Es war am Abend des folgenden Tages. Die Schatten über der Waldstadt Arborlon wurden länger, und graues Zwielicht verdunkelte sich langsam zur Nacht. Eventine Elessedil saß allein in der Abgeschiedenheit seines Studierzimmers, vor sich eine von Gael aufgestellte Liste aller jener Angelegenheiten, die am folgenden Morgen erledigt werden sollten. Müdigkeit zeichnete sein Gesicht, und seine Augen blinzelten matt in das Licht der Öllampe, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Es war still in diesem Zimmer, in dem der hochbeugte König der Elfen in die Tiefe seiner Gedanken eintauchte. Er warf einen Blick zu Manx hinüber, der in tiefem Schlummer vor einem Bücherregal lag. Die ergrauenden Flanken des Wolfshundes hoben und senkten sich in gleichmäßigem Rhythmus, während er mit einem seltsamen dünnen Winseln den Atem durch die Nase stieß. Eventine lächelte. Getreuer alter Hund, dachte er, dich flieht der Schlaf nicht, dir wird er Nacht um Nacht geschenkt, tief und traumlos und ohne Sorgen. Er schüttelte den Kopf. Viel hätte er darum gegeben, nur eine einzige Nacht ungestörten Schlafs genießen zu können. Er fand kaum noch Ruhe. Alpträume bedrängten seinen Schlaf-Alpträume, die Verzerrungen der bedrückenden Realität seiner wachen Stunden waren. Sie quälten und peinigten ihn, schlichen sich boshaft in seinen Schlaf und ließen ihn keine Ruhe finden. Jede Nacht kehrten sie wieder und geisterten beängstigend durch seinen Schlaf, so daß er sich wieder und wieder selbst wachrüttelte, bis endlich die Morgendämmerung dem Kampf ein Ende machte. Er rieb sich die Augen und drückte die Hände auf die geschlossenen Lider, um das Licht nicht durchzulassen. Bald würde er schlafen müssen, denn er brauchte den Schlaf dringend. Er wußte dennoch, daß er kaum Ruhe finden würde.
Als er die Hände wieder vom Gesicht nahm, erblickte er Allanon vor sich. Für einen Augenblick lang traute er seinen Augen nicht, glaubte, die Phantasie spiele ihm einen Streich. Doch als er mit scharfem Blick die Augen zusammenkniff, und das Bild noch immer stehenblieb, sprang er auf.
»Allanon! Ich dachte, ich litte unter Wahnvorstellungen!«
Der Druide trat näher zu ihm, und sie reichten einander die Hände. Ein schwaches Flackern von Unsicherheit zitterte in den Augen des Elfenkönigs.
»Habt Ihr sie gefunden?«
Allanon nickte. »Sie ist hier.«
Eventine wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Die beiden Männer blickten einander wortlos an. Manx hob den Kopf und gähnte.
»Ich hätte nicht geglaubt, daß sie je zurückkehren würde«, sagte der König schließlich. Er zögerte. »Wohin habt Ihr sie gebracht?«
»An einen Ort, wo sie beschützt werden kann«, erwiderte Allanon. Er ließ die Hand des Königs los. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich möchte, daß Ihr Eure Söhne und diejenigen Eurer Berater zusammenruft, denen Ihr größtes Vertrauen entgegenbringt — jene, denen Ihr die Wahrheit über die Gefahr, die den Elfen droht, mitgeteilt habt. Laßt ihnen ausrichten, sie mögen sich in einer Stunde im Saal des Hohen Rats der Elfen versammeln. Laßt ihnen ausrichten, daß ich mit ihnen sprechen möchte. Sagt sonst keinem Menschen etwas. Sorgt dafür, daß Eure Garde draußen wacht. In einer Stunde. Wir sehen uns dann.«
Er machte kehrt und steuerte wieder auf die offene Fenstertür zu, durch die er eingetreten war.
»Amberle…?« rief Eventine ihm nach.
»In einer Stunde«, wiederholte der Druide. Der Vorhang teilte sich, und Allanon war in der Nacht verschwunden.
Der Ratssaal war ein großer, sechseckiger Raum, aus Stein und Eichenbalken errichtet. Die schweren dunklen Balken der gewölbten Decke liefen in der Mitte des Sechsecks sternförmig zusammen. Eine hohe Flügeltür aus massivem Holz führte in den Saal, der von tiefhängenden, an schwarzen Eisenketten befestigten Öllampen beleuchtet wurde. An einer Wand befand sich das Podium, auf dem der König Platz zu nehmen pflegte. Mehrere Stufen führten zu einem wuchtigen, kunstvoll geschnitzten Eichenthron, zu beiden Seiten von Fahnenstangen flankiert, an denen die Banner der Königshäuser des Elfenreichs herabhingen. An den übrigen Wänden reihten sich in Stufen aufgebaut lange Sitzbänke, von denen man auf ein weites Rund glänzend polierten Steinbodens hinunterblickte, das wie eine Arena von einem niedrigen Eisengitter umschlossen war. Genau in der Mitte des Raumes stand ein großer ovaler Tisch mit einundzwanzig Stühlen, wo die Mitglieder des Hohen Rats der Elfen ihren Platz innehatten. Nur sechs der Stühle waren an diesem Abend besetzt. Auf einem hatte Andor Elessedil Platz genommen. Er sprach kaum mit den fünf anderen, die mit ihm am Tisch saßen. Seine Augen wanderten immer wieder rastlos und ungeduldig zu der geschlossenen Flügeltür am anderen Ende des Saales. Die Gedanken an Amberle beschäftigten seinen Geist. Obwohl sein Vater nicht von dem Mädchen gesprochen hatte, als er ihm von der Rückkehr Allanons berichtet hatte, war Andor überzeugt, daß es dem Druiden gelungen war, sie nach Arborlon zurückzubringen; sonst wäre diese Ratssitzung nicht in solcher Eile einberufen worden. Ebenso überzeugt war er, daß Allanon die Absicht hatte, Amberle vor den Hohen Rat zu bringen, um die Ratsmitglieder zu bitten, ihr die Suche nach dem Blutfeuer zu übertragen. Er war nicht sicher, wie die Ratsmitglieder darauf reagieren würden. Wenn der König sich dafür entschied, als erster zur Bitte des Druiden Stellung zu nehmen und sie seiner Unterstützung zu versichern, dann würden die anderen sich wahrscheinlich stillschweigend seinen Wünschen fügen — fest damit rechnen konnte man allerdings nicht angesichts der heftigen Emotionen, die Amberles Verhalten bei den Elfen ausgelöst hatte. Aber er glaubte ohnehin nicht, daß sein Vater das tun würde. Er würde sich vielmehr zuerst die Meinung der Männer anhören, die er im Rat zusammengerufen hatte, und dann entscheiden.
Andor streifte mit einem kurzen Blick seinen Vater. Wozu, fragte er sich plötzlich, würde er selbst raten? Er würde aufgefordert werden, seine Meinung zu sagen, wie aber konnte er hoffen, objektiv zu sein, wenn es um Amberle ging? Widerstreitende Gefühle stritten miteinander in seiner Brust. Liebe und Enttäuschung vermischten sich. Vielleicht, dachte er, war es am besten, wenn er schwieg. Vielleicht war es am besten, wenn er sich einfach dem Urteil der anderen anschloß.
Sein Blick glitt über die verschiedenen Gesichter. Abgesehen von Dardan und Rhoe, die draußen vor der Flügeltür Wache standen, war niemand sonst von dieser Sitzung unterrichtet worden. Es waren noch andere da, an die sein Vater sich hätte wenden können — gute, zuverlässige Männer. Doch er hatte sich für diese entschieden. Eine ausgewogene Wahl, dachte Andor bei sich, während er sich den Charakter jedes einzelnen vor Augen hielt. Aber welches Urteil würden sie fällen, wenn sie hörten, worum es ging?
Arion Elessedil saß zur Rechten seines Vaters, auf dem Platz, der dem Kronprinzen des Reiches vorbehalten war. Arions Rat würde der König zuerst suchen, wie er das immer tat, wenn eine wichtige Entscheidung anstand. Arion war die Stütze seines Vaters, und der alte Mann liebte ihn von ganzem Herzen. Seine Anwesenheit allein vermittelte Eventine ein Gefühl der Sicherheit, das er — Andor — ihm niemals geben konnte, mochte er sich noch so sehr bemühen. Doch Arion mangelte es an Mitgefühl, und es gab Zeiten, da zeigte er eine Starrköpfigkeit, die alle gesunde Einsicht verdrängte. Es war schwer vorherzusagen, wie er im Hinblick auf Amberle reagieren würde. Früher einmal hatte er sie geliebt, die einzige Tochter seines Bruders Aine. Doch das lag lange zurück. Mit dem Tod des Bruders hatten seine Gefühle sich gewandelt — hatten sich noch tiefer gewandelt mit Amberles Verrat an ihrer Aufgabe als Erwählte. Eine große Bitterkeit wohnte im Herzen des Kronprinzen, und sie hatte ihren Ursprung großenteils in der Kränkung, die Amberle dem König angetan hatte. Es war unmöglich zu sagen, wie tief diese Bitterkeit ging. Sehr tief, dachte Andor, und war beunruhigt.
Auf dem Sessel neben Arion hatte der erste Minister des Königs, Emer Chios, seinen Platz inne. Er war es, der in Abwesenheit des Königs den Vorsitz bei einer Ratsversammlung führte. Er war ein Mann, der es verstand, sich in seiner Rede klar auszudrücken, und man konnte sich darauf verlassen, daß er auch in diesem Fall offen und unmißverständlich seine Meinung äußern würde. Eventine und sein erster Minister waren zwar nicht immer einer Meinung, doch sie hatten große Achtung voreinander, und einer schätzte die Ansichten des anderen. Eventine würde den Worten seines ersten Ministers große Beachtung schenken.
Kael Pindanon, der Befehlshaber des Elfenheeres, war der älteste und engste Freund des Königs. Obwohl zehn Jahre jünger als der König, sah er mindestens um soviel älter aus. Sein Gesicht war so rissig und spröde wie dürres Holz., seine Gestalt so verwittert und knorrig wie ein aller Baum, aber gestählt von ständigem Kampf. Weißes Haar floß ihm über die Schultern herab, und ein gewaltiger, herabhängender Schnauzbart wölbte sich über der schmalen Linie seiner Lippen. Eisenhart und geradlinig in der Verfolgung seiner Ziele, war Pindanon jener unter Eventines Beratern, dessen Reaktionen sich am ehesten voraussagen ließen. Der alte Kämpe war dem König treu ergeben; bei seinen Ratschlägen hatte er stets das Wohl des Königs im Auge. Und so würde es auch in diesem Fall sein, da es um Amberle ging.
Der letzte Mann am Tisch war kein Mitglied des Hohen Rates. Er war jünger noch als Andor, ein schlanker, dunkelhaariger Elf mit einem wachen Gesicht und begierigen braunen Augen. Er saß neben Pindanon, seinen Sessel ein Stück vom ovalen Tisch abgerückt, stumm, aber voll gespannter Aufmerksamkeit. Zwei Dolche trug er an seinem Gürtel, und ein breites Schwert hing in seiner Scheide von der Rückenlehne des Sessels. Abgesehen von einem kleinen Medaillon mit dem Wappen der Elessedils, das an einer silbernen Halskette auf seiner Brust lag, trug er keinerlei Amtszeichen. Sein Name war Crispin. Er war der Hauptmann der Leibgarde, der Elitetruppe von Elfenjägern, deren einzige Aufgabe der Schutz des Königs war. Seine Anwesenheit bei dieser Ratssitzung war ungewöhnlich; er war kein Mann, bei dem Eventine Elessedil Rat zu suchen pflegte. Aber nun, sagte sich Andor, sein Vater tat eben nicht immer das, was man gemeinhin von ihm erwartete.
Immerhin, eines verband all diese Männer so unterschiedlicher Herkunft, Werdegang und Persönlichkeit: ihre absolute Treue zu dem alten König. Und deshalb vielleicht glaubte Eventine, die Entscheidung vertrauensvoll in ihre Hände legen zu können, wie schwierig auch immer sie sein mochte. Vielleicht aber hatte er sie auch zusammengerufen, weil sie es waren, deren Rat er suchen würde, wenn es notwendig wurde, die Heimat zu verteidigen.
Und dieser Tag war nahe. Auf Schritt und Tritt sahen sie sich mit der Unvermeidlichkeit eines schrecklichen Kampfes zwischen Elfen und Dämonen konfrontiert. Jeden Tag siechte der Ellcrys mehr dahin, da Verfall und Welke sich unerbittlich in seinen Zweigen ausbreiteten und ihm Schönheit und Leben raubten, die Kraft untergruben, die den Bannspruch der Verfemung hielt. Tag für Tag liefen neue Meldungen von fremdartigen, erschreckenden Geschöpfen ein, die, aus Alpträumen und finsteren Phantasien geboren, an den Grenzen des Westlands ihr Unwesen trieben. Soldaten des Elfenreichs patrouillierten in dem Gebiet vom Rhenn-Tal bis zum Sarandanon, von Wirrnismoor bis zum Kershalt, und noch immer wuchs die Zahl dieser Kreaturen. Es war sicher, daß noch viele folgen würden, bis ihre Schar so groß war, daß sie sich zu einem Heer vereinigen und die Elfen mit geballter Kraft angreifen konnten.
Andor stützte die Ellbogen auf den Tisch und drückte die gefalteten Hände an seine Stirn, um seine Augen zu beschatten. Der Ellcrys verfiel so rasch, daß er sich fragte, ob überhaupt noch genug Zeit blieb, um das Blutfeuer zu erreichen, selbst wenn es Allanon gelungen war, Amberle heimzuführen. Zeit! Darauf lief alles hinaus.
Die hohe Flügeltür am anderen Ende des Saales tat sich auf, und sechs Köpfe flogen herum. Groß und ehrfurchtgebietend in seinen schwarzen Gewändern, trat Allanon über die Schwelle. Er wurde von zwei kleineren Gestalten begleitet, die weite Umhänge trugen. Ihre Gesichter waren in der Tiefe fülliger Kapuzen verborgen.
Amberle! dachte Andor sogleich. Eine dieser Gestalten mußte Amberle sein.
Aber wer war der zweite Begleiter?
Ohne ein Wort schritten die drei zum gegenüberliegenden Ende des breiten ovalen Tisches. Dort wartete der Druide, bis seine Begleiter sich gesetzt hatten, dann hob er sein dunkles Gesicht zum König auf.
»Mein König und Herr, Eventine.« Er verneigte sich leicht.
»Allanon«, erwiderte der König. »Ihr seid willkommen.«
»Sind alle versammelt?«
»Ja, alle«, bestätigte Eventine und nannte dann einen nach dem anderen beim Namen. »Bitte sagt jetzt, was Ihr mitzuteilen gekommen seid.«
Allanon trat ein paar Schritte vor. Auf halbem Weg zwischen den Elfen und den beiden verhüllten Gestalten blieb er stehen.
»Nun gut. Ich werde dies alles nur einmal sagen, deshalb, ich bitte Euch, hört mir aufmerksam zu. Schweres Unheil droht dem Volk der Elfen. Der Ellcrys stirbt. Er verfällt rasch, mit jedem Tag schneller. Mit seinem Verfall beginnt auch die Mauer der Verfemung zu bröckeln. Schon ist es den ersten der Dämonen, die Eure Vorväter hinter diese Mauer verbannt haben, gelungen, sich zu befreien und wieder in Eure Welt einzudringen. Bald werden sie alle frei sein, und dann werden sie Euch für immer zu vernichten trachten.«
Der Druide trat noch einen Schritt vor.
»Tut das nicht als unglaubwürdige Schwarzseherei ab, Ihr Herren Räte. Noch kennt Ihr nicht, wie ich, das Ausmaß des Hasses, der diese Geschöpfe antreibt. Nur einer Handvoll von ihnen bin ich begegnet, einigen wenigen, denen es bereits gelungen ist, die Mauer der Verfemung zu überwinden, doch die zeigten mir in aller Deutlichkeit die ganze Gewalt des Hasses, der in jedem einzelnen von ihnen brennt. Alles vernichtend ist dieser Haß. Er verleiht ihnen Kräfte, größer als jene, die sie besaßen, als Ihr sie von der Erde verbanntet. Ich glaube nicht, daß Ihr in der Lage sein werdet, diesen Kräften standzuhalten.«
»Ihr kennt das Heer der Elfen nicht!« Pindanons Miene war finster.
»Befehlshaber.« Eventine sprach leise. Der alte Soldat drehte sich sofort um. »Wir wollen ihn doch zu Ende hören.«
Pindanon lehnte sich wieder zurück, mühsam unterdrückter Zorn stand in seinem Gesicht.
»Der Ellcrys ist Garantie für den Fortbestand Eures Volkes«, fuhr Allanon fort, ohne weiter auf Pindanon zu achten. »Wenn der Ellcrys stirbt, verliert der Bannspruch seine Wirkung. Die Zauberkraft, die ihn und die Mauer der Verfemung geschaffen hat, ist verloren. Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu verhindern, nur eine einzige. Gemäß der Überlieferung der Elfen und gemäß den Gesetzen der Magie, die ihn zum Leben erweckten, muß der Ellcrys wiedergeboren werden. Es gibt nur einen Weg, eine solche Wiedergeburt herbeizuführen. Ihr kennt ihn. Ein Mitglied aus dem Kreise der Erwählten, die im Dienst des Baumes stehen, muß sein Samenkorn zum Quell allen Lebens bringen, zum Blutfeuer der Erde. Dort muß der Keim in das Feuer eingetaucht, und dann dort, wo der Mutterbaum wächst, an die Erde zurückgegeben werden. Nur dann wird es neues Leben für den Ellcrys geben. Nur dann wird die Mauer der Verfemung wiedererstehen, und die Dämonen werden wieder von der Erde verbannt sein.
Männer von Arborlon! Vor zwei Wochen, nachdem ich entdeckt hatte, daß der Ellcrys dem Tode nahe ist, kam ich zu Eventine Elessedil, ihm meine Hilfe anzubieten. Ich kam nicht rechtzeitig. Die Wirkung des Bannspruchs hatte bereits angefangen nachzulassen, einigen der Dämonen, die hinter der Mauer eingeschlossen waren, war der Ausbruch schon gelungen. Ehe ich es verhindern konnte, hatten sie die Erwählten ermordet, im Schlaf getötet, alle, die sie antrafen.
Dennoch sagte ich dem König, daß ich versuchen würde, den Elfen in zweierlei Hinsicht zu helfen. Zunächst wollte ich nach Paranor reisen, zur Burg der Druiden, und dort in den Geschichtsbüchern meiner Vorgänger forschen, um dem Geheimnis des Wortes ›Sichermal‹auf die Spur zu kommen. Dies habe ich getan. Ich weiß jetzt, wo das Blutfeuer zu finden ist.«
Er schwieg, und sein Blick wanderte über die Gesichter der Männer, die ihm gebannt lauschten.
»Ich versprach dem König außerdem, jene zu suchen, die das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer bringen könnten, denn ich war überzeugt, daß es einen solchen Erwählten noch gab. Auch dies habe ich getan. Ich habe ihn mit mir nach Arborlon gebracht.«
Andor blickte voll gespannter Erwartung auf Allanon, während die Männer am Tisch murmelnd ihre Ungläubigkeit kundtaten. Allanon drehte sich um und winkte die kleinere der beiden verhüllten Gestalten zu sich.
»Tritt vor.«
Zaghaft erhob sich die dunkle Gestalt und ging auf Allanon zu.
»Nimm deine Kapuze ab.«
Wieder zögerte die vermummte Gestalt. Ungeduldig beugten die Versammelten sich vor — alle außer Eventine, der kerzengerade in seinem Sessel saß und mit beiden Händen die geschnitzten Armlehnen umklammerte.
»Nimm deine Kapuze ab«, wiederholte Allanon freundlich.
Diesmal gehorchte die vermummte Gestalt. Schmale braune Hände kamen unter dem Faltenwurf des Gewandes hervor und schoben die Kapuze zurück. Amberles meergrüne Augen blickten voll banger Unsicherheit auf Eventine Elessedil. Es war totenstill im Saal.
Dann sprang Arion auf, kreidebleich vor Zorn.
»Nein! Nein, Druide! Bringt sie hinaus! Bringt sie dorthin zurück, wo Ihr sie gefunden habt!«
Auch Andor sprang auf, Bestürzung im Gesicht über die Worte seines Bruders, doch sein Vater faßte ihn am Arm und zog ihn auf seinen Sessel zurück. Zornige Bemerkungen flogen hin und her, doch die Worte gingen im Gewirr der Stimmen unter.
Mit einer gebieterischen Bewegung hob Eventine die Hand, und es wurde wieder still im Saal.
»Wir werden Allanon zu Ende anhören«, erklärte er mit Entschiedenheit, und Arion sank wieder auf seinen Sessel nieder.
Der Druide nickte. »Euch alle möchte ich bitten, eines zu bedenken: Nur ein Erwählter, der im Dienst steht, kann den Keim des Ellcrys zum Blutfeuer tragen. Zu Beginn des Dienstjahres waren es sieben. Sechs sind tot. Amberle Elessedil ist Eure letzte Hoffnung.«
Wieder sprang Arion auf.
»Sie ist keine Hoffnung! Sie ist längst keine Erwählte mehr!«
Die Stimme des Elfenprinzen klang hart und bitter. Kael Pindanon nickte zustimmend, Unwillen auf den verwitterten Zügen.
Wieder trat Allanon einen Schritt vor.
»Ihr bezweifelt, daß sie noch immer zum Kreis der Erwählten gehört?« Ein schwaches, spöttisches Lächeln flog über seine Lippen. »Dann wißt, daß sie selbst es ebenfalls bezweifelt. Aber ich habe ihr gesagt, und ich habe ihrem Großvater gesagt, und ich sage jetzt Euch, weder ihre noch Eure persönlichen Gefühle in dieser Sache sind für die Wahrheit dessen, was sie ist, von Bedeutung. Sie sind völlig ohne Belang. Enkelin des Königs oder Ausgestoßene ihres Volkes — was spielt das für eine Rolle, Elfenprinz? Eure Sorge sollte dem Überleben Eures Volkes gelten — Eures eigenen Volkes und der Völker anderer Länder, denn diese Gefahr bedroht auch sie. Wenn Amberle ihnen und Euch helfen kann, dann muß das, was geschehen ist, vergessen sein.«
Arion ließ sich nicht beschwichtigen.
»Ich werde es aber nicht vergessen. Niemals werde ich es vergessen!«
»Was verlangt Ihr denn von uns?« unterbrach Emer Chios eilig, und Arion setzte sich wieder nieder.
Alanon wandte sich dem Ersten Minister zu.
»Nur dies: Weder Ihr noch ich noch Amberle selbst besitzen das Recht, darüber zu entscheiden, ob sie noch eine Erwählte ist oder nicht. Der Ellcrys allein hat dieses Recht, denn der Ellcrys war es, der sie zur Erwählten erkor. Wir müssen daher den Baum befragen. Laßt Amberle vor den Ellcrys treten; laßt den Ellcrys darüber entscheiden, ob er sie annehmen oder zurückweisen will. Wenn sie als Erwählte angenommen wird, dann wird sie sein Samenkorn bekommen und aufbrechen und das Blutfeuer suchen.«
»Und wenn sie zurückgewiesen wird?«
»Dann können wir nur hoffen, daß Kael Pindanons Vertrauen in das Elfen-Heer berechtigt ist.«
Wieder erhob sich Arion, ohne auf den warnenden Blick seines Vaters zu achten.
»Ihr verlangt zuviel von uns, Druide. Ihr verlangt von uns, daß wir einer Frau Vertrauen schenken, die sich dieses Vertrauens bereits als unwürdig erwiesen hat.«
Allanons Stimme war ruhig.
»Ich verlange, daß Ihr dem Ellcrys Euer Vertrauen schenkt, so wie Ihr das Jahrhunderte hindurch getan habt. Laßt ihn entscheiden.«
Arion schüttelte den Kopf.
»Nein, ich spüre, daß Ihr hier Euer Spiel mit uns treibt, Druide. Der Baum spricht zu niemandem; er wird auch nicht mit diesem Mädchen sprechen.« Sein zorniger Blick wanderte zu Amberle hinüber. »Wenn ihr an unserem Vertrauen liegt, so soll sie uns doch erklären, warum sie Arborlon verlassen hat. Soll sie uns doch erklären, warum sie sich und ihre Familie in Schande stürzte.«
Allanon schien sich die Forderung einen Moment lang durch den Kopf gehen zu lassen. Schließlich blickte er auf das Elfenmädchen hinunter, das neben ihm stand. Amberles Gesicht schimmerte bleich.
»Es war nicht meine Absicht, irgend jemanden in Schande zu stürzen«, sagte sie still. »Ich tat, was ich tun mußte.«
»Du hast Schande über uns gebracht!« schrie Arion heftig. »Du bist die Tochter meines Bruders, und ich habe meinen Bruder sehr geliebt. Ich möchte gern verstehen, was du getan hast, aber ich kann es nicht. Mit deinem Handeln hast du Schmach und Schande über deine Familie gebracht — über uns alle. Schmach und Schande über das Andenken deines Vaters. Kein Erwählter hat jemals die Ehre zurückgewiesen, als bedeutete sie nichts!«
Amberle war wie erstarrt.
»Ich war nicht zur Erwählten bestimmt, Arion. Es war ein Irrtum. Ich habe mich bemüht, wie die anderen zu dienen, aber ich konnte es nicht. Ich weiß, daß es von mir erwartet wurde, aber ich — ich konnte es nicht.«
»Du konntest es nicht?« Arion näherte sich ihr mit drohender Gebärde. »Warum nicht? Ich möchte wissen, warum nicht! Jetzt hast du Gelegenheit, dich zu erklären — tu es!«
»Ich kann nicht!« erwiderte sie tonlos. »Ich kann nicht. Ich könnte es dir nicht begreiflich machen, selbst wenn ich es wünschte, selbst wenn ich —« Flehend sah sie Allanon an. »Warum habt Ihr mich hierher zurückgebracht, Druide? Das ist doch sinnlos. Ich bin hier nicht gelitten. Ich habe nicht den Wunsch hier zu sein. Ich habe Angst, versteht Ihr? Laßt uns nach Hause zurückkehren.«
»Du bist zu Hause«, entgegnete der Druide sanft, eine Traurigkeit in der Stimme, die vorher nicht dann mitgeschwungen hatte. Er blickte zu Arion hinüber. »Deine Fragen haben weder Sinn noch Zweck, Elfenprinz. Denke doch einmal nach über den Zweck dieser Fragen! Denke nach über ihre Quelle. Schmerz weicht Bitterkeit, Bitterkeit weicht Zorn. Reist man zu weit auf dieser Straße, dann verirrt man sich für immer.«
Er verstummte, und seine dunklen Augen richteten sich auf die Männer am Tisch.
»Ich will nicht behaupten, daß ich verstehe, was dieses Mädchen veranlaßte, ihr Volk zu verlassen. Ich will nicht behaupten, daß ich verstehe, was sie veranlaßte, ein Leben zu wählen, das so ganz anders war als jenes, das sie in Arborlon erwartete. Es ist nicht an mir, über sie zu richten, und es ist auch nicht an Euch. Was geschehen ist, ist abgeschlossen. Sie hat Mut und Entschlossenheit gezeigt, indem sie die Reise zurück nach Arborlon auf sich nahm. Die Dämonen haben von ihrer Existenz erfahren; sie haben sie verfolgt und gejagt. Sie machen noch immer Jagd auf sie. Sie hat Mühsal und Gefahr auf sich genommen, um nach Arborlon zurückzukehren. Soll das alles vergebens gewesen sein?«
Als Allanon von Gefahr sprach, flackerte Erschrecken in Eventines Augen auf. Andor erkannte es; es blitzte auf und erlosch wieder.
»Ihr hättet das Mädchen vor den Ellcrys führen können, ohne uns zu befragen«, bemerkte Emer Chios plötzlich. »Warum habt Ihr das nicht getan?«
»Amberle wünschte nicht, nach Arborlon zurückzukehren«, antwortete Allanon. »Sie kam zurück, weil ich sie davon überzeugte, daß es notwendig ist, daß sie ihrem Volk helfen muß, wenn sie es vermag. Nicht heimlich und verstohlen sollte sie hierher zurückkehren, sondern ganz offen. Und wenn sie vor den Ellcrys treten soll, dann mit Eurer Zustimmung.«
Er legte Amberle den Arm um die schmalen Schultern. Sie blickte zu ihm auf. Überraschung spiegelte sich in ihrem kindlichen Gesicht.
»Ihr müßt Euch entscheiden.« Die Miene des Druiden war unbewegt. »Wer von Euch ist bereit, sich an ihre Seite zu stellen, Ihr Herren Räte?«
Wieder legte sich Totenstille über den Saal. Wortlos starrten die Elfen und der Druide einander an, und ihre Blicke bohrten sich ineinander. Die zweite vermummte Gestalt saß ruhelos am anderen Ende des Tisches. Die Zeit verrann. Keiner der Räte erhob sich.
Dann spürte Andor Elessedil plötzlich, daß Allanon ihm direkt in die Augen sah. Ein unsichtbares Band spannte sich zwischen ihnen, beinahe wie ein Band des Verständnisses. Und in demselben Augenblick wußte Andor, was er zu tun hatte.
Langsam richtete er sich auf.
»Andor!« hörte er seinen Bruder rufen.
Er warf rasch einen Blick auf Arions dunkles Gesicht, sah die Warnung in den harten Augen, wandte sich wieder ab. Wortlos ging erum den Tisch herum zu Amberle. Ängstlich blickte sie zu ihm auf, einem scheuen Waldtier gleich, das zu sofortiger Flucht bereit ist. Behutsam legte er seine Hände auf ihre Schultern und beugte sich nieder, um ihre Stirn zu küssen. In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie ihn umarmte.
Emer Chios erhob sich.
»Ich sehe keine Schwierigkeit, mich hier zu entscheiden, meine Herren«, wandte er sich an die anderen. »Die Möglichkeiten, die sich uns bieten, sollten wir nutzen.«
Damit trat er zu Andor und Amberle.
Crispin blickte Eventine flüchtig an. Der König saß noch immer wie gelähmt, und seine Miene war ohne Ausdruck, als er dem Blick des Hauptmanns begegnete. Crispin stand auf und trat neben Andor.
Der Rat war zu gleichen Teilen gespalten. Drei seiner Mitglieder standen bei Amberle; drei blieben am Tisch sitzen. Eventine sah Arion an. Der Kronprinz der Elfen begegnete dem Blick seines Vaters, richtete dann seine Augen voll Bitterkeit auf Andor.
»Ich bin nicht der Narr, der mein Bruder ist. Ich sage nein.«
Der König wandte sich an Pindanon. Das Gesicht des alten Kämpen war hart.
»Ich setze mein Vertrauen in das Elfenheer, nicht in dieses Kind.« Dann schien er zu zögern. »Sie ist Euer Fleisch und Blut. Ich werde mit Euch stimmen, mein König.«
Alle Augen waren jetzt auf Eventine gerichtet. Einen Moment lang schien er nicht gehört zu haben. Reglos starrte er auf die glänzende Tischplatte, und auf seinen Zügen lag ein Ausdruck von Traurigkeit und Resignation. Langsam glitten seine Hände über das schimmernde Holz, schlossen sich dann fest ineinander.
Er stand auf.
»Dann ist es beschlossen. Amberle soll vor den Ellcrys treten. Damit ist die Sitzung beendet.«
Arion Elessedil sprang auf, warf einen vernichtenden Blick auf Andor und stakte ohne ein Wort aus dem Saal.
Im verhüllenden Schatten seiner Kapuze sah Wil Ohmsford den Schmerz und die Ungläubigkeit, die sich in Andor Elessedils Augen spiegelten, als dieser seinem Bruder nachblickte. Eine Kluft hatte sich zwischen den beiden Brüdern geöffnet, die sich so schnell nicht wieder schließen würde. Plötzlich traf der Blick des Elfenprinzen den seinen, und verlegen senkte er die Lider.
Allanon nahm wieder das Wort, teilte den Zurückgebliebenen mit, daß Amberle ein bis zwei Tage brauche, um sich von den Strapazen der langen Reise zu erholen, bevor sie vor den Ellcrys treten könne. Sobald das geschehen war, würden sie wieder zusammenkommen.
Wil stand auf, den Umhang noch immer fest um sich gezogen, da Allanon ihn ermahnt hatte, sich nicht zu erkennen zu geben. Rasch leerte sich der Saal, und Wil trat nun hinüber zu Amberle. Er sah, wie Andor Elessedil sich noch einmal nach ihnen umdrehte, zögerte, dann den anderen nach draußen folgte. Allanon hatte Eventine beiseitegenommen und sprach mit gesenkter Stimme auf ihn ein. Es erweckte den Eindruck, als gäbe es zwischen ihnen eine Meinungsverschiedenheit. Mit einem widerwilligen Nicken schritt schließlich auch der Elfenkönig aus dem Saal. Wil und Amberle blieben mit dem Druiden allein zurück.
Allanon winkte ihnen.
»Folgt mir.«
Rasch führte er sie aus dem Ratssaal den Gang hinunter, bis sie wieder im kühlen Dunkel der Vorhalle standen. Dort hielt der Druide inne, lauschte, wandte sich dann ihnen zu.
»Amberle.« Er wartete, bis ihre Augen ihn ansahen. »Ich möchte, daß du heute abend den Ellcrys aufsuchst.«
Überraschung und Verwirrung spiegelten sich auf dem Gesicht des Elfenmädchens.
»Warum?« fragte sie erstaunt und schüttelte dann hastig den Kopf. »Nein. Nein, das geht mir zu schnell! Ich brauche Zeit, um mich auf dieses Zusammentreffen vorzubereiten. Außerdem habt Ihr soeben meinem Vater und den anderen erklärt, ich würde erst in ein oder zwei Tagen zu dem Baum gehen.«
Allanon nickte ungeduldig. »Eine kleine, aber notwendige Täuschung.
Darf ich fragen, welcher Art die Vorbereitungen sind, die du noch treffen willst? Es handelt sich doch hier nicht um eine Erprobung deiner Fähigkeiten oder deiner Ausdauer; Vorbereitung hilft dir hier nicht. Entweder bist du noch eine Erwählte im Dienste des Baumes, oder du bist es nicht mehr.«
»Ich bin müde, Druide!« Sie war jetzt zornig. »Ich bin müde und ich will schlafen. Ich kann jetzt nicht zu dem Baum gehen.«
»Du mußt.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich weiß, daß du müde bist; ich weiß, daß du Schlaf brauchst. Doch das muß warten. Zuerst mußt du zu dem Baum gehen — jetzt!«
Sie erstarrte bei seinen Worten, und in ihren Augen flackerte der Ausdruck eines gehetzten Tieres. Dann begann sie zu weinen. Es war, als wolle all das, was geschehen war — das unerwartete Auftauchen des Druiden in ihrem Häuschen, die Nachricht vom Sterben des Ellcrys und vom Tod der Erwählten, die Erkenntnis, die beängstigende Flucht nach Norden, die Konfrontation mit dem Hohen Rat und ihrem Großvater und jetzt dies — als wolle dies alles sie mit einem Schlag überwältigen. All ihre Schutzmauern schienen einzustürzen. Klein und hilflos stand sie vor ihnen und schluchzte herzzerreißend. Als Allanon sie trösten wollte, fuhr sie scheu zurück, wandte sich von ihnen beiden ab. Wil Ohmsford starrte ihr hilflos nach.
Schließlich hörte sie auf zu weinen. Als sie sprach, das Gesicht noch immer abgewandt, war ihre Stimme nur ein Flüstern.
»Ist es wirklich notwendig, Allanon — wirklich und wahrhaftig notwendig —, daß ich noch heute abend zu dem Baum gehe?«
Der Druide nickte. »Ja, Elfenmädchen.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Dann werde ich es tun.«
Ruhig und gefaßt kehrte sie zu ihnen zurück. Ohne ein Wort führte Allanon die beiden jungen Leute in die Stadt hinaus.