13

Als Wil Ohmsford wieder erwachte, graute der Morgen. Er lag in einem grasbewachsenen Tal unter den schützenden Ästen eines Ahorns. In langen schrägen Strahlen fiel das Morgenlicht durch das üppige Wachstum breiter Blätterbänder. Aus der Nähe war das gedämpfte Plätschern von Wasser zu hören, das gegen ein Ufer anschlägt. Einen Herzschlag lang glaubte er sich noch in dem wundersamen Garten seiner Träume, richtete sich mit einem Ruck auf und blickte sich um. Der Garten war nicht mehr da. Neben ihm lag Amberle, noch immer schlafend. Er zögerte, doch dann beugte er sich über sie und rüttelte sie sachte an der Schulter. Sie regte sich und schlug die Augen auf. Verwundert blickte sie ihn an. »Wie geht es dir?« fragte er. »Gut. Wo sind wir?« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Wil schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Das Elfenmädchen setzte sich langsam auf und sah sich in dem kleinen Tal um. »Wo ist Allanon?« »Auch das weiß ich nicht.« Wil streckte versuchsweise die Beine und stellte mit Überraschung fest, daß die Muskeln locker und weich waren. »Er ist weg. Sie sind alle weg — Allanon, diese Ungeheuer…« Er verstummte, als er vom Unterholz am anderen Ende des Tales her Geräusche wahrnahm. Ein vertrautes schwarzes Gesicht schob sich durch das Blättergewirr. Wil lächelte. »Nun, wenigstens haben wir Artaq noch.«

Der Rappe zupfte träge ein paar Grashalme und trottete zu Wil hinüber, um ihn sacht mit der Schnauze anzustupsen. Wil streichelte flüchtig den schmalen Kopf und kraulte das Tier hinter den Ohren. Amberle saß schweigend dabei.

»Hast du den alten Mann gesehen?« fragte Wil sie.

Sie nickte ernst. »Das war der König vom Silberfluß.«

Wil sah sie an.

»Das dachte ich mir. Mein Großvater hat ihn einmal gesehen, Vor Jahren. Ich war mir eigentlich bis heute nicht sicher, ob es ihn wirklich gibt. Merkwürdig.« Artaq entfernte sich ein paar Schritte und begann zu grasen. Wil schüttelte den Kopf. »Er hat uns das Leben gerettet. Die Dämonen-Wölfe hätten uns beinahe eingeholt.« Er bemerkte den Ausdruck, der in die Augen des Elfenmädchens trat, und brach ab. »Jedenfalls sind wir jetzt sicher.«

»Es war wie im Traum, nicht wahr?« meinte sie leise. »Wir schwebten im Licht. Wir saßen auf Artaq und rundherum gleißte nur das Licht. Dann kam er auf uns zu. Er kam aus dem Nichts und sagte etwas …« Sie verstummte, als verwirre die Erinnerung sie. »Hast du es gesehen?«

Wil nickte.

»Und dann verschwand er«, fuhr sie wie zu sich selbst fort, als wolle sie sich ins Gedächtnis zurückrufen, was geschehen war. »Er verschwand, und das Licht erlosch — und dann — und dann …« Sie blickte ihn fragend an.

»Der Garten?« fragte er. »Hast du den Garten gesehen?«

»Nein.« Sie zögerte. »Nein, ich habe keinen Garten gesehen. Um mich herrschte nur Dunkelheit, und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Ich — es war wie eine Sehnsucht — ein nach etwas greifen wollen, glaube ich.« Sie blickte ihn hilfesuchend an, doch Wil stand nur Verwirrung im Gesicht. »Du hast neben mir gestanden«, fuhr sie fort. »Du hast neben mir gestanden, aber du konntest mich nicht sehen. Ich habe dir zugerufen, aber es hatte den Anschein, als könntest du mich nicht hören. Es war so sonderbar.«

Wil krümmte die Schultern und beugte sich vor.

»Ich erinnere mich an den alten Mann und das Licht. Genauso, wie du es beschrieben hast. Ja, daran erinnere ich mich. Als der alte Mann und das Licht vergingen, schlief ich ein. Zumindest hatte ich das Gefühl einzuschlafen. Ich saß immer noch auf Artaq, und du warst hinter mir. Ich spürte deine Arme um meinen Körper. Dann stand ich plötzlich in einem Garten, wie ich noch keinen gesehen hatte. Er war wunderschön, und so friedlich und ruhig. Aber als ich mich nach dir umsah, warst du nicht mehr da. Du warst verschwunden.«

Wortlos blickten sie einander an.

»Ich glaube, wir versuchen jetzt am besten, erst mal festzustellen, wo wir eigentlich sind«, meinte Wil schließlich.

Er stand auf und sah sich wieder um. Verspätet fiel es ihm ein, daß er Amberle aufhelfen könnte, doch da stand sie schon neben ihm und zupfte sich Blätter und Gras aus dem Haar. Er zauderte einen Augenblick, dann schritt er voraus durch das Dickicht von Bäumen und Büschen, dem Plätschern des Wassers nach.

Wenig später standen sie am Ufer eines Sees, der so groß war, daß sein Wasser sich am Horizont zu verlieren schien. Tiefblau und klar dehnte sich das Gewässer in der Morgensonne. Hier und dort blitzten silberne Schaumkronen auf. Bäume säumten die grasbewachsenen Ufer, Weiden, Ulmen und Eschen, und ihre Blätter kräuselten sich in einem sanften Südwind, der den Duft von Jelängerjelieber und Azaleen heranwehte. Am wolkenlosen Himmel, der den See überspannte, wölbte sich ein flimmerndes Band vieler Farben, das vom einen Ende des Horizonts zum anderen zu reichen schien.

Wil blickte zur Sonne, dann wandte er sich mit einem ungläubigen Kopfschütteln an Amberle.

»Weißt du, wo wir sind? Irgendwo am Nordufer des Regenbogen-Sees. Der alte Mann hat uns den ganzen Silberfluß hinuntergetragen und dann noch über den See bis hierher. Wir sind meilenweit von unserem Ausgangspunkt entfernt.«

Amberle nickte beinahe zerstreut.

»Ich glaube, du hast recht.«

»Ich weiß, daß ich recht habe.« Wil wanderte erregt auf und ab und blieb schließlich direkt am Wasser stehen. »Ich möchte nur wissen, wie er das geschafft hat.«

Amberle hockte sich ins Gras und blickte auf den See hinaus.

»Die Legende berichtet, daß er denen hilft, die der Hilfe bedürfen, wenn sie sein Land durchreisen — daß er sie beschützt und behütet.« Sie schwieg, ihre Gedanken schienen woanders zu weilen. »Er hat etwas zu mir gesagt… Wenn ich mich nur erinnern könnte, was es war…«

Wil hörte ihr nicht zu.

»Wir sollten uns auf den Weg machen. Arborlon ist weit. Aber wenn wir in nordwestlicher Richtung reiten, mußten wir eigentlich auf den Mermidon stoßen, und dem können wir dann direkt bis in das Westland folgen. Da ist das Land zwar weit und offen, aber so leicht wird man uns jetzt nicht mehr finden. Wir haben keine Spur hinterlassen.«

Die Verstimmung, die über Amberles Gesicht huschte, bemerkte er garnicht, so beschäftigt war er mit seinen Überlegungen.

»Ich denke, wir werden ungefähr vier Tage brauchen — vielleicht auch fünf, da wir ja zu zweit nur ein Pferd haben. Wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht unterwegs noch eines, aber das ist wahrscheinlich ein bißchen viel verlangt. Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir eine Waffe hätten; wir haben ja nicht einmal einen Jagdbogen. Da wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als von den Früchten des Feldes zu leben. Wir könnten natürlich —«

Er brach ab, als er plötzlich gewahrte, daß Amberle unmutig den Kopf schüttelte. Das Elfenmädchen kreuzte die Beine und lehnte sich an einen Baumstamm.

»Was ist?« fragte er und ließ sich auf dem Platz neben ihr nieder. »Mißfällt dir etwas?«

»Ja, du zum Beispiel.«

»Ich? Wie meinst du das?«

»Du scheinst bereits fest beschlossen zu haben, wie es weitergehen soll. Findest du nicht, du solltest dir vielleicht auch meine Überlegungen zu der Frage anhören?«

Höchst erstaunt starrte Wil sie an.

»Aber natürlich. Ich —«

»Ich habe nicht bemerkt, daß du mich um meine Meinung gefragt hast«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu achten. »Hältst du es für überflüssig zu fragen?«

Wil lief vor Scham rot an, »Entschuldige. Ich habe nur —«

»Du hast nur Entscheidungen getroffen, die zu treffen du gar kein Recht hast.« Sie machte eine Pause und betrachtete ihn kühl. »Ich weiß nicht einmal, was du hier tust. Der einzige Grund, weshalb ich überhaupt bis hierher mitgekommen bin, ist der, daß mir im Grund keine Wahl gelassen wurde. Ich finde es an der Zeit, mir über einige Punkte Gewißheit zu verschaffen. Warum hat Allanon dich überhaupt damit beauftragt, Wil Ohmsford? Wer bist du?«

Wil stand ihr Rede und Antwort. Er begann mit der Geschichte seines Großvaters, Shea Ohmsford, und der Suche nach dem Schwert von Shannara, und er endete mit Allanons Auftauchen in Storlock und seinem Begehren, er — Wil Ohmsford — solle den Elfen bei der Suche nach dem Blutfeuer helfen. Er erzählte ihr alles, verschwieg nichts, da er spürte, daß das Mädchen sich weigern würde, weiter in seiner Gesellschaft zu bleiben, wenn er ihr gegenüber nicht völlig ehrlich war.

Als er geendet hatte, blickte Amberle ihn stumm an und schüttelte dann den Kopf.

»Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll. Wahrscheinlich doch. Ich habe eigentlich keinen Grund, es nicht zu tun. Aber es ist einfach so viel geschehen, daß ich jetzt vollkommen unsicher bin.« Sie zögerte. »Ich habe von den Elfensteinen gehört. Sie waren ein altes Zaubermittel, von dem es hieß, es sei lange vor den Großen Kriegen verlorengegangen. Und du behauptest nun, Allanon hätte drei von ihnen deinem Großvater gegeben, und der wiederum hätte sie dir geschenkt. Wenn dem so wäre…« Sie verstummte, den Blick forschend auf Wil gerichtet. »Würdest du sie mir zeigen?« fragte sie dann.

Wil zögerte, dann griff er in seinen Kittel. Er wußte, daß sie ihn auf die Probe stellen wollte. Aber, sagte er sich, dazu hatte sie wohl auch ein Recht. Schließlich stand ja nur sein Wort dafür, daß seine Erklärungen der Wahrheit entsprachen, und von ihr wurde verlangt, daß sie ihre Sicherheit in seine Hände legte. Er zog den abgegriffenen Lederbeutel heraus, lockerte die Zugschnüre und schüttete die Steine in seine Hand. Sie waren von vollendeter Form. Leuchtend blau glänzten sie im morgendlichen Sonnenlicht.

Amberle neigte sich tief über sie und betrachtete sie mit feierlichem Ernst. Dann richtete sie den Blick wieder auf Wil.

»Woher weißt du, daß es die Elfensteine sind?«

»Ich habe darauf das Wort meines Großvaters. Und Allanons.«

Sie schien nicht beeindruckt.

»Kannst du dich ihrer denn bedienen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe es nie versucht.«

»Dann weißt du also in Wirklichkeit gar nicht, ob sie dir nützen oder nicht.« Sie lachte leise. »Das wirst du erst erfahren, wenn du sie brauchst. Kein sehr beruhigender Gedanke, nicht?«

»Nein«, stimmte er zu.

»Aber trotzdem bist du mitgekommen.«

Er zuckte die Schultern.

»Es erschien mir richtig.« Er ließ die Elfensteine wieder in den Beutel gleiten und steckte ihn in die Tasche seines Kittels zurück. »Mir wird nichts anderes übrigbleiben als abzuwarten, was geschieht, wenn es soweit ist.«

Einen Lidschlag lang musterte sie ihn aufmerksam, ohne etwas zu sagen. Wil schwieg.

»Wir haben vieles gemeinsam, Wil Ohmsford«, erklärte sie schließlich. Sie umschlang ihre Beine mit den Armen. »Nun hast du mir kundgetan, wer du bist. Dann hast du wohl ein Recht darauf auch zu erfahren, wer ich bin. Mein Familienname lautet Elessedil. Eventine Elessedil ist mein Großvater. In gewisser Weise sind wir beide durch unsere Großväter in diese Sache hineingeraten.«

Wil nickte. »Ja, das ist wohl wahr.«

Der Wind faßte ihr kastanienbraunes Haar und blies es wie einen Schleier über ihr Gesicht. Sie strich es sich aus den Augen und blickte wieder über den See.

»Du weißt, daß ich nicht nach Arborlon zurückkehren möchte«, sagte sie.

»Ja, ich weiß es.«

»Aber du bist der Meinung, daß ich dorthin gehen sollte, nicht wahr?«

Er lehnte sich zurück und stützte sich auf seine Ellbogen und blickte zu dem Regenbogen am Himmel auf.

»Ich glaube, daß du dorthin gehen mußt«, erwiderte er. »Nach Havenstead kannst du nicht zurück; dort suchen dich die Dämonen. Bald werden sie dich auch hier suchen. Du mußt weiter. Wenn Allanon entkommen ist…» Er unterbrach sich, als ihm die Bedeutung dieser vier Worte klar wurde. »Wenn Allanon entkommen ist«, fuhr er dann fort, »wird er damit rechnen, daß wir nach Arborlon weiterreiten, und dort werden wir auf ihn stoßen.« Er senkte den Kopf und sah sie an. »Wenn du bessere Vorschläge hast, dann lasse sie hören.«

Lange Zeit antwortete sie nicht, sondern starrte wortlos auf den Regenbogen-See hinaus, vertieft in die anmutige Bewegung des Wassers. Als sie endlich doch den Mund öffnete, war es nur ein Flüstern.

»Ich habe Angst.«

Jetzt erst sah sie ihn an. Es schien, als wollte sie noch etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. Sie lächelte — das erste echte Lächeln, das er bei ihr bemerkte.

»Hm, wir sind zwei ausgemachte Narren, nicht wahr? Du mit deinen Elfensteinen, von denen du gar nicht weißt, ob sie überhaupt echt sind, und ich auf dem Weg dorthin, wohin ich niemals in meinem Leben zurückkehren wollte.«

Sie stand auf und tat ein paar Schritte. Als er sich ebenfalls erhob, wandte sie sich ihm zu. »Eines sollst du wissen: Ich halte diese Reise nach Arborlon für sinnlos. Ich glaube, daß Allanon sich täuscht. Weder der Ellcrys noch das Elfenvolk werden mich wieder aufnehmen; denn ich bin keine Erwählte mehr, ganz gleich, was der Druide meint. Aber etwas anderes zu tun, hätte wohl auch nicht viel Sinn, wie?«

»In meinen Augen nicht.«

Sie nickte. »Dann ist es abgemacht.« Das kindliche Gesicht war ernst, als sie ihn ansah. »Ich hoffe nur, daß alles nicht ein großer Irrtum ist.«

Wil seufzte. »Wenn es das ist, werden wir es wahrscheinlich bald genug erfahren.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Komm, holen wir Artaq und reiten wir los. Dann wird es sich schon zeigen.«

Zwei Tage lang ritten sie nun in nord-westlicher Richtung durch das weite Grasland von Callahorn. Das Wetter war warm und trocken, und die Zeit flog schnell dahin. Gegen Mittag des ersten Tages ballten sich im Norden über den scharf zackigen Felsgipfeln der Drachenzähne drohende Gewitterwolken zusammen, doch bei Sonnenuntergang hatten frische Winde sie nach Osten zur Rabb-Ebene getrieben und endgültig verjagt.

Wil und Amberle suchten Artaq zu schonen, indem sie abwechselnd zu Fuß gingen oder beide zusammen auf ihm ritten. Artaq wirkte auch noch frisch, nachdem er sie mehrere Stunden getragen hatte, aber Wil wollte auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Von den Dämonen, die sie am Silberfluß abgeschüttelt hatten, sahen sie keine Spur, doch sie zweifelten nicht daran, daß die Ungeheuer weiterhin nach ihnen auf der Suche waren. Und wenn sie ihnen erneut auf die Spur kommen sollten, dann mußte Artaq bei Kräften sein.

Da sie außer einem kleinen Jagdmesser, das Wil im Gürtel trug, keine Waffen besaßen, mußten sie sich von Früchten und Kräutern nähren, die in der weiten, grasigen Ebene wild wuchsen.

In der ersten Nacht schliefen sie unter einer Gruppe von Balsampappeln, dicht gelegen an einer kleinen Quelle, die ihnen frisches Trinkwasser spendete. Am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie den Mermidon und folgten seinem Lauf in nördlicher Richtung. Bisher waren sie keiner Menschenseele begegnet, doch nun stießen sie auf ein halbes Dutzend Reisender, von denen einige zu Fuß unterwegs waren, andere zu Pferd. Alle tauschten sie ein freundliches Wort und ein Winken mit ihnen, bevor sie ihre Reise fortsetzten.

Bei Sonnenuntergang schlugen sie am Ufer des Mermidon im Schutz eines Wäldchens aus Föhren und Weiden ihr Lager auf. Sie befanden sich nun südwestlich der Stadt Tyrsis. Aus einer Weidengerte, einem Stück Schnur und einem Haken seines Umhangs fertigte Wil eine Angel, und eine halbe Stunde später hatte er tatsächlich zwei Barsche gefangen. Er hockte noch am Flußufer und schuppte die Fische, als aus Süden ein Wagenzug in Sicht kam, der gemächlich zum anderen Ufer hin in Bewegung war. Hell blitzten die hübsch bemalten Häuser auf Rädern mit ihren Spitzdächern aus Holzschindeln, die handgeschnitzten Holztüren und messingverzierten Fensterrahmen in der Abendsonne. Die Wohnwagen wurden von kräftigen Pferden gezogen, auf deren Geschirr Silberbeschläge funkelten. Mehrere Reiter begleiteten den Zug. Sicher und anmutig saßen sie in ihren seidenen Umhängen in den Sätteln ihrer Pferde, von deren Zügeln wehende bunte Bänder herabhingen.

Unwillkürlich hielt Wil in seiner Arbeit inne und beobachtete den seltsamen Zug, der sich dem Flußufer näherte. Achsen stöhnten, Lederriemen knarrten, laute Rufe der Aufmunterung schallten durch die Stille. Beinahe gegenüber von der Stelle, wo Wil saß, bildeten die Wagen einen Kreis und hielten an. Männer, Frauen und Kinder kletterten heraus und machten sich daran, die Pferde auszuspannen.

Aus den Bäumen hinter Wil tauchte Amberle auf und kam näher. Wil warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu und sah dann wieder zum anderen Ufer hinüber.

»Fahrendes Volk«, meinte er nachdenklich.

Sie nickte. »Ich weiß. Die Elfen haben für diese Leute nicht viel übrig.«

»Niemand hat für sie viel übrig.« Er machte sich wieder über das Schuppen der Fische. »Sie stehlen alles, was nicht niet- und nagelfest ist oder beschwatzen einen mit solcher Beharrlichkeit, bis man es ihnen freiwillig gibt. Sie haben ihre eigenen Gesetze und geben nichts auf die anderer.«

Amberle berührte seinen Arm. Er blickte auf und sah einen hochgewachsenen Mann, der unter einem waldgrünen Umhang ganz in Schwarz gekleidet war. Er begleitete zwei ältere Frauen in langen bunten Röcken und Blusen zum Wasser hinunter. Als die Frauen sich bückten, um ihre Eimer zu füllen, lüftete der Mann seinen breitkrempigen Hut und verneigte sich mit schwungvoller Bewegung zu Wil und Amberle hin. Auf dem dunkel-gebräunten Gesicht mit dem schwarzen Bart blitzte ein breites Lächeln. Wil hob einen Arm und winkte freundlich zurück.

»Ich bin nur froh, daß sie nicht auf unserer Seite sind«, bemerkte er zu Amberle, als sie aufstanden, um zu ihrem Lager zurückzukehren.

Nach dem Mahl mit Fisch, Gemüse, Obst und Quellwasser ließen sie sich am Feuer nieder und blickten zwischen den Bäumen hindurch zu den lodernden Feuern der Fahrensleute am anderen Ufer hinüber. Lange schwiegen sie beide, jeder in seine Gedanken vertieft. Dann sah Wil Amberle an.

»Wie kommt es, daß du so viel über das Wesen und das Wachstum von Pflanzen weißt? Hat jemand dich das alles gelehrt?«

Überraschung flog über ihre Züge.

»Dafür, daß du Elfenblut in deinen Adern hast, weißt du wahrhaftig nicht viel von uns, wie?«

Wil zuckte die Schultern.

»Nein, eigentlich nicht. Das Elfenblut hab’ ich von meinem Vater, und der starb, als ich noch sehr jung war. Ich glaube nicht, daß mein Großvater je im Westland war — zumindest spricht er nie davon. Ich habe wahrscheinlich einfach nie viel darüber nachgedacht, was es bedeutet, mit Elfenblut geboren worden zu sein.«

»Darüber hättest du aber nachdenken sollen«, versetzte sie leise, und ihre grünen Augen sahen ihn an. »Wenn wir verstehen wollen, wer wir sind, müssen wir erst verstehen, wer wir waren.«

Die Worte klangen vorwurfsvoll. Doch der Vorwurf galt nicht Wil, sondern eher Amberle selbst. Wil verspürte ein plötzliches Verlangen, mehr über dieses Mädchen zu erfahren, sie irgendwie dazu zu bewegen, sich ihm wenigstens ein klein wenig zu öffnen.

»Vielleicht könntest du mir helfen, das zu verstehen«, meinte er nachdenklich.

Augenblicklich verdunkelte Zweifel ihre Augen. Es war beinahe so, als glaubte sie, er wolle sie zum Narren halten. Lange zauderte sie, ehe sie ihm antwortete.

»Also gut, ja, vielleicht kann ich es.« Sie wandte sich zu ihm um, so daß sie ihm ins Gesicht blicken konnte. »Als erstes mußt du folgendeswissen: Die Elfen sind der Überzeugung, daß die Erhaltung der Erde und aller Wesen, die auf ihr leben, Tiere wie Pflanzen, eine moralische Verpflichtung ist. Diese Überzeugung hat vor allem anderen ihr Verhalten als Geschöpfe dieser Erde bestimmt. In der alten Welt widmeten sie ihr ganzes Leben der Pflege der Wälder, in denen sie lebten, kümmerten sich um die Pflanzen aller Art, die in ihnen gediehen, und um die Tiere, die in ihnen hausten. Damals gab es natürlich kaum andere Aufgaben, derer sie sich annehmen mußten, denn sie lebten ja völlig abgeschieden wie Einsiedler. Das ist jetzt anders, aber die Elfen halten auch heute an der Überzeugung fest, daß sie für den Zustand ihrer Welt die moralische Verantwortung tragen. Von jedem Elf wird erwartet, daß er einen Teil seines Lebens dem Bemühen widmet, der Erde etwas von dem zurückzugeben, was er von ihr bekommen hat. Das soll heißen, es wird von jedem Elf erwartet, daß er einen Teil seines Lebens dafür gibt, zum Wohl der Erde zu arbeiten — sei es, daß er Schäden beheben hilft, die durch Mißbrauch oder Vernachlässigung entstanden sind, sei es, daß er sich der Tiere annimmt oder der Bäume und anderen Pflanzen, die Pflege und Fürsorge brauchen.«

»Und das hast du in Havenstead getan?«

Sie nickte. »In gewisser Weise. Die Erwählten sind von diesem Dienst an der Erde befreit. Als ich nicht mehr zu den Erwählten gehörte und in meiner Heimat nicht mehr willkommen war, beschloß ich, der Erde zu dienen. Die meisten Elfen suchen sich ihre Aufgaben im Westland, weil das ihr Heimatland ist. Wir sind aber der Meinung, daß die Sorge um die Erde in der Verantwortung aller Menschen liegt. Bis zu einem gewissen Grad teilen die Zwerge unser Interesse, aber die anderen Rassen haben sich immer ziemlich gleichgültig gezeigt. Deshalb ziehen manche Elfen aus dem Westland in andere Gemeinden und versuchen, den Menschen, die dort leben, ihre Verantwortlichkeit für die Pflege und Erhaltung ihres Landes begreiflich zu machen. Ich habe das in Havenstead versucht.«

»Und zu diesem Zweck hast du mit den Kindern des Dorfes gearbeitet«, bemerkte Wil.

»In erster Linie mit den Kindern, denn die Kinder sind offener für das, was ich lehre, und haben Zeit zu lernen. Ich erhielt meinen Unterricht im Umgang mit der Erde, als ich noch ein Kind war; so ist das bei uns Elfen. Ich verstand es besser als die meisten, das Gelernte umzusetzen — ich vermute, das ist einer der Gründe, warum ich erwählt wurde. Der Ellcrys hat Gespür für so etwas. Er besitzt die Fähigkeit —«

Es war, als ertappe sich Amberle mitten in einem Gedanken, den sie nicht weiterverfolgen wollte. Abrupt brach sie ab und zuckte die Schultern.

»Jedenfalls verstand ich es mit den Kindern von Havenstead sehr gut, und die Leute im Dorf waren nett zu mir. Havenstead war mein Zuhause, und ich wollte nicht fort.«

Sie senkte den Blick auf das Feuer zwischen ihnen. Wil schwieg, legte nur ein paar frische Zweige auf. Nach einer Weile sah Amberle wieder zu ihm auf.

»So, jetzt weißt du ein wenig über die Beziehung der Elfen zur Erde. Sie ist ein Teil deines Erbes, deshalb solltest du versuchen, sie zu verstehen.«

»Ich glaube, ich verstehe sie schon«, erwiderte Wil nachdenklich. »Zumindest teilweise. Zwar wurde ich nicht nach Elfenart unterwiesen, aber ich habe bei den Stors die Heilkunst erlernt. Ihr Interesse am menschlichen Leben hat viel Ähnlichkeit mit dem Interesse der Elfen am Wohlbefinden der Erde. Ein Heilkundiger muß tun, was in seiner Macht steht, um das Leben und die Gesundheit der Menschen zu erhalten, die er behandelt. Das ist eine Verpflichtung, die ich eingegangen bin, als ich mich entschloß, ein Heilkundiger zu werden.«

Das Elfenmädchen musterte ihn mit neugierigem Blick.

»Irgendwie finde ich es darum um so sonderbarer, daß Allanon dich überreden konnte, mich zu begleiten. Du bist ein Heilkundiger, der sich der Erhaltung des Lebens verpflichtet hat. Was willst du tun, wenn du in eine Situation gerätst, in der du anderen Schaden antun, sie vielleicht sogar töten mußt, um mich zu schützen?«

Wil starrte sie wortlos an. Er hatte die Möglichkeit, daß es sich so zutragen könnte, nie in Erwägung gezogen. Als er ihr jetzt ins Gesicht blickte, verspürte er ein unbehagliches Gefühl des Zweifels.

»Ich weiß nicht, was ich dann tun werde«, bekannte er voll Unsicherheit.

Danach schwiegen sie beide lange. Über das Feuer hinweg sahen sie einander an und waren nicht fähig, die Befangenheit des Augenblicks zu verdrängen. Dann aber stand Amberle unvermittelt auf, ging zu Wil hinüber und setzte sich neben ihn. Impulsiv ergriff sie seine Hand.

»Die Frage war nicht fair, Wil Ohmsford. Es tut mir leid, daß ich sie gestellt habe. Du hast dich bereit gefunden, mich auf dieser Reise zu begleiten, weil du glaubtest, du könntest mir helfen. Es ist unrecht von mir, daran zu zweifeln, daß du es tun würdest.«

»Die Frage war berechtigt«, widersprach Wil, »aber ich weiß eben keine Antwort darauf.«

»Das ist auch gar nicht nötig«, meinte sie. »Gerade ich mußte eigentlich wissen, daß es Entscheidungen gibt, die nicht im voraus getroffen werden können. Wir können nicht immer voraussehen, wie die Dinge sich entwickeln werden, und wir können daher auch nicht vorausplanen, wie wir handeln werden. Damit müssen wir uns abfinden. Die Frage war wirklich nicht in Ordnung. Ebensogut könntest du mich fragen, was ich tun werde, wenn der Ellcrys mir eröffnet, daß ich noch immer eine Erwählte bin.«

Wil lächelte schwach. »Vorsichtig! Ich bin in Versuchung, dir genau diese Frage zu stellen.«

Augenblicklich ließ sie seine Hand los und stand auf.

»Tu es nicht. Die Antwort, die ich dir gäbe, würde dir nicht behagen.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du glaubst, ich stehe vor einer einfachen Entscheidung. Aber du irrst dich.«

Sie kehrte auf die andere Seite des Feuers zurück und breitete ihren Umhang auf dem Boden aus. Bevor sie sich in ihn einwickelte, drehte sie sich noch einmal nach ihm um.

»Glaub mir, Wil Ohmsford, wenn diese Entscheidungen wirklich notwendig werden sollten, dann wirst du es leichter haben als ich.«

Sie senkte den Kopf in die Falten ihres Umhangs und war Augenblicke später eingeschlafen. Wil starrte grüblerisch ins Feuer. Er konnte es nicht erklären, aber er glaubte ihr.

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