre Worte gingen beinahe unter im Rumpeln der Räder. »Ich hoffe nur, es hat sich gelohnt, Talbewohner.« »Nein.« Sehr langsam und vorsichtig setzte er sich auf. Sein Kopf schmerzte heftig bei der Bewegung. »Wo sind wir?« »In Cephelos Wagen. Seit gestern abend, wenn deine Erinnerung so weit zurückreicht. Ich hab’ ihnen gesagt, du hättest dich noch nicht ganz von einem Fieber erholt, das dich in den letzten Tagen geplagt hat, und es wäre möglich, daß du nicht nur vom Wein berauscht, sondern richtig krank bist. Daraufhin haben sie mich zu dir gelassen, damit ich mich um dich kümmern kann. Hier, trink das.« Sie reichte ihm einen Becher, der mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt war. Wil musterte das Gebräu mißtrauisch. »Trink es«, wiederholte sie energisch. »Es ist ein Kräutersaft, der gut ist, wenn man zuviel Wein getrunken hat. Gewisse Dinge weiß man einfach, da braucht man nicht erst die Heilkunst zu studieren.« Er trank den Saft ohne Widerrede. Und da merkte er plötzlich, daß seine Stiefel weg waren. »Meine Stiefel! Was ist —?« »Still!« warnte sie und deutete hastig zu der kleinen hölzernen Tür im vorderen Teil des Wagens. Wortlos griff sie unter sein Lager und holte die Stiefel hervor. Dann zog sie aus der Schärpe, die sie um die Hüften trug, den kleinen Lederbeutel mit den Elfensteinen. Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung lehnte Wil sich zurück. »Du warst den Festlichkeiten nicht ganz gewachsen«, erklärte sie mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. »Nachdem du das Bewußtsein verloren hattest, ließ Cephelo dich hier in seinen Wagen bringen. Er wollte dich gerade von diesem alten Weib entkleiden lassen, da gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, daß das gefährlich sein könnte. Ich sagte, wenn das Fieber wieder aufgeflammt wäre, dann bestünde die Gefahr der Ansteckung. Außerdem erklärte ich ihm, daß du es als Beleidigung betrachten würdest, wenn man dir einfach deine Kleider wegnähme. Offenbar war ihm die Sache nicht allzu wichtig, denn er warf die Alte hinaus. Nachdem er dann ebenfalls gegangen war, habe ich dich gründlich durchsucht und die Elfensteine gefunden.«

Er nickte beifällig. »Du hast einen klaren Kopf behalten.«

»Was man von dir nicht behaupten kann.« Sie zog spöttisch die Brauen hoch. Dann blickte sie wieder zu der verschlossenen kleinen Tür hinüber. »Cephelo hat das alte Weib nebenan einquartiert, damit sie uns im Auge behalten kann. Ich habe den Eindruck, er ist nicht überzeugt davon, daß er über dich alles weiß, was er wissen möchte.«

Wil beugte sich vor und stützte das Kinn auf seine Hände.

»Das würde mich nicht wundern.«

»Warum sind wir dann immer noch hier — ich meine, jetzt mal abgesehen davon, daß du gestern abend zuviel getrunken hast?« wollte sie wissen. »Warum sind wir eigentlich überhaupt noch hier?«

Er streckte die Hand nach den Elfensteinen aus, und sie gab sie ihm. Er steckte den Lederbeutel wieder in seinen rechten Stiefel und zog beide Stiefel an. Dann bedeutete er ihr, sich näher zu ihm zu neigen.

»Weil wir einen Weg finden müssen, Artaq zurückzubekommen, und das geht nur, wenn wir bei diesen Leuten bleiben«, flüsterte er so laut,daß sie es trotz des Ächzens des Wagens hören konnte. »Und es hat auch noch einen anderen Grund. Die Dämonen, die uns bei Havenstead gejagt haben, halten nach zwei Leuten Ausschau — nicht nach einem ganzen Wagenzug. Vielleicht können wir sie abschütteln, wenn wir mit den Fahrensleuten reisen. Im übrigen führt unser Weg direkt nach Westen, und wir kommen auf diese Weise schneller voran als zu Fuß.«

»Schön. Aber es ist auch gefährlich, mit diesen Fahrensleuten zu reisen, Talbewohner«, entgegnete sie. »Was willst du tun, wenn wir die Wälder von Westland erreichen, und Cephelo sich noch immer weigert, dir Artaq zurückzugeben?«

Er zuckte die Schultern.

»Darüber zerbrech’ ich mir den Kopf, wenn es soweit ist.«

»Immer dasselbe.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du könntest doch wenigstens versuchen, mich ein bißchen mehr einzuweihen als bisher. Es ist nicht gerade beruhigend, sich auf dich verlassen zu müssen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was du planst.«

»Da hast du recht«, stimmte er zu. »Es tut mir leid, daß ich dich gestern abend so völlig im unklaren ließ. Ich hätte dir mehr sagen sollen, bevor wir das Lager betraten, aber ich hatte mir, ehrlich gesagt, gar nicht überlegt, was ich tun wollte. Ich hab’ einfach aus dem Stegreif gehandelt, als wir auf das Lager stießen.«

»Das glaube ich dir«, erwiderte sie stirnrunzelnd.

»Aber ich kann’s dir jetzt erklären«, erbot er sich. »Die Fahrensleute reisen immer in Familien — das weißt du ja bereits. Das Wort ›Familie‹ist etwas irreführend, denn die Mitglieder einer Familie bei den Fahrensleuten sind nicht immer blutsverwandt. Diese Leute verkaufen ihre Frauen und Kinder häufig an andere Lager oder benutzen sie als Tauschobjekte. Persönliches Eigentum in dem Sinn gibt es nicht. Jede Familie hat einen Führer — eine Vaterfigur, die sämtliche Entscheidungen trifft. Die Frauen sind den Männern untergeordnet. Das ist in den Augen der Fahrensleute die natürliche Ordnung der Dinge. Sie sind fest davon überzeugt, daß die Frauen den Männern, die sie schützen und versorgen, dienen und gehorchen müssen. Jeder, der ihr Lager betritt, sollte diese Sitte beachten, wenn er von ihnen willkommen geheißen werden will. Deshalb habe ich zuerst von dem Wasser getrunken. Deshalb habe ich dich allein aufräumen lassen, nachdem wir die Kranken behandelt hatten. Ich wollte sie davon überzeugen, daß ich ihre Sitten verstehe und achte. Ich dachte, dann bestünde eher die Chance, daß sie uns Artaq zurückgeben.«

»Aber es scheint nicht geholfen zu haben«, bemerkte Amberle.

»Nein, noch nicht«, bekannte er. »Aber immerhin haben sie uns gestattet, mit ihnen zu reisen. Normalerweise würden sie so etwas nicht einmal in Erwägung ziehen. Die Fahrensleute haben für Außenseiter nicht viel übrig.«

»Sie haben uns gestattet, mit ihnen zu reisen, weil Cephelo neugierig ist und mehr über dich wissen möchte.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Eretria interessiert sich auch für dich. Sie hat gar keinen Hehl daraus gemacht.«

Er lachte unwillkürlich. »Und du glaubst wohl, daß ich das Trinkgelage und die Tanzerei gestern abend auch noch genossen habe?«

»Wenn du es unbedingt wissen willst — ja, das glaube ich.«

Sie sagte es ohne die Spur eines Lächelns. Wil lehnte sich zurück und hielt sich stöhnend den Kopf.

»Gut, ich gebe zu, daß ich es übertrieben habe. Aber das hatte seinen Grund, ganz gleich, was du denkst. Ich mußte sie glauben machen, daß ich nicht gerissener bin als sie. Wenn sie nämlich den Eindruck bekommen hätten, daß ich sie überlisten will, wären wir jetzt beide tot.

Deshalb habe ich getrunken und getanzt und mich genauso benommen, wie sich jeder Fremde unter den gleichen Umständen benommen hätte — um zu vermeiden, daß sie argwöhnisch werden.« Er zuckte die Schultern. »Für Eretrias Interesse an mir kann ich nichts.«

»Das hab’ ich ja auch gar nicht behauptet.« Sie wurde plötzlich ärgerlich. »Es ist mir völlig gleichgültig, ob Eretria sich für dich interessiert oder nicht. Mir ist nur wichtig, daß du uns nicht beide aus Torheit verrätst.«

Sie sah den Ausdruck der Verwunderung, der über sein Gesicht flog, und errötete.

»Bitte sei vorsichtig, ja?« fügte sie hastig hinzu, nahm ihm dann den leeren Becher aus der Hand und ging auf die andere Seite des Wagens. Wil blickte ihr neugierig nach.

Einen Augenblick später kam sie zurück, wieder kühl und ruhig.

»Noch etwas mußt du wissen. Heute am frühen Morgen begegnete der Wagenzug einem alten Fallensteller, der nach Osten reiste. Er war gerade durch den Tirfing gekommen — das Seengebiet unterhalb vom Mermidon, ehe man die Wälder von Westland erreicht. Er warnte Cephelo. Er sagte, dort triebe ein Teufel sein Unwesen.«

Wil krauste die Stirn.

»Ein Teufel?«

»Er nannte es einen Teufel — das ist ein Name, den die Fahrensleute für ein Wesen gebrauchen, das nicht menschlich ist, ein böses Wesen.« Sie legte eine vielsagende Pause ein. »Es kann sein, daß dieser Teufel einer der Dämonen ist, die die Mauer der Verfemung eingerissen haben.«

»Was sagte denn Cephelo zu diesem Teufel?«

Amberle lächelte schwach. »Er kennt keine Angst vor Teufeln. Er beabsichtigt, dennoch durch den Tirfing zu reisen — er scheint fest entschlossen zu sein. Ich habe die Vermutung, daß er dort Geschäfte abwickeln will, die nicht zulassen, daß er den Tirfing meidet. Der Rest der Familie ist nicht allzu glücklich über seine Entscheidung.«

Wil nickte. »Das kann ich verstehen.«

In stetiger Fahrt rollten die Wagen westwärts bis zum Mittag. Dann machte man kurz Rast, um hastig ein Mittagsmahl zu verzehren. Wil fühlte sich inzwischen viel besser und konnte sogar etwas von dem Dörrfleisch und den Gemüsen essen, aus denen die Mahlzeit bestand. Cephelo erkundigte sich höflich nach seinem Befinden, ließ sich aber nicht auf ein längeres Gespräch ein, sondern entfernte sich bald wieder, in Gedanken offensichtlich bei anderen Dingen. Mit gesenkten Stimmen unterhielten sich die Fahrensleute über den Teufel, der angeblich in Tirfing sein Unwesen treiben sollte, und Wil sah deutlich, daß die Familie recht beunruhigt war über den Bericht des alten Fallenstellers. Fahrensleute waren von Natur aus abergläubisch, und Cephelos Entschluß, eine solche Warnung einfach zu mißachten, fand nicht viel Anklang.

Der Nachmittag verflog rasch. Einmal setzte sich Wil eine Weile auf den Bock des Wagens und lenkte die Pferde, während die alte Frau ruhte. Amberle saß an seiner Seite, während er das Vierergespann im Zug der Wagen über die weite, grasbewachsene Ebene steuerte. Sie summte leise vor sich hin und sprach sehr wenig mit ihm. Wil ließ sie in Frieden, konzentrierte sich auf seine Aufgabe als Wagenlenker, während er sinnend den Blick über die Grenzenlosigkeit der Ebene schweifen ließ. Mehrmals ritt Cephelo auf einem großen Fuchs an ihnen vorüber. Sein waldgrüner Umhang bauschte sich hinter ihm, und auf seinem dunklen Gesicht schimmerte ein dünner Schweißfilm. Einmal erhaschte Wil einen flüchtigen Blick auf Artaq, als die Reservepferde an den Wagen vorbei zu einem Wasserloch irgendwo vor dem Zug getrieben wurden. Der Rappe wurde nicht geritten, es schien, als hätte sich Cephelo noch nicht entschieden, was er mit ihm anfangen wollte.

Eine gute Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie den Tirfing, eine Landschaft kleiner, von lichten Wäldern umgebener Seen. Weit im Westen, unter der rotglühenden Kugel der untergehenden Sonne, dehntensich die dunklen Westlandwälder. Über einen holprigen Trampelpfad, den zahllose Wanderer vor ihnen ausgetreten hatten, wand sich der Zug der Fahrensleute aus der Ebene in das waldreiche Gebiet des Tirfing. Die sengende Hitze, die sie durch das weite Flachland begleitet hatte, blieb hinter ihnen zurück, als sie tiefer in das Grün der Bäume eindrangen, und mit dem Nahen des Abends wurden die Schatten, die vor ihnen auf den Weg fielen, länger. Durch Schneisen in den Wäldern sahen sie hier und dort das silberne Wasser der Seen blitzen, von denen das Land rundherum überzogen war.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, als Cephelo schließlich auf einer großen, von Eichen umfriedeten Lichtung halten ließ. Mehrere hundert Fuß nördlich glitzerte ein kleiner See. Die Wohnwagen formierten sich wie immer zum Kreis, und langsam kamen die holpernden, ächzenden Wagen zum Stehen. Wil war so steif, daß er sich kaum noch bewegen konnte. Während die Männer ausspannten und die Frauen mit den Vorbereitungen zum Nachtmahl begannen, kletterte Wil steifbeinig vom Bock herunter, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Amberle ging in der anderen Richtung davon, er folgte ihr nicht. Statt dessen hinkte er zwischen zwei Wagen hindurch zu den Bäumen, welche die Lichtung umgaben, und machte dort halt, um die schmerzenden Glieder zu strecken und seine Muskeln zu lockern.

Plötzlich hörte er Schritte, und als er sich umwandte, sah er, daß Eretria sich näherte, ihre zierliche Gestalt glitt wie ein Schatten durch das abendliche Zwielicht. Sie trug hohe Stiefel und ein Reitkostüm aus Leder, dazu eine rotseidene Schärpe um die Hüfte. Vom Wind zerzaust fiel ihr das üppige schwarze Haar auf die Schultern. Sie lächelte, als sie zu ihm trat, und ihre dunklen Augen blitzten spitzbübisch.

»Entferne dich nur nicht so weit vom Lager, Wil Ohmsford«, sagte sie. »Sonst läufst du plötzlich einem Teufel in die Arme. Das wäre doch schrecklich.«

»Für den Teufel oder für mich?« gab Wil mit einem Lächeln zurück. »Aber ich habe ohnehin nicht die Absicht, mich allzuweit vom Lager zu entfernen, denn mein Hunger ist viel zu groß.«

Vorsichtig ließ er sich ins hohe Gras nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen der Eichenstämme. Eretria betrachtete ihn ein Weilchen stumm, dann setzte sie sich neben ihn.

»Was hast du denn den ganzen Tag getrieben?« erkundigte sich Wil, nur um etwas zu sagen.

»Ich hab’ dich beobachtet«, antwortete sie und lächelte schalkhaft, als sie den Ausdruck sah, der auf sein Gesicht trat. »Du hast mich natürlich nicht bemerkt. Das solltest du auch nicht.«

Er spürte Unbehagen. »Ja, und warum hast du mich beobachtet?«

»Cephelo wollte es.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Er traut dir nicht über den Weg — und dem Elfenmädchen auch nicht, das angeblich deine Schwester ist.«

Sie blickte ihm jetzt ganz keck ins Gesicht, als wollte sie ihn herausfordern, ihr zu widersprechen. Eine Aufwallung von Panik ergriff Besitz von Wil.

»Amberle ist meine Schwester«, erklärte er so bestimmt, wie er konnte.

Eretria schüttelte den Kopf.

»Sie ist so wenig deine Schwester, wie ich Cephelos Tochter bin. Die Blicke, die sie dir zuwirft, sind nicht die einer Schwester; ihre Augen verraten, daß sie dir etwas anderes ist. Aber mir ist das gleichgültig. Wenn du möchtest, daß sie als deine Schwester gilt, dann soll es so sein. Nur laß dich von Cephelo nicht bei diesem kleinen Spielchen ertappen.«

Wil starrte sie verdutzt an.

»Augenblick«, sagte er. »Was soll das heißen, sie ist so wenig meine Schwester, wie du Cephelos Tochter bist? Er hat doch gesagt, daß du seine Tochter bist, oder nicht?«

»Das was Cephelo sagt, und das, was wahr ist, stimmt nicht unbedingt überein — es stimmt sogar höchst selten überein.« Sie neigte sich ihm ein wenig zu. »Cephelo hat keine Kinder. Er kaufte mich meinem Vater ab, als ich fünf Jahre alt war. Mein Vater war arm und konnte mir nichts bieten. Er hatte noch andere Töchter. Jetzt gehöre ich Cephelo. Aber ich bin nicht seine Tochter.«

Sie erklärte das so sachlich, daß Wil im ersten Moment überhaupt nicht wußte, was er darauf sagen sollte. Sie sah seine Verwirrung und lachte.

»Wir sind Fahrensleute, Wil — du kennst unsere Sitten und Gebräuche. Außerdem hätte es für mich viel schlimmer kommen können. Es hätte mir passieren können, daß ich an einen viel geringeren Mann verkauft worden wäre. Cephelo ist ein Führer; er genießt Achtung und hat einen hohen Rang inne. Das kommt auch mir als seiner Tochter zugute. Ich habe mehr Freiheit in meinem Leben als die meisten Frauen. Und ich habe viel gelernt, Heller. Ich kann es mit den meisten aufnehmen.«

»Das bezweifle ich nicht«, meinte Wil. »Aber warum erzählst du mir das alles?«

Sie schürzte spitzbübisch die Lippen.

»Weil ich dich mag — warum sonst?«

»Das eben möchte ich gern wissen.« Er ignorierte ihren Blick.

Mit einer plötzlichen Bewegung richtete sie sich auf. Ihr Gesicht zeigte Verstimmung.

»Bist du mit diesem Elfenmädchen verheiratet? Ist sie dir versprochen?«

Seine Überraschung war deutlich.

»Nein.«

»Gut.« Die Verstimmung löste sich auf. Das Schalklächeln blitzte wieder in ihrem Gesicht. »Cephelo hat nicht die Absicht, dir dein Pferd zurückzugeben.«

Wil reagierte mit Vorsicht auf diese Behauptung.

»Das weißt du?«

»Ich weiß, wie er ist. Er wird dir das Pferd nicht zurückgeben. Er wirddich deiner Wege gehen lassen, wenn du ihm keinen Ärger machst und nicht versuchst, dir dein Pferd selbst wiederzuholen; aber das Pferd gibt er dir bestimmt nicht zurück.«

Das Gesicht des jungen Mannes war ausdruckslos.

»Ich frage dich noch einmal — warum erzählst du mir das alles?«

»Weil ich dir helfen kann.«

»Und warum solltest du mir helfen wollen?«

»Weil du dafür mir helfen kannst.«

Wil zog die Brauen zusammen.

»Wie?«

Belustigung funkelte in Eretrias dunklen Augen.

»Ich habe den Verdacht, Wil Ohmsford, daß du nicht der harmlose junge Mann bist, für den du dich bei uns ausgegeben hast. Ganz sicher bist du mehr als ein simpler Heilkundiger, der mit seiner Schwester durch die Ebenen von Callahorn reist. Ich habe den Verdacht, daß dieses Elfenmädchen deiner Obhut anvertraut wurde und daß du sie begleitest, um sie zu beschützen.« Eilig hob sie ihre gebräunte Hand, als er etwas entgegnen wollte. »Du brauchst nicht zu leugnen, Heiler — eine Lüge von deinen Lippen wäre an mich verschwendet, denn ich bin die Tochter des größten Lügners der Welt und verstehe mich viel besser als du auf die Kunst des Lügens.«

Sie lächelte und legte eine Hand auf seinen Arm.

»Ich mag dich, Wil — das ist keine Lüge. Ich möchte gern, daß du das Pferd zurückbekommst. Es ist dir offensichtlich wichtig, es zurück zu erhalten, sonst wärst du uns nicht gefolgt. Allein aber wird es dir nicht gelingen, dir dein Pferd zurück zu holen. Doch ich könnte dir helfen.«

Zweifel spiegelten sich in Wils Miene.

»Warum würdest du das tun?« fragte er.

»Wenn ich dir helfe, dein Pferd wieder zu bekommen, dann sollst du mich mitnehmen, wenn du von hier fortgehst.«

»Was!«

»Ich möchte, daß du mich mitnimmst«, wiederholte sie mit Entschiedenheit.

»Das kann ich nicht!«

»Du kannst es, wenn du dein Pferd zurückhaben möchtest.«

Hilflos schüttelte er den Kopf.

»Warum möchtest du fort von hier? Du hast mir doch eben erzählt, daß —«

»Das alles gehört der Vergangenheit an«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort. »Cephelo ist der Meinung, daß es für mich an der Zeit ist zu heiraten. Nach alter Tradition wird er mir meinen Ehemann aussuchen und mich ihm gegen die Bezahlung eines Preises übergeben. Mein Leben bisher war gut, aber ich habe nicht die Absicht, mich ein zweites Mal verkaufen zu lassen.«

»Könntest du denn nicht einfach allein fortgehen? Du scheinst mir dazu imstande.«

»Ich kann noch viel mehr schaffen, wenn es darauf ankommen sollte, Heiler. Das ist der Grund, weshalb du mich brauchst. Wenn du dir dein Pferd wieder holst — und ich bezweifle, daß du das ohne meine Hilfe fertigbringst —, werden die Fahrensleute dir nachjagen. Da du auf jeden Fall verfolgt werden wirst, ist es für dich keine zusätzliche Belastung, außer dem Pferd auch mich mitzunehmen — insbesondere, da ich die Fahrensleute so gut kenne, daß ich dir die nötigen Kniffe verraten kann, ihnen zu entkommen.«

Wil zuckte die Schultern.

»Ich habe natürlich daran gedacht, allein fortzugehen. Wenn ich keine andere Wahl hätte, würde ich es auch tun. Es wäre immer noch besser als verkauft zu werden. Aber wohin sollte ich gehen? Fahrensleute sind nirgends willkommen, und ich bin nun mal eine von ihnen, ob es mir gefällt oder nicht. Auf mich selbst gestellt mußte ich das Leben einer Ausgestoßenen führen, und das wäre sicherlich nicht angenehm. Mit dir aber würde ich bei den anderen Rassen Aufnahme finden; du bist ein Heiler und genießt Achtung. Ich könnte sogar mit dir reisen. Ich könnte dir bei der Behandlung der Kranken zur Hand gehen. Du würdest schon sehen, daß ich —«

»Eretria«, unterbrach Wil sanft. »Es ist sinnlos, das zu erörtern. Ich kann dich nicht mitnehmen. Ich kann niemanden außer Amberle mitnehmen.«

Ihr Gesicht verdunkelte sich.

»Nicht so hastig, Heiler. Deine Verachtung für mich —«

»Mit Verachtung hat das nichts zu tun«, fiel er ihr ins Wort, während er überlegte, wieviel er ihr sagen konnte. Nicht sehr viel, das war ihm schnell klar. »Hör mir zu, Eretria. Es wäre gefährlich für dich, jetzt mit mir zu reisen. Wenn ich von hier verschwinde, wird Cephelon nicht der einzige sein, der mich sucht. Andere haben es auf mich abgesehen, die viel gefährlicher sind als er. Sie suchen auch jetzt in diesem Moment nach meiner Spur. Wenn ich dich mitnähme, wärst du keinen Moment sicher.«

»Aber das Elfenmädchen reist doch mit dir«, beharrte sie.

»Amberle reist mit mir, weil sie muß.«

»Worte! Ich glaube ihnen nicht. Du wirst mich mitnehmen, Wil Ohmsford. Du wirst mich mitnehmen, weil du mußt.«

Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht tun.«

Mit einer heftigen Bewegung stand sie auf. Das schöne Gesicht war zornig, in den Augen blitzte eigensinnige Entschlossenheit.

»Du wirst es dir schon noch anders überlegen, Heiler. Der Moment wird kommen, wo dir keine Wahl bleibt.«

Sie machte kehrt und stapfte wütend davon. In einiger Entfernung von ihm blieb sie plötzlich stehen und blickte zurück. Ihre schwarzen Augen sahen ihn eindringlich an, und auf ihrem dunklen Gesicht breitete sich plötzlich dieses wundersame, strahlende Lächeln aus.

»Ich bin dir bestimmt, Wil Ohmsford«, rief sie.

Einen Moment noch hielt sie seinen Blick fest, dann wandte sie sich ab und setzte ihren Weg zurück ins Lager fort. Mit Verwunderung blickte Wil Ohmsford ihr nach.

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