Blaß-silbernes Mondlicht strömte vom Himmel und brachte die Sommernacht zum Leuchten. Süße Düfte stiegen aus der Dunkelheit auf und schwebten in betäubenden Wogen auf dem milden Wind dahin, um sich in den Hecken und Hainen, den Blumenbeeten und Büschen des Gartens des Lebens zu fangen. Das Spiel von Licht und Schatten zauberte seltsam geknüpfte Muster in Schwarzweiß aus den Farben des Gartens. Kleine Lebewesen, die mit dem Einbruch der Nacht erwacht waren, flatterten auf und jäh davon, ohne eine Spur zu hinterlassen. Auf dem kleinen Hügel, der das Heimatland der Elfen überblickte, stand einsam und still der wundersame Baum, der den Namen Ellcrys trug, und erwartete den Tod, der langsam, aber unerbittlich Besitz von ihm ergriff. Schon hatte er dem Baum sein Mal aufgedrückt. Die vollendete Schönheit, die den gesunden Ellcrys ausgezeichnet hatte, war zerstört, die vollkommene Ebenmäßigkeit seiner Gestalt verzerrt. Die silberne Borke hatte sich von Stamm und Ästen gelöst und hing in rissigen Fetzen herab, schwarz und welk. Die blutroten Blätter hatten sich fest eingerollt unter der Einwirkung der Krankheit, und viele lagen dürr und ausgezehrt auf der Erde unter dem Baum, wo raschelnd der Wind mit ihnen spielte. Nackt und kahl wie eine verwitterte Vogelscheuche auf einem Getreidefeld ragte der Baum in den nächtlichen Himmel. Allanon, Wil Ohmsford und Amberle standen am Fuß der Anhöhe und blickten wortlos zu dem Baum hinauf. Lange standen sie still und unbewegt, und nur der Stoff ihrer Gewänder, mit denen der Wind spielte, raschelte. Als Amberle endlich das Wort ergriff, klang ihr Flüstern beinahe heftig in der Stille. »Ach, Allanon, er sieht so traurig aus.« Die hochgewachsene Gestalt des Druiden war wie erstarrt unter den dunklen Gewändern, und sein Gesicht war im Schatten der Kapuze verborgen. Er antwortete nicht auf Amberles Worte. Ein Duft nach Flieder zog an ihnen vorüber und verflüchtigte sich wieder. Amberle wandte den Kopf und sah den Druiden fragend an. »Hat er Schmerzen?«
Kaum merklich bewegte Allanon den Kopf.
»Etwas.«
»Er stirbt wirklich?«
»Sein Leben wird bald erlöschen. Seine Zeit ist beinahe abgelaufen.«
»Könnt Ihr denn nichts tun?«
»Was getan werden kann, muß von dir getan werden.« Allanons tiefe Stimme war ein sanftes Murmeln.
Amberle seufzte. Ein Schauder durchrann ihren zierlichen Körper. Die Sekunden verstrichen. Müde wippte Wil auf den Füßen hin und her, während er darauf wartete, daß das Elfenmädchen mit sich ins reine käme. Doch es war nicht leicht für sie. Sie hatte nicht erwartet, daß sie schon an diesem Abend vor den Baum würde treten müssen; sie hatten es beide nicht erwartet. Sie hatten geglaubt, nach der Beratung im Hohen Rat würde ihnen erst einmal ein langer Schlaf gegönnt sein. Sie hatten seit den Stunden vor ihrer Flucht durch das Rhenn-Tal keine Ruhe mehr gefunden. Beide waren sie der Erschöpfung nahe.
»Er schläft«, flüsterte Amberle.
»Für dich wird er erwachen«, erwiderte der Druide.
Sie möchte es nicht tun, dachte Wil. Sie hat es nie gewollt. Es ist nicht nur Abneigung, es ist Angst. Schon in jener ersten Nacht in dem Gärtchen hinter ihrem Haus hat sie gesagt, daß sie Angst hat. Aber sie hat nie offen gesagt, warum oder wovor.
Wil blickte zur Höhe des Hügels hinauf. Was an dem Baum machte ihr solche Angst?
»Ich bin bereit.«
Schlicht die Worte, ruhig die Stimme. Allanon schwieg. Dann nickte er unmerklich.
»Dann geh. Wir warten hier auf dich.«
Sie setzte sich nicht gleich in Bewegung, sondern blieb noch einen Augenblick lang still stehen, als erwarte sie noch etwas von dem Druiden. Dann raffte sie ihren langen Umhang und machte sich auf den Weg. Das Gesicht zu dem reglosen, kranken Baum erhoben, der oben wartete, schritt sie den Hang hinauf. Sie blickte nicht zurück.
Nur Augenblicke dauerte der Anstieg, dann stand sie allein vor dem Ellcrys. Noch befand sie sich nicht in Reichweite des Baumes, sondern ein paar Schritte entfernt, eine vermummte kleine Gestalt, die Arme fest an ihre Seiten gepreßt. Von der Höhe des Hügels lag das Westland weit und offen zu ihren Füßen, und Amberle fühlte sich schwach und hilflos. Mit den Düften des Gartens gewürzt, fächelte der Nachtwind ihr Gesicht, und sie sog die Luft tief ein, um dadurch ihre innere Ruhe zu erlangen.
Es währt ja nur einen Augenblick, sagte sie sich. Nur einen kurzen Augenblick.
Aber sie empfand solch entsetzliche Angst.
Sie verstand noch immer nicht, woher das kam, nicht einmal jetzt, nach so langer Zeit. Sie hätte es doch begreifen müssen! Sie mußte doch fähig sein, die Angst unter Kontrolle zu halten! Aber sie konnte es nicht. Und gerade das machte es um so schlimmer. Es war eine irrationale, blinde Angst, die nicht zu fassen war. Immer war sie da, lauerte in den Tiefen ihrer Seele wie ein böses Raubtier, um aus ihrem Versteck hervorzukommen, sobald sie — Amberle — an den Ellcrys dachte. Sie hatte gekämpft, hatte sich mit Entschlossenheit gewehrt, doch die Angst überwältigte sie immer wieder, finster, nicht zu bändigen. In Havenstead hatte sie sie unterdrücken können, denn in Havenstead war ihr Auslöser fern und vergangen gewesen. Jetzt war alles wieder gegenwärtig, in Arborlon zurück, keine fünf Schritte entfernt von dem Baum und seiner Berührung…
Sie fröstelte, als Erinnerungen aufstiegen. Es war die Berührung des Baumes, die sie fürchtete. Aber warum? Sie brachte weder Kummer nochSchmerz. Sie diente dem Ellcrys allein zur Übermittlung seiner Bilder. Doch immer, wenn der Ellcrys sie berührt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, daß da noch etwas anderes war, das mehr war als nur eine Gedanken übermittelnde Berührung. Schon beim erstenmal, als der Ellcrys zu ihr gesprochen hatte, hatte sie das empfunden.
Ihre Gedanken zerstoben beim gedämpften Ruf einer Eule. Sie wurde sich bewußt, daß sie nun schon seit Minuten hier oben stand. Die beiden Männer unten beobachteten sie. Das wollte sie nicht.
Eilig ging sie um den Baum herum auf die andere Seite.
Der Druide und der Talbewohner blickten stumm zu der dunklen Gestalt des Elfenmädchens hinauf, das um den Ellcrys herumging und dann aus dem Blickfeld verschwand. Einen Moment lang blieben sie noch stehen, doch als Amberle nicht wieder auftauchte, ließ sich Allanon ins Gras nieder. Wil blickte zu ihm hinunter und setzte sich dann neben ihn.
»Was wollt Ihr tun, wenn der Ellcrys sagt, daß sie keine Erwählte mehr ist?«
Der Druide wandte nicht einmal den Kopf.
»Das wird nicht geschehen.«
Wil zögerte kurz, ehe er weitersprach.
»Ihr wißt etwas, wovon Ihr uns beiden nichts gesagt habt, nicht wahr?«
Allanons Stimme war kalt.
»Nein. Nicht in dem Sinn, wie du es meinst.«
»Aber in einem anderen Sinn.«
»Deine Pflicht, Talbewohner, ist einzig, daß dem Elfenmädchen nichts geschieht, wenn ihr Arborlon verlassen habt.«
Die Art und Weise, wie er das sagte, vermittelte Wil den deutlichen Eindruck, daß er dieses besondere Thema damit als abgeschlossen betrachtete. Mit Unbehagen rückte der junge Mann ein wenig von dem großen Alten ab.
»Könnt Ihr mir dann wenigstens etwas anderes sagen?« fragte er schließlich. »Könnt Ihr mir sagen, warum sie vor dem Allcrys so große Angst hat?«
»Nein.«
Wil lief zornrot an. »Warum nicht?«
»Weil ich mir nicht sicher bin, daß ich selbst diese Angst verstehe. Und ich glaube, auch sie versteht sie nicht. Im übrigen wird sie es dir selbst erklären, wenn sie soweit ist, daß sie darüber sprechen möchte.«
»Das bezweifle ich.« Wil neigte sich und legte seine Arme locker auf die Knie. »Ich habe den Eindruck, sie hält nicht sehr viel von mir.«
Allanon erwiderte nichts. Eine ganze Weile hockten sie schweigend nebeneinander und sahen immer wieder zur Höhe des Hügels hinauf, wo der einsame Baum stand. Von Amberle war keine Spur zu sehen. Wil warf einen Blick auf den Druiden.
»Kann ihr auch nichts passieren, wenn sie ganz allein da oben ist?«
Allanon schüttelte den Kopf. Wil wartete darauf, daß er ihm erklären würde, warum sie dort oben sicher war, doch der Druide gab ihm keine Erklärung. Wil zuckte die Schultern. Er hatte wohl Mittel und Wege, sie zu beschützen, sagte er sich, wenn er ihr so nahe war. Zumindest hoffte Wil es.
Lange Zeit rührte sich Amberle nicht. Sie konnte nicht. Ihre Angst lähmte sie. Starr und kalt bis ins innerste Mark stand sie keine fünf Fuß von den nächsten Zweigen entfernt und blickte wie gebannt auf den Ellcrys. Wie flüssiges Eis strömte die Angst in ihren Adern und ließ jeden Gedanken erstarren. Sie verlor jegliches Gefühl für Zeit und Ort, nahm nichts wahr als ihre Unfähigkeit, diese letzten Schritte zu tun.
Als sie es schließlich doch tat, hatte sie das Gefühl, es sei ein anderes Wesen, das den Weg für sie ging. Sie erinnerte sich später nur, daß der Abstand zwischen ihr und dem Ellcrys sich verkürzt hatte und dann nicht mehr gewesen war. In tiefe Schatten getaucht, stand sie unter dem Blätterdach des Baumes. Der Nachtwind erstarb, und die eisige Kälte in ihrem Inneren wandelte sich in flammende Hitze.
Stumm sank sie auf dem Teppich toter Blätter und abgebrochener Zweige auf die Knie und faltete die Hände in ihrem Schoß. Sie wartete. Nicht lange, da senkte ein kranker Zweig sich abwärts und legte sich behutsam um ihre Schultern.
»Amberle.«
Das Elfenmädchen begann zu weinen.
Es war lange still gewesen zwischen ihnen, als Wil plötzlich eine seltsame Bemerkung Allanons ins Gedächtnis kam. Nach dem letzten Gedankenaustausch hatte er beschlossen, dem Druiden keine Fragen mehr zu stellen, doch jetzt gewann die Neugier die Oberhand.
»Allanon!«
Der Druide blickte ihn an.
»Mir geht da etwas im Kopf herum.« Er nahm sich Zeit, um seine Worte zu ordnen. »Als Ihr Amberle erklärtet, daß wir schon heute abend hierherkommen mußten, erinnerte sie Euch daran, daß Ihr den Elfen bei der Sitzung gesagt hattet, sie brauche ein bis zwei Tage Ruhe. Darauf erklärtet Ihr, das sei eine notwendige Täuschung gewesen. Was meintet Ihr damit?«
Das Mondlicht enthüllte das vertraute spöttische Lächeln auf dem schmalen Gesicht des Druiden.
»Ich habe mich schon gefragt, wann diese Frage kommen würde, Wil Ohmsford.« Er lachte leise. »Deine Wißbegierde macht vor nichts halt.«
Wil lächelte unbestimmt.
»Erhalte ich auf meine Frage eine Antwort?«
Allanon nickte. »Sie wird dir allerdings nicht gefallen. Die Täuschung war notwendig, weil sich im Lager der Elfen ein Spion befindet.«
Wil wurde eiskalt. »Woher wißt Ihr das?«
»Logische Überlegung. Als ich in Paranor eintraf, erwarteten mich die Dämonen schon. Sie erwarteten mich, Talbewohner — ich wurde nicht verfolgt! Das läßt darauf schließen, daß sie im voraus von meinem Kommen wußten. Aber woher wußten sie es? Woher wußten sie überhaupt von mir? Nur Eventine wußte, daß ich in die Vier Länder zurückgekehrt war. Nur Eventine wußte von meinem Plan, nach Paranor zu reisen; ihm allein vertraute ich an, daß ich nach Paranor reisen wollte, um in den alten Geschichtsbüchern der Druiden nach einem Hinweis auf die Lage des Ortes Sichermal zu suchen. Ich bat Eventine, niemandem etwas zu verraten, und ich bin sicher, das hat er auch nicht getan.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Damit bleibt nur eine Möglichkeit. Jemand hat unser Gespräch belauscht — jemand, der Grund hatte, uns an die Dämonen zu verraten.«
Wils Miene zeigte Zweifel.
»Aber wie soll das denn geschehen sein? Ihr sagtet doch selbst, niemand hätte gewußt, daß Ihr in die Vier Länder zurückgekehrt seid.«
»Ja, das verursacht auch mir Kopfzerbrechen«, bekannte der Druide.
»Der Spion muß jemand sein, dem es keine Mühe macht, zum König Zugang zu erhalten; jemand, der über all sein Tun und Lassen Bescheid weiß. Jemand aus seinem Haushalt vielleicht.« Er zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall war es ein Glück, daß ich dem König nichts davon sagte, wo Amberle sich aufhielt, sonst wären die Dämonen zweifelsohne vor mir bei ihr gewesen.« Er hielt inne, und seine schwarzen Augen fixierten den jungen Talbewohner. »Und über dich wären sie auch hergefallen, denke ich mir.«
Wil überlief eine Gänsehaut. Die Vorstellung war selbst jetzt noch beängstigend. Zum erstenmal, seit er Allanon begegnet war, war er froh, daß der Druide so zugeknöpft und verschwiegen war.
»Wenn das so ist, warum habt Ihr dann den Elfen bei der Sitzung des Hohen Rats so viel anvertraut?« fragte er. »Wenn sich im Lager der Elfen wirklich ein Spion verbirgt, ist dann nicht damit zu rechnen, daß er alles erfährt, was bei der Sitzung gesprochen wurde?«
Der Druide neigte sich zu Wil Ohmsford hinüber.
»Durchaus. Ich habe sogar die Absicht, dafür zu sorgen, daß er alles erfährt. Das ist der Grund für die Täuschung. Siehst du, die Dämonen wissen bereits, daß wir hier sind, und sie wissen auch, warum wir hier sind. Sie wissen, wer ich bin; sie wissen, wer Amberle ist. Aber sie wissen noch nicht, wer du bist. Alles, was sie wissen, haben sie aus meinen Gesprächen mit Eventine erfahren. Wir haben den Elfen bei der Ratssitzung nichts Neues mitgeteilt — abgesehen von einem Punkt. Wir haben ihnen erklärt, daß Amberle einige Tage Erholung braucht, ehe sie vor den Ellcrys hintritt. Folglich werden die Dämonen nicht erwarten, daß wir in den nächsten Tagen etwas unternehmen werden. Und diese Täuschung wird uns, hoffe ich, einen kleinen, aber sehr nützlichen Vorteil liefern.«
»Was für einen Vorteil?« wollte Wil wissen. »Was habt Ihr vor, Allanon?«
Der Druide schürzte die Lippen.
»Da, Freund Wil, muß ich dich noch um ein Weilchen Geduld bitten. Aber ich verspreche dir, daß du die Antwort bekommen wirst, ehe die Nacht vorüber ist. Nun, ist das ein faires Angebot?«
Wil fand es gar nicht fair, aber er wußte, daß es sinnlos war, Allanon zu drängen. Wenn der Druide einmal etwas beschlossen hatte, war daran nicht mehr zu rütteln.
»Noch eines.« Der Druide legte dem jungen Mann mahnend die Hand auf die Schulter. »Sag Amberle nichts von alledem. Ihre Angst ist groß genug; es besteht keine Notwendigkeit, ihr noch mehr Angst zu machen. Laß dies ein Geheimnis zwischen dir und mir sein.«
Wil Ohmsford nickte.
Minuten später trat Amberle aus dem Schatten des Baumes. Die Umrisse ihrer Gestalt hoben sich scharf vom Nachthimmel ab, als sie einen Augenblick zaudernd verharrte. Dann setzte sie sich in Bewegung und schritt hangabwärts, den beiden Männern entgegen. Sie ging langsam, vorsichtig, als sei sie sich ihrer Bewegungen nicht sicher, und hielt die Hände fest vor der Brust gefaltet. Die Kapuze hatte sie abgestreift, und ihr langes kastanienbraunes Haar wehte im Nachtwind. Als sie sich ihnen näherte, konnten sie die Verzweiflung in ihrem Antlitz deutlich sehen. Ihre Züge waren bleich, die Wangen feucht von Tränen, und Angst spiegelte sich grell in den grünen Augen.
Vor ihnen blieb sie stehen. Ihr zierlicher Körper zitterte.
»Allanon«, stieß sie weinend hervor.
Der Druide sah, daß sie einem Zusammenbruch nahe war. Sogleich nahm er sie in seine Arme und hielt sie fest umschlungen. Diesmal ließ sie sich seine Umarmung gefallen, weinte still an seiner Brust. Lange hielt er sie so, ohne ein Wort. Wil betrachtete die Szene verlegen und kam sich nutzlos vor.
Nach einiger Zeit versiegten die Tränen. Allanon ließ das Elfenmädchen los und trat zurück. Einen Moment noch hielt sie den Kopf gesenkt, dann erhob sie ihn und blickte den Druiden an.
»Ihr hattet recht«, flüsterte sie.
Die zusammengepreßten Hände lösten sich von den Falten ihres Gewandes und öffneten sich langsam. In ihrem Inneren lag ein vollendet geformter silberweißer Stein, das Samenkorn des Ellcrys.