52

Voller Entsetzen blickte Wil Ohmsford in die Tiefe. Das grelle weiße Licht der Sonne blendete ihn, und er mußte die Augen zusammenkneifen. In seinem Innern brannte noch immer das Fieber. Er fühlte sich schwach und erschöpft, und sein Körper war feucht von Schweiß. Hoch über das grüne, bewaldete Land des Westlands trug ihn Genewen, die Schwingen weit gespannt, während sie sich von den Luftströmungen tragen ließ. Ledergurte fesselten Wil an den Rock, und sein verletzter Arm war geschient und verbunden. Vor ihm hockte Perk, dessen kleine Gestalt sich geschmeidig mit Genewens Bewegungen wiegte, während er mit Hand und Stimme ihren Flug dirigierte. Dicht an den kleinen Himmelsreiter geschmiegt saß Amberle, so dick vermummt, daß sie kaum zu sehen war. Die Arme, die um seinen Körper lagen, gehörten Eretria. Er wandte sich um, und der Blick ihrer dunklen Augen traf den seinen. Er war voller Verzweiflung. Unter ihnen lag Arborlon, die Elfenstadt. Tote häuften sich auf dem Carolan, Feuer brannten an vielen Stellen auf dem Plateau, und der Elfitch war nur noch ein Trümmerhaufen. Reiter und Lanzer, Pikeniere und Bogenschützen umringten wie eine Mauer aus blitzendem Eisen den Garten des Lebens. Und rundum wogte eine riesige Masse zuckender schwarzer Leiber, Tausende an der Zahl, und es schien, als würden die Verteidiger jeden Moment von der Flutwelle fortgeschwemmt werden. Die Dämonen, flüsterte er tonlos. Die Dämonen! Er spürte plötzlich eine Bewegung von Amberle. Das Elfenmädchen hatte sich ein wenig aufgerichtet und sprach jetzt auf Perk ein. Eine zierliche kleine Hand umfaßte die Schultern des Jungen. Der kleine Himmelsreiter nickte. Dann setzte Genewen zur Landung an.

Rasch ließ sie sich zum Carolan und zum Garten des Lebens abfallen. Der Garten mit seinen kunstvoll geschnittenen Hecken und liebevoll angelegten Blumenbeeten nahm sich aus wie eine Insel der Heiterkeit in einem Meer von Trümmern und Asche und heulenden schwarzen Ungeheuern. Wil sah das Blitzen der Waffen im Sonnenlicht, als die Verteidiger die finsteren Horden abwehrten, die gegen sie anrannten. Schon hatten die Ungeheuer hier und dort Breschen geschlagen; schon hatten einige die Mauer durchbrochen.

Auf der Anhöhe in der Mitte des Gartens stand vergessen die leblose Hülle des Ellcrys.

Genewen schrie plötzlich laut auf; es war ein durchdringender Schrei, der das Lärmen der Schlacht, die unten geschlagen wurde, übertönte. Einen Moment lang richteten sich aller Augen auf den gewaltigen Rock, der wie ein Stück Sonnenlicht abwärts schwebte. Ausrufe des Erkennens kamen aus der Mitte der Elfen. Ein Himmelsreiter, riefen sie und suchten vergeblich nach weiteren.

Dann war Genewen über dem Garten und senkte sich langsam zum Fuß des kleinen Hügels herab. Die großen Schwingen wurden eingezogen, der scharlachrote Kopf neigte sich abwärts. Perk sprang zur Erde und beeilte sich, die Gurte zu lösen, welche die anderen hielten. Zuerst öffnete er Amberles Gurte. Wie leblos beinahe glitt sie vom Rücken des Vogels und ging in die Knie, als ihre Füße die Erde berührten. Wil wollte zu ihr, doch das Fieber hatte ihn geschwächt, und die Gurte ließen sich nicht öffnen.

Das Getöse der Schlacht, die hinter Hecken und Blumenbeeten tobte, kam näher.

»Amberle!« rief Wil.

Sie war schon wieder auf den Beinen, stand nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Langsam hob sie das kindliche Gesicht.

Flüchtig hefteten sich die schrecklichen, blutroten Augen auf ihn, und es schien, als wolle sie sprechen. Dann aber wandte sie sich wortlos ab und stieg den Hang des kleinen Hügels hinauf.

»Amberle!« rief Wil und riß an den Riemen, die ihn fesselten.

Genewen zuckte nervös zusammen, und Perk hatte Mühe, sie zu besänftigen.

»Sei still, Heiler!« warnte Eretria, doch er war jenseits aller Vernunft. Er sah nur, daß Amberle sich von ihm entfernte. Er war im Begriff, sie zu verlieren. Er spürte es.

Verängstigt durch die ungebärdigen Bewegungen Wils, wollte Genewen sich in die Lüfte erheben. Perk packte ihr Geschirr und zog sich auf ihren Rücken, während er vergeblich versuchte, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Da riß Eretria ihren Dolch heraus und zerschnitt die Gurte, die sie und Wil festhielten. Gleich darauf stürzten sie beide vorn Rücken des Riesenvogels kopfüber ins Gebüsch.

Schmerz durchzuckte Wils Körper, als er sich mühsam wieder aufraffte. Eretria rief ihn, doch er achtete nicht auf sie. Er rannte schon zum Hügel, um Amberle zu folgen. Sie hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, ging langsam, Schritt für Schritt dem Baum entgegen.

Aus nächster Nähe kam gellendes Heulen. Eine kleine Gruppe von Dämonen brach aus den Hecken hervor. Perk hatte Genewen wieder beruhigt und war eben abgesprungen, um Wil nachzueilen. Augenblicklich stürzten sich die Dämonen auf ihn. Doch Wil hatte sie gesehen. Die Faust mit den Elfensteinen schnellte in die Höhe. Blaue Flammen mitten unter die Dämonen, und sie verschwanden.

»Flieg fort!« rief er Perk zu. »Flieg weg von hier, Himmelsreiter!«

Keuchend stürzte Eretria an seine Seite. Neue Dämonen tauchten aus den schützenden Hecken auf und stürmten kreischend heran. Soldaten der Schwarzen Wache eilten herbei und hielten sie mit gesenkten Piken auf. Doch die Dämonen überrannten die Elfen und wollten Wil nach. Der drehte sich um. Wieder flammten die Elfensteine auf. Perk hockte wieder auf Genewens Rücken, doch anstatt sein Heil in der Flucht zu suchen, wendete der kleine Himmelsreiter den mächtigen Vogel gegen die nächsten Angreifer und jagte sie zurück. Aber schon zeigten sich Dutzende neuer Ungeheuer. Von überall her strömten sie herbei, und selbst das Feuer der Elfensteine reichte nicht aus, sie alle aufzuhalten.

Da übertönte ein gellender Schrei das Kreischen und Heulen der Dämonen, und schien in der Hitze des Sommermittags zu hängen. Wil fuhr herum. Oben auf dem Hügel stand Amberle, die Arme ausgestreckt, um den Stamm des Ellcrys zu umfangen. Unter ihrer Berührung schien der Baum zu flimmern wie das Wasser eines Baches im Sonnenlicht, um sich dann in einem Regen silbernen Staubs aufzulösen, der wie Schnee auf das Elfenmädchen herabrieselte. Nun stand sie allein. Ihre Arme hoben sich, und ihr zierlicher Körper richtete sich auf.

Sie begann sich zu verwandeln.

»Amberle!« rief Wil verzweifelt ein letztes Mal und sank voller Verzweiflung auf die Knie.

Der Körper des Elfenmädchens verlor seine Gestalt. Die menschlichen Konturen zerflossen, die Kleider zerfielen und glitten von ihr herab. Ihre Beine verschmolzen miteinander, und aus den Füßen senkten sich geschlungene Ranken in die Erde. Langsam wurden ihre erhobenen Arme länger und teilten sich.

»O Wil!« flüsterte Eretria, als sie neben ihm niedersank.

Amberle war nicht mehr. An ihrer Stelle stand der Ellcrys, ein vollendet geformter Baum, dessen silberne Borke und blutrote Blätter im Sonnenlicht leuchteten.

Der wiedergeborene Ellcrys.

Wildes Klagegeschrei erhob sich unter den Dämonen. Der Bannspruch der Verfemung war erneuert, die Mauer wieder errichtet. Den ganzen Carolan erfüllte das Geheul, als sie wieder in die Schwärze des Nichts hineingezogen wurden. Verzweifelt suchten sie zu entkommen, doch es gab keine Flucht. Einer nach dem anderen verblichen sie, Hunderte, dann Tausende, große und kleine, bis schließlich auch der letzte verschwunden war.

Stille breitete sich aus. Es war, als seien die Dämonen niemals gewesen.

Im Garten des Lebens lag Wil Ohmsford auf den Knien und weinte.

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