22

Verschleiert und eisengrau brach der neue Tag über Arborlon an. Schwarze Wolken jagten sich am Himmel. Als Wil und Amberle sich angekleidet und ihr Morgenmahl eingenommen hatten, hatte es schon zu regnen begonnen. Erst waren es nur ein paar Tropfen, doch sie verdichteten sich rasch zu stetig herabströmenden Wasserschnüren, die prasselnd auf das Dach des Häuschens aufschlugen. In der Ferne erschütterten krachende Donnerschläge die Wälder. »Bei diesem Wetter seid ihr nicht so leicht zu finden«, stellte Allanon mit Befriedigung fest und führte sie in das Gewitter hinaus. In lange Reiseumhänge gehüllt, unter denen sie wollene Kittel und Hosen und dazu hohe Lederstiefel trugen, marschierten sie hinter dem Druiden her durch den strömenden Regen. Er führte sie über Waldpfade am äußersten Westrand der Stadt den breiten Rücken des Carolan entlang. Wil und Amberle, kaum fähig, die Hand vor den Augen zu sehen in der frühsommerlichen Düsternis, blieben ihm dicht auf den Fersen. Bruchstückhafte Bilder von Häusern und Bäumen, von Zäunen und Gärten tauchten wie Luftspiegelungen aus dem Dunst auf und zerflossen wieder. Ein scharfer kalter Wind blies ihnen den Regen ins Gesicht, obwohl sie die Kapuzen tief in die Stirn gezogen hatten. Mit gesenkten Köpfen wateten sie durch Pfützen und schlammige Bäche, die sich in den Furchen des Ziehwegs bildeten, dem sie folgten.

Auf der anderen Seite der Stadt schwenkte Allanon plötzlich von dem Pfad ab und führte sie zu einem einsamen Stallgebäude, das linker Hand an einen Hang gelehnt stand. Die zweiflügelige Holztür war nur angelehnt, und eilig schlüpften sie unter das schützende Dach. Durch die Ritzen der Fensterläden und durch Sprünge in den verwitterten Mauern sickerte graues, dunstiges Licht in das Innere des Baus. Die Luft roch muffig und scharf.

Sie blieben stehen, um sich das Wasser von den Umhängen zu streifen, dann steuerten sie auf die Tür im Hintergrund des Stalls zu. Wie durch Zauber tauchten plötzlich zwei schwerbewaffnete Elfen-Jäger aus dem dämmrigen Grau auf und gesellten sich an ihre Seite. Allanon beachtete sie nicht. Ohne sich auch nur umzudrehen, schritt er geradewegs auf die Tür zu. Nachdem er geklopft hatte, legte er eine Hand auf die verrostete eiserne Klinke und blickte dann zu Amberle zurück.

»Fünf Minuten. Mehr Zeit haben wir nicht.«

Er stieß die Tür auf. Amberle und Wil spähten in den Raum dahinter, wo Sattelzeug aufbewahrt wurde. Crispin stand dort, und an seiner Seite eine Elfenfrau in langem Umhang mit Kapuze. Die Frau streifte die Kapuze ab, und verdutzt sah Wil, daß ihr Gesicht, wenn auch älter, Amberles Züge widerspiegelte. Allanon hatte sein Versprechen wahrgemacht; es war Amberles Mutter.

Amberle stürzte auf sie zu, umschlang sie mit beiden Armen und küßte sie. Crispin trat aus dem Sattelraum heraus und zog leise die Tür hinter sich zu.

»Niemand ist euch gefolgt.« So, wie der Druide es sagte, klang es wie die Feststellung einer Tatsache.

Der Hauptmann der Leibwache schüttelte den Kopf. Er war gekleidet wie die anderen Jäger — in eine lose sitzende, bequeme Uniform, deren Graubraun gut mit den Farben des Waldes verschmolz. Unter dem Umhang, der um seine Schultern lag, trug er an dem Gürtel um seine Leibmitte mehrere lange Messer. An der Hüfte hing ein breites Schwert herab, und auf den Rücken geschnallt war ein Bogen aus Eschenholz. Das vom Regen feuchte und zerzauste lichtbraune Haar verlieh ihm etwas Jungenhaftes; doch die braunen Augen blickten ernst und männlich. Er nickte Wil kurz zu, dann trat er zu seinen Jägern. Einer von ihnen eilte auf ein paar Worte von ihm schweigend aus dem Schuppen in den Regen hinaus, während der andere zum Heuboden hinaufstieg. Sie bewegten sich so geschmeidig und behende wie Katzen.

Minuten verrannen. Wil stand stumm neben Allanon und lauschte dem Rauschen des Regens, der in Kaskaden auf das Stalldach prasselte. Er hatte das Gefühl, daß die Feuchtigkeit ihm durch Mark und Bein drang.

Endlich trat der Druide wieder zu der Tür zum Sattelraum und klopfte leise. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und Amberle und ihre Mutter erschienen. Beide hatten geweint. Allanon nahm die Hand des Elfenmädchens und hielt sie fest.

»Es ist Zeit. Ihr müßt gehen. Crispin wird euch sicher und wohlbehalten aus Arborlon hinausgeleiten. Deine Mutter wird hier bei mir bleiben, bis du fort bist.« Er hielt einen kurzen Moment inne.

»Hab Vertrauen, Amberle. Sei tapfer und mutig.«

Amberle nickte stumm. Dann trat sie noch einmal zu ihrer Mutter hin und umarmte sie. Allanon winkte derweilen Wil Ohmsford zu sich.

»Ich wünsche dir Glück, Wil Ohmsford.« Seine Stimme war kaum vernehmbar. »Denke daran, daß ich mich mehr als alles andere auf dich verlasse.«

Er schüttelte Wil kurz die Hand und trat dann zurück. Wil sah ihn einen Moment lang an, dann spürte er Crispins Hand auf seiner Schulter und drehte sich um.

»Bleibt dicht bei mir«, empfahl der Elf und ging schon auf die große Stalltür zu.

Wil und Amberle folgten ihm. An der Tür blieb er stehen und stieß einen schrillen Pfiff aus, um den anderen Jägern das Signal zu geben. Beinahe augenblicklich erscholl die Antwort. Crispin glitt durch die Tür in den Regen hinaus. Wil und Amberle zogen ihre Umhänge fester um sich und eilten ihm nach.

Schnell liefen sie den Hang hinunter zum Ziehweg, gingen ein kurzes Stück in der Richtung, aus der sie gekommen waren, und bogen dann in einen anderen Pfad ein, der nach Osten führte. Drei Elfen-Jäger, die wie Schatten aus dem Wald auftauchten, schlossen sich ihnen an. Wil warf noch einen Blick zurück zu dem einsamen Schuppen, doch er war schon in Dunst und Regen verschleiert.

Der Pfad wurde jetzt sehr schmal, und die Bäume des Waldes rückten immer näher heran. Zwischen dunklen, regenfeuchten Stämmen hindurch und unter durchhängenden, wasserschweren Zweigen hinweg folgten die sechs Wanderer dem von Furchen durchzogenen Pfad hügelabwärts. Er mündete schließlich in einer langen Holztreppe, die sich den Hang hinunter durch den Wald wand. Weit unten, kaum erkennbar durch die Schwaden allmählich lichter werdenden Nebels, lag das graue Band des Singenden Flusses. Im Osten dehnten sich Weiden und Wälder aus.

Crispin winkte sie vorwärts. Es war ein langer und recht beschwerlicher Abstieg. Die Stufen waren schmal und glitschig vom Regen, so daß man bei jedem Schritt darauf achten mußte, nicht abzurutschen. Ein rauhes, teilweise zerfranstes Seil, das lose von Pfosten zu Pfosten hing, diente als Führung, und Wil und Amberle hielten sich vorsichtig daran fest, während sie Stufe um Stufe abwärts stiegen.

Hunderte von Stufen tiefer erreichten sie wiederum einen Pfad, der in ein Föhrenwäldchen mündete. Irgendwo vor sich konnten sie das träge Glucksen des vom Regen angeschwollenen Flusses hören. Sein Rauschen vermischte sich mit dem tiefen Heulen des Windes, der von den Höhen des Carolan herunterwehte.

Als sich mehrere hundert Schritte weiter der Wald lichtete, sahen sie, daß sie sich am Ufer einer kleinen Bucht befanden, die im Schutz mächtiger alter Trauerweiden und Zedern lag. Hier schaukelte, an einem morschen, langsam verrottenden Steg festgemacht, ein kleines Schiff auf den Wellen. Auf seinem Deck stapelten sich Kisten und Säcke, die mitÖlzeug überdeckt waren.

Crispin gab ein Zeichen zum Anhalten. Die Jäger hinter ihm verschwanden unter den Bäumen wie Gespensterwesen. Er blickte sich aufmerksam um und ließ dann wiederum einen schrillen Pfiff hören. Vom Schiff kam sogleich Antwort, und wenig später ertönte auch von der anderen Seite der Bucht ein Erwiderungspfiff. Crispin nickte Wil und Amberle zu und trat aus dem Schutz des Waldes heraus. Die Köpfe eingezogen, um der Gewalt des Windes zu trotzen, hasteten die drei den Steg entlang. Dumpf klang das Poltern ihrer Stiefel auf dem nassen Holz. Dann sprangen sie an Bord des wartenden Schiffes. Ein Jäger tauchte plötzlich unter dem Ölzeug hervor, zog eilig ein Stück des Tucheszurück, um eine Öffnung zwischen den aufgetürmten Kisten freizugeben. Crispin bedeutete Wil und Amberle einzutreten. Beinahe geräuschlos fieldas Ölzeug hinter ihnen wieder herab.

Drinnen war es warm und trocken. Die Finsternis verwirrte sie anfangs, und sie blieben unsicher stehen, während sie das Schwanken des Schiffes unter ihren Füßen spürten. Doch durch einen Spalt an jener Stelle, wo das Öltuch zum Deck herabfiel, sickerte etwas Licht, und langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie entdeckten, daß man hier inmitten der gestapelten Kisten eine Art Kabine für sie eingerichtet hatte. Nahrungsmittel und Decken lagen an einer Wand bereit, und in einer Ecke warteten Waffen in Lederhüllen. Sie streiften ihre Umhänge ab und breiteten sie auf dem Boden zum Trocknen aus. Dann setzten sie sich nieder und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Wenig später spürten sie, wie das Schiff von dem alten Steg abstieß und sacht auf der Strömung davonglitt. Ihre Reise in den Wildewald hatte begonnen.

Diesen und den folgenden Tag verbrachten sie im Versteck ihrer kleinen Kabine, da Crispin ihnen untersagt hatte, auch nur einen Schritt an Deck zu tun. Es regnete ohne Unterlaß, und Land und Himmel blieben grau und dunstig. Ein gelegentlicher Blick nach draußen zeigte ihnen die Landschaft, durch die diese erste Etappe ihrer Reise sie führte — weite Wälder und sanft gewellte Hügel. Nur einmal zwängten mehrere Stunden lang schroffe Felswände den Singenden Fluß ein, auch sie verhangen im Nebel und Regen, der alles in ein sanftes graues Licht tauchte. Der Fluß, der von den Regenfällen angeschwollen war und auf dessen Wasser abgebrochene Äste und viel anderes Strandgut dahintrieben, schüttelte und rüttelte das kleine Schiff gründlich durch.

Schlaf zu finden war unmöglich. Sie mußten sich mit kurzen Ruhepausen begnügen, aus denen sie unausgeschlafen erwachten. Meist brauchten sie ein paar Augenblicke, ehe sie sich erinnerten, wo sie waren. Muskeln und Gelenke wurden steif und begannen zu schmerzen. Das ständige Schlingern des Schiffes raubte ihnen den Appetit.

Endlos schien die Zeit sich hinzuziehen. Meist waren sie allein miteinander. Nur ab und zu kamen Crispin oder einer der anderen Elfen herein, um sich etwas aufzuwärmen. Wann die Elfen aßen und schliefen, war ein Rätsel; es hatte den Anschein, als seien sie dauernd mit ihrer Arbeit an Bord und mit der Überwachung ihrer beiden Passagiere beschäftigt. Immer stand mindestens ein Elf vor dem Eingang zu der verborgenen kleinen Kabine Wache. Mit der Zeit wurden Wil und Amberle die Namen geläufig, weil sie sie immer wieder im Gespräch hörten. Einige Namen konnten sie auch mit Gesichtern in Verbindung bringen, wie im Fall von Dilph, dem kleinen dunklen Elf mit den verschmitzten Augen und den kräftigen Händen, oder wie bei Katsin, dem grobknochigen Burschen, der kaum je ein Wort sprach. Das waren die, die ab und an in die Kabine kamen. Andere, wie Kian, Rin, Cormac und Ped, blieben gesichtslose Stimmen.

Crispin bekamen sie häufiger als die anderen zu Gesicht. Er schaute nämlich regelmäßig herein, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und sie über den Fortgang der Reise zu unterrichten. Doch er blieb nie länger als ein paar Minuten, hatte es stets eilig, zu den Leuten zurückzukehren, die seinem Oberbefehl anvertraut waren.

Die Gespräche, die sich mit der Zeit zwischen ihnen entspannen, waren es schließlich, die das Eingesperrtsein, die Monotonie und die Einsamkeit erträglich machten. Sie ergaben sich, dachte Wil, aus einem beiderseitigen Bedürfnis heraus, wenn sie auch mit aller Vorsicht und einiger Verlegenheit begonnen wurden, da sie sich beide noch mit einem starken Gefühl von Unsicherheit gegenüberstanden. Wie es kam, daß Amberle sich aus dem Schneckenhaus herauswagte, in das sie sich seit Anfang ihrer Reise in Havenstead zurückgezogen hatte, wußte Wil nicht zu sagen; doch ihre Haltung schien sich auf erstaunliche Weise zu verändern. Anfangs hatte sie sich nur widerstrebend auf einen Austausch mit Wil eingelassen; jetzt hingegen schien sie ganz versessen darauf, sich mit ihm zu unterhalten, wollte alles über seine Kindheit in Shady Vale hören, als seine Eltern noch am Leben gewesen waren, und über seine späteren Jahre, als er mit seinem Großvater und seinem Großonkel Flick zusammengelebt hatte. Sie wollte wissen, wie es ihm bei den Stors ergangen war, und wie er sich seine Arbeit vorstellte, wenn er Storlock wieder den Rücken kehrte, um als Heilkundiger ins Südland heimzukehren. Ihr Interesse an ihm war echt und tiefgehend, und es entsprang einem inneren Bedürfnis.

Aber nicht nur um ihn drehten sich ihre Gespräche. Sie sprachen auch von ihr, von ihrer Kindheit als Enkelin des Königs der Elfen, von ihrer Jugend als einziges Kind des verstorbenen Sohnes von Eventine. Sie erzählte Wil viel über die Lebensweise der Elfen und ihren unerschütterlichen Glauben, daß man dem Land, das einen genährt hatte, etwas von seinem eigenen Leben zurückgeben müsse. Sie tauschten ihre Vorstellungen darüber aus, wie die verschiedenen Rassen den Bedürfnissen der anderen und den Bedürfnissen der Erde besser gerecht werden könnten. Sie plädierten beide für gegenseitiges Verständnis, Mitgefühl und Liebe, und entdeckten verwundert, daß sie in vielem gleicher Ansicht waren.

Behutsam, Schritt um Schritt, knüpften sie das Band zwischen sich. Absichtlich vermieden sie es, auch nur mit einem Wort den Auftrag zu erwähnen, der ihnen aufgegeben war, und sie sprachen auch nicht von dem schrecklichen Unglück, das das Elfenvolk bedrohte, und von ihrer eigenen Verantwortung dafür, dieses Unglück zu verhindern. Auch des uralten, geheimnisvollen Baumes mit Namen Ellcrys gedachten sie mit keinem Wort. Dazu blieb später noch Zeit; diese Wartezeit konnte nutzbringender verbracht werden. Nicht durch Worte kamen sie zu dieser Auffassung, sondern durch stillschweigendes Einverständnis. Sie wollten offen von der Vergangenheit und von der Zukunft sprechen; von der Gegenwart aber wollten sie nichts sagen.

Die Gespräche vermittelten ihnen ein Gefühl von Geborgenheit. Draußen fiel unablässig der Regen, und graue Nebelschwaden wallten über das Land, während der Singende Fluß all seine Lieder vergessen zu haben schien und mit mürrischem Gurgeln sich nach Süden ergoß. Eingesperrt in Finsternis, von Wind und Regen bedrängt, ohne Schlaf und ohne Appetit, hätten sie vielleicht schnell Furcht und Zweifeln nachgegeben. Doch die Gespräche gaben ihnen Trost und Kraft, die gemeinsamen Empfindungen und gegenseitigem Verständnis entsprangen. Jedem vermittelte die Gegenwart des anderen ein Gefühl von Sicherheit, verdrängte zumindest teilweise das beängstigende Gefühl, daß ihre Welt im Untergehen begriffen war, und daß sich mit diesem Untergang ihr Leben auf immer verändern würde. Jedem schenkte die Gegenwart des anderen, das Gespräch mit ihm, Hoffnung. Ganz gleich, was in den kommenden Tagen auf sie einstürzen würde, sie würden ihm gemeinsam ins Gesicht blicken. Keiner würde allein stehen müssen.

Irgendwann im Laufe dieser grauen, bleischwer dahinsickernden Stunden geschah Wil Ohmsford etwas Seltsames. Zum erstenmal seit jener Nacht in Storlock, als er sich bereit erklärt hatte, mit Allanon ins Westland zu ziehen, empfand er eine tiefe herzliche Sorge um Amberle Elessedil.

Am späten Nachmittag des zweiten Reisetags erreichten sie den Drey-Wald. Die schweren Regenfälle waren zu dünnem Nieselregen abgeflaut, und die Luft war mit dem Nahen der Nacht plötzlich bitterkalt geworden. Graues Zwielicht hüllte den Wald ein. Aus Westen wälzte sich eine neue dunkle Wand drohender Wolken heran.

Der Drey-Wald überzog mit dichtem Baumbestand eine Kette niedriger Hügel, die vom linken Ufer des Singenden Flusses nach Osten führten zu einem zackigen Kamm schroffer Felsspitzen. Ulmen, Eichen und rauhborkige Hickory-Bäume breiteten ihre ausladenden Äste über einem wirren Geschlinge von Gestrüpp und toten Büschen aus, und der ganze Wald roch modrig und faul. Nur ein paar Dutzend Schritte landeinwärts vom Fluß war nichts mehr als tiefe, undurchdringliche Schwärze. Das feine Rauschen des Regens, der in dünnen Schnüren in die Bäume fiel, war das einzige Geräusch in der Stille.

Die Elfen-Jäger steuerten das Schiff in eine seichte Bucht, wo eine Schlippe vom Ufer herausragte. Die Wellen der Bucht brachen sich an den Pfählen, auf denen sie errichtet war, und spülten über ihre Holzbohlen hinweg. Am Ufer, dicht am Waldrand, stand eine verwitterte Blockhütte, deren Tür und Fenster mit Läden verschlossen waren. Nachdem die Elfen-Jäger das Schiff an den Pfählen festgemacht hatten, sprangen sie an das Ufer.

Crispin holte Wil und Amberle aus ihrer Kabine, nicht ohne sie vorher ermahnt zu haben, ihre Umhänge überzuwerfen und die Kapuzen aufzusetzen. Froh, endlich ihre Glieder wieder strecken zu können, folgten ihm die beiden auf die Schlippe hinaus. Das Wasser des Singenden Flusses leckte an ihren Füßen, und sie eilten rasch ans Ufer.

Dilph trat zu der Blockhütte, öffnete die Tür, blickte sich flüchtig um und zog sich zurück. Mit einem Kopfschütteln sah er Crispin an. Der Hauptmann runzelte die Stirn.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Wil.

Crispin sah ihn nicht an.

»Eine Vorsichtsmaßnahme. Der Hauptstützpunkt ist eine halbe Meile landeinwärts auf der Höhe eines Hügels, wo man rundum das Land überblicken kann. Ich hätte angenommen, daß die Jäger, die dort stationiert sind, uns hätten kommen sehen müssen. Aber vielleicht war das bei diesem Wetter nicht möglich.«

»Und was ist das hier für eine Hütte?« wollte Wil wissen.

»Das ist eines von mehreren Wachhäuschen, die zu dem Stützpunkt gehören. Im allgemeinen ist es besetzt.« Er zuckte die Schultern. »Aber bei dem miesen Wetter hat der Befehlshaber des Stützpunktes vielleicht alle seine Leute zurückgezogen. Er wurde ja von unserem Kommen nicht unterrichtet, hatte daher keinen Grund, uns zu erwarten.« Er richtete den Blick wieder auf den Wald. »Entschuldigt mich einen Augenblick, bitte.«

Er winkte den anderen Elfen, zu ihm zu kommen, und sie steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen.

Amberle trat näher zu Wil heran.

»Glaubst du ihm?« wisperte sie.

»Ich weiß nicht recht.«

»Ich vertraue ihm jedenfalls nicht. Vielmehr glaube ich, hier ist etwas nicht in Ordnung.«

Wil antwortete nicht. Schon war die Besprechung beendet. Katsin kehrte zur Landungsschlippe zurück und nahm nahe beim festgemachten Schiff Aufstellung. Cormac und Ped hatten am Waldrand Posten bezogen. Crispin sprach jetzt mit Dilph, und Wil rückte näher heran, um hören zu können, was vor sich ging.

»Erkunde mit Rin und Kian zusammen den Hauptstützpunkt.« Der Hauptmann warf einen Blick zurück über die Schulter auf Wil. »Wenn alles in Ordnung ist, dann gebt uns ein Zeichen.«

Wil faßte einen schnellen Entschluß.

»Ich komme mit«, verkündete er und trat vor.

Crispin verzog das Gesicht.

»Ich sehe keinen Grund dafür.«

Wil gab nicht nach.

»Ich glaube, den kann ich Euch nennen. Nicht nur Ihr, sondern auch ich trage die Verantwortung für Amberles Sicherheit; weil ich sie beschützen soll, hat Allanon mich zum Begleiter für sie bestellt. Wie man sich dieser Pflicht entledigt, ist Ansichtssache, Crispin, ich jedenfalls bin der Ansicht, daß es meine Pflicht ist, mit Dilph zusammen das Terrain zu sondieren.«

Crispin ließ sich das durch den Kopf gehen, dann nickte er.

»Gut, aber Ihr müßt Euch strikt an Dilphs Befehle halten.«

Wil wandte sich wieder Amberle zu.

»In Ordnung?«

Sie nickte und blickte ihm stumm nach, als er den Elfen-Jägern in die Finsternis der Bäume folgte und aus ihrem Blickfeld verschwand.

Wie Geister glitten die vier durch die Schatten der Bäume, und ihr Schritt war lautlos auf dem feuchten Boden. Nebel umwob sie in dichten, wasserschweren Girlanden, und leise und sacht fiel der Regen. Endlose Reihen dunkler Stämme glitten an ihnen vorüber, während sie sich durch dichtes Gestrüpp schlugen, immer aufwärts, steile Hänge hinauf und Hügelrücken entlang. Die Minuten verrannen, und Wil spürte, wie ihm immer unbehaglicher wurde.

Dann trennten sich Kian und Rin von ihnen und verschwanden in den Bäumen. Wil war mit Dilph allein. Eine Lichtung tauchte plötzlich aus den Dämmerschatten auf, und Dilph ging in die Knie, wobei er Wil bedeutete, das gleiche zu tun. Dann wies er in die Bäume hinauf.

»Da!« flüsterte er.

Hoch im verschlungenen Geäst zweier mächtiger Eichen befand sich der Stützpunkt der Elfen. Regen und Nebel verschleierten die Hütten und Gänge, die sie miteinander verbanden. Weder Öllampen noch Fackeln brannten im Inneren. Nichts rührte sich. Kein Laut war zu hören. Es war, als sei der Stützpunkt verlassen.

Doch das durfte nicht sein.

Dilph kroch vorsichtig ein kleines Stück vorwärts, spähte nach links in die Düsternis, bis er Rin erblickte, dann nach rechts, bis er Kian fand. Beide knieten im Schutz der Bäume, jeder etwa fünfzig Schritte von ihnen entfernt, und beobachteten den Stützpunkt, der völlig ohne Leben war. Dilph pfiff leise, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als sie zu ihm herüberblickten, bedeutete er Kian, sich naher heranzuschleichen, während er Rin aussandte, den Umkreis der Lichtung zu erkunden.

Wil sah, wie Kian zum Fuß der Eichen rannte, die den Stützpunkt trugen, wie er die versteckten Stufen in dem gewaltigen Stamm fand und aufwärts zu klettern begann. Dann erhob sich Dilph, und Wil folgte ihm, als er sich, im Schatten der Bäume am Rand der Lichtung bleibend, nach rechts wandte, um mit scharfen Blicken nach einer Spur der verschwundenen Elfen zu suchen. Es war lichtlos und grau im Wald, und durch das Dickicht war kaum etwas zu sehen.

Wil blickte zurück zu dem Stützpunkt. Kian hatte den untersten Unterschlupf fast erreicht, eine niedrige Hütte unmittelbar unterhalb des Haupthauses. Rin war nirgends zu sehen. Wil hielt noch nach ihm Ausschau, als er plötzlich über eine Unebenheit stolperte und bäuchlings über die grauenvoll zerfetzte Leiche eines Elfen-Jägers stürzte. Von Entsetzen gepackt, sprang er auf, während sein Blick schon fieberhaft die Finsternis rundum durchstreifte. Links von ihm lagen noch zwei tote Elfen mit zerschmetterten Knochen und verrenkten Gliedern.

»Dilph!« flüsterte er rauh.

Sogleich war der Elf neben ihm. Nur einen Moment hielt er inne, das Schreckliche aufzunehmen, dann stürzte er an den Rand der Lichtung und pfiff schrill. Rin tauchte aus dem Wald auf, Bestürzung auf den Zügen. Von der Höhe der Eichen blickte Kian herab. Wie ein Rasender winkte Dilph sie zurück.

Doch da verschwand Kian plötzlich. Es war, als griffe etwas nach ihm und risse ihn in die Finsternis. So plötzlich geschah es, daß der verblüffte Wil den Eindruck hatte, der Elf hätte sich einfach in Luft aufgelöst. Doch da gellte der Schrei durch die Stille, kurz und erstickt. Dann stürzte Kians Körper aus den Bäumen, fiel wie ein abgebrochener Ast durch den Regen und schlug leblos auf den durchweichten Boden auf.

»Lauft!« schrie Dilph und hetzte in den Wald.

Wil war einen schrecklichen Augenblick lang wie gelähmt. Kian war tot. Mit ziemlicher Sicherheit war die gesamte Besatzung des Elfen-Stützpunktes im Drey-Wald ebenfalls tot. Seine Gedanken überschlugen sich in heller Panik — nur einer blieb beherrschend: Wenn er nicht rechtzeitig zu Amberle kam, dann würde auch sie getötet werden. Da lief er los, jagte wie ein gehetztes Reh durch das Dickicht des Waldes, sprang über Büsche und Gestrüpp, nur ein Ziel vor Augen, das Schiff zu erreichen und das arglose Elfenmädchen zu warnen, dessen Leben er beschützen sollte. Irgendwo zu seiner Rechten konnte er Dilph hören, der floh wie er, und weiter zurück Rin. Er wußte instinktiv, daß etwas sie alle verfolgte. Er konnte es nicht sehen und konnte es nicht hören, aber er spürte es, schrecklich und schwarz und erbarmungslos. Regen peitschte ihm ins Gesicht und rann ihm in die Augen, so daß er kaum noch etwas sah, während er krampfhaft versuchte, umgestürzten Baumstämmen und Dornengestrüpp auszuweichen. Einmal stürzte er, raffte sich jedoch gleich wieder auf, hastete weiter, ohne nachzulassen, nur das eine im Sinn, den Abstand zwischen sich und dem unsichtbaren Verfolger zu vergrößern. Die Brust wollte ihm schier bersten vor Anstrengung, und seine Beine schmerzten. Selten in seinem Leben hatte er Angst gehabt, jetzt aber trieb ihn Todesangst an.

Rins Schrei zerriß gellend die Stille. Das Ungeheuer hatte ihn eingeholt. Wil biß die Zähne zusammen. Vielleicht waren die Elfen am Schiff jetzt gewarnt. Vielleicht würden sie gleich ablegen, so daß wenigstens Amberle entkommen würde, selbst wenn er wie Rin eingeholt werden sollte.

Äste und Zweige hielten ihn fest wie zupackende Hände. Er suchte Dilph, doch der Elf war nicht mehr zu sehen. Allein rannte er weiter.

Rasch senkte sich der Abend über den Drey-Wald, und der graue Nachmittag wurde zur Nacht. Der Nieselregen, der den ganzen Tag in stetiger Monotonie niedergegangen war, wurde plötzlich zum strömenden Guß, und der Wind begann in stürmischen Böen zu tosen, als eine neue Zusammenballung schwarzer Gewitterwolken sich über den Himmel schob. Die Elfen-Jäger und das Mädchen, das ihrer Obhut anvertraut war, zogen die wärmenden Umhänge fester um sich.

Dann drang aus den Tiefen des Waldes der Schrei, hoch und dünn, so flüchtig, daß er im Toben des Windes beinahe untergegangen wäre. Einen Moment lang standen alle wie versteinert und starrten auf die finstere Mauer der Bäume. Dann brüllte Crispin mit scharfer Stimme Befehle, schickte Amberle aufs Schiff, in die Verborgenheit der kleinen Kabine, rief Ped und Cormac zu sich. Mit gezogenen Waffen wichen die drei Jäger bis zum Ende des Stegs zurück, während sie mit durchdringenden Blicken das von Nebeln durchzogene Gewirr des Waldes absuchten. Katsin, der aufs Schiff zurückbeordert worden war, machte die Taue los und wartete nur auf den Befehl abzulegen.

Amberle hockte zusammengekauert in der Dunkelheit der Kabine und lauschte dem Prasseln des Regens und dem Heulen des Windes. Dann sprang sie auf, schlug die Klappe vor der Kabinenöffnung zur Seite und trat wieder an Deck hinaus. Gleichgültig, was für Folgen es hatte, sie konnte sich nicht in dieser Kabine verkriechen, ohne zu wissen, was um sie herum vorging. An den aufgetürmten Kisten entlang tastete sie sich zum Steg. Katsin, die Schiffstaue fest in den Händen, aber bereit, sie jederzeit loszulassen, warf ihr einen strengen Blick zu, doch Amberle achtete nicht auf ihn. Am Ufer, mehrere Schritte vom Steg entfernt, standen mit gezogenen Waffen die übrigen Jäger. Das Metall ihrer Schwertklingen schimmerte matt im Regen.

Plötzlich brach keine fünfzig Schritte flußabwärts eine keuchende Gestalt aus dem Wald hervor, stolperte und stürzte der Länge nach hin. Als die Gestalt sich wieder aufgerappelt hatte, sahen sie, daß es Dilph war.

»Weg!« schrie er warnend. »Schnell, weg hier!«

Er rannte zu ihnen hin, stürzte wieder.

Doch Crispin war schon in Aktion. Mit einem gebieterischen Wort sandte er Ped und Cormac aufs Schiff, während er dem geschwächten Dilph zu Hilfe eilte. In vollem Lauf beinahe riß er den Elf vom Boden in seine Arme, schwang ihn über seine Schulter und war schon auf dem Rückweg zum wartenden Schiff.

Amberle spähte durch Dunst und Regen in die Bäume. Wo war Wil Ohmsford? »Ablegen«, brüllte Crispin.

Katsin ließ die Taue fahren und stieß Amberle dann hastig aufs Schiff, wo Ped und Cormac schon warteten. Eine Sekunde später war auch Crispin mit Dilph an Bord, und das schwere Fahrzeug begann davonzugleiten.

Da tauchte plötzlich Wil Ohmsford auf, sprang wie ein gehetztes Wild aus dem Dunkel des Waldes und hielt auf den Steg zu. Amberle sah ihn, wollte rufen, erstarrte. Im Schatten der Bäume hinter dem fliehenden Talbewohner bewegte sich ein riesiges Wesen, das ihn verfolgte.

»Gib acht!« rief sie warnend.

Von ihrem Ruf angespornt, gewann Wil den Steg mit einem einzigen großen Sprung raste, ohne innezuhalten, die Holzbohlen hinunter und schnellte sich ab, um mit einem gewaltigen Satz das davontreibende Schiff noch zu erreichen. Nur mit einem ausgestreckten Fuß berührte er das Deck und wäre ins Wasser gestürzt, hätten nicht die Elfen-Jäger ihn gepackt und hochgezogen.

Das Schiff glitt ins offene Wasser des Singenden Flusses hinaus, und die Fahrt wurde schneller. Erschöpft sank Wil zu Boden, und Amberle streifte rasch ihren Umhang ab und hüllte Wil fest darin ein. Neben ihnen beugte sich Crispin über Dilph. Der Wind und das Rauschen des Flusses zerfetzten seine Worte.

»… tot — alle… zerschmetterte Glieder… wie die Leute von dem Spähtrupp in Arborlon, wie die Erwählten.« Mit weit geöffnetem Mund schnappte er nach Luft. »Kian auch — und Rin. Beide tot… der Dämon hat sie eingeholt… er erwartete uns…«

Das übrige hörte Amberle nicht mehr. Ihr Blick traf sich mit dem Wils. Mit schrecklicher Gewißheit erkannten sie beide die Wahrheit.

Der Dämon hatte sie erwartet.

Allanon hatte ihm einen Namen gegeben. Er hatte ihn den Raffer genannt.

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