Der Sommertag erlosch in einem leuchtenden Feuerwerk, das den westlichen Himmel in goldenes Rot und zartes Lavendel tauchte. Minutenlang hing die Sonne in strahlender Pracht über den Felsgipfeln des Grimmzacken-Gebirges, warf ihr Licht über die Wipfel der Wälder von Westland und wob zarte Gespinste von Schatten, die sich sanft und leicht über die bewaldete Erde senkten. Langsam kühlte sich die Luft ab, und die Hitze des Nachmittags verflog, als ein leichter Abendwind seufzend durch die mächtigen, stillen Bäume strich. Das Tageslicht verblich, die hereinbrechende Nacht raubte dem Himmel die Farbe. Die Bewohner der Elfenstadt Arborlon wanderten müde ihren Häusern zu. In den Gärten des Lebens stand Andor Elessedil und blickte stumm zu dem Ellcrys auf. Im grauen Licht des Abends schien der mächtige Baum unverändert, kräftig und gesund. Doch der Anblick täuschte. Vor Sonnenuntergang waren die Male der Krankheit, die den großen Baum zerstörten, deutlich sichtbar gewesen. Die Krankheit breitete sich rasch aus. An mehreren kleineren Ästen fraß die Fäule schon an der silberweißen Borke. Breite Blätterbüschel hingen schlaff und ausgedörrt herunter, das tiefe leuchtende Rot nun in ein stumpfes Schwarz verändert. Die Erwählten hatten die Rinde des Stammes sorgfältig mit Kräuterbalsam eingerieben und die kranken Blätter abgezupft, in der Hoffnung, daß die Krankheit sich eindämmen lassen würde. Obwohl sie ahnten, daß ihre Mühe vergebens war. Andor hatte die Wahrheit in ihren Augen erkannt. Sie konnten den Ellcrys nicht heilen. Niemand vermochte den Baum zu retten. Er starb, und es gab kein Mittel, sein Sterben zu verhindern. Andor seufzte und wandte sich ab. Er wußte selbst nicht recht, warum er zu dieser späten Stunde noch einmal in die Gärten des Lebens zurückgekehrt war. Die Erwählten hatten sich schon längst in ihr Nachtlager zurückgezogen, müde und entmutigt, schweigsam im Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er war dennoch noch einmal zurückgekehrt, getrieben von der unvernünftigen Hoffnung, daß sich die Antworten, nach denen sie so verzweifelt forschten, vielleicht doch in der Nähe des Baumes finden lassen würden. Doch Andor war ohne Antwort geblieben, und jetzt, da die Nacht hereinbrach, hatte es wenig Sinn, noch länger auszuharren. Er fühlte die Blicke der Schwarzen Wachen in seinem Rücken, als er durch das Tor aus dem Garten hinausschritt. Sie ahnten nichts von der Krankheit des Baumes, doch sie spürten zweifellos, daß etwas nicht in Ordnung war. Das hatte ihnen das merkwürdige Verhalten der Erwählten auf jeden Fall verraten. Bald, dachte er, würde es sich herumsprechen — Gerüchte würden wachsen. Nicht mehr lange und man würde den Leuten die Wahrheit sagen müssen.
Im Augenblick jedoch war alles still. Hier und dort erloschen schon die ersten Lichter, Fenster verdunkelten sich, als die Bewohner der Häuser sich zum Schlaf niederlegten. Er beneidete sie. Es bestand kaum eine Aussicht, daß er — oder der König — in dieser Nacht Schlaf finden würde.
Wieder seufzte er. Hätte er doch seinem Vater nur irgendwie helfen können! Stets war Eventine sich seiner Sache so sicher gewesen, stets ruhig und gelassen im Vertrauen darauf, daß sich für jedes Problem eine Lösung finden ließ. Nun aber, nach zwei Besuchen von Andor, in denen dieser ihm nur Mißerfolge hatte melden können, erweckte der König den Eindruck, als habe er sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Er hatte sich halbherzig bemüht, seinen Sohn nichts merken zu lassen, doch es war offensichtlich, wie verzweifelt er war und nur noch auf die Zerstörung all dessen wartete, worum er sein Leben lang sich gemüht hatte. Er sah sich vor eine Herausforderung gestellt, mit der er nicht fertig werden konnte. Kaum ein Wort wechselte er mit seinem Sohn, bis er ihn mit dem Auftrag wieder aussandte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um doch noch Genaueres zu erfahren.
Das Unterfangen hatte sich als sinnlos erwiesen. Jeden einzelnen der Erwählten hatte Andor befragt, hatte sie dann alle gemeinsam um sich versammelt und nochmals ins Verhör genommen, um auf diesem Weg vielleicht auf einen Hinweis zu stoßen, der zum Sichermal führen würde. Doch er hatte nichts Neues erfahren.
Und auch ein Studium der sorgfältig aufbewahrten Aufzeichnungen ihres Ordens hatte nichts erbracht. Er hatte geschichtliche Zeugnisse durchgesehen, die Jahrhunderte alt waren, hatte geprüft und wieder geprüft. Wiederholt war er auf Hinweise auf das heilige Blutfeuer gestoßen, den Lebensquell ihrer Welt und alles Lebendigen auf ihr. Nirgends jedoch wurde jener geheimnisvolle Ort namens Sichermal erwähnt.
Und auch der Ellcrys selbst hatte ihnen nicht mehr weitergeholfen. Auf Andors Vorschlag waren die Erwählten noch einmal zu dem Baum gegangen, erst einzeln, dann gemeinsam, und hatten ihn angefleht, ihnen deutlichere Hinweise zu geben, damit sie seine Bilder verstehen könnten. Doch er sprach nicht zu ihnen. Er blieb stumm.
Als Andor sich dem Haus der Erwählten näherte, bemerkte er, daß die Lichter schon alle gelöscht waren. Offenbar hatte die tägliche Gewohnheit ihren Tribut gefordert, und die jungen Männer hatten sich zur üblichen Zeit, kurz nach dem Abendbrot, in ihre Schlafgemächer zurückgezogen. Er hoffte, sie würden im Schlaf Trost und Erleichterung finden.
Einem Fußpfad folgend, der zum Herrenhaus führte, eilte er lautlos an dem Haus vorüber, um seinem Vater einen letzten Bericht zu bringen, als ein dunkler Schatten unter einem niedrigen Baum neben dem Pfad hervortrat.
»Herr?«
»Lauren?« fragte er zurück. Als die Gestalt näher kam, erkannte er tatsächlich den jungen Elf. »Warum schläfst du denn noch nicht?«
»Ich habe es versucht, aber ich fand keinen Schlaf. Ich — ich sah Euch zu den Gärten hinaufgehen und hoffte, daß Ihr auf diesem Weg zurückkommen würdet. Prinz Andor, kann ich einen Augenblick mit Euch sprechen?«
»Aber du sprichst ja schon mit mir, Lauren«, versetzte Andor. Doch die scherzhaft gemeinte Bemerkung konnte den anderen nicht aufheitern. »Ist dir noch etwas eingefallen?«
»Ja, vielleicht. Es geht nicht um das, was der Ellcrys uns mitgeteilt hat; es ist etwas anderes, aber ich glaube, Ihr solltet es wissen. Darf ich Euch ein Stück des Wegs begleiten?«
Andor nickte zustimmend. Sie entfernten sich langsamen Schrittes vom Haus der Erwählten.
»Ich habe das Gefühl, als mußte ich dieses Problem lösen«, begann Lauren nach einer geraumen Weile des Schweigens. »Vielleicht kommt es daher, daß der Ellcrys zuerst zu mir gesprochen hat; es scheint mir jedenfalls so, als sei ich persönlich verpflichtet, Sichermal zu finden. Ich weiß, daß ich mir wahrscheinlich selbst damit zu hohe Bedeutung beimesse, aber das Gefühl bleibt trotzdem. Und auf keinen Fall möchte ich irgend etwas übersehen.« Er warf dem Prinzen einen Blick zu. »Könnt Ihr verstehen, was ich meine?«
»Ja, ich glaube schon. Haben wir denn etwas übersehen?«
»Ja, also mir ist etwas eingefallen. Und irgend jemandem wollte ich es wenigstens sagen.«
Andor verhielt den Schritt und sah den jungen Elf an.
»Dem König wollte ich davon nichts sagen.« Laurens Unbehagen wuchs. »Und zu den anderen auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, wieviel sie eigentlich wissen — und wir sprechen nie von ihr…«
Seine Stimme verhallte in der Stille der Nacht. Andor wartete geduldig.
»Ich meine Amberle. Nach ihrer Erwählung hat sie viele Male mit dem Ellcrys gesprochen — es waren lange Gespräche.« Die Worte kamen langsam. »Bei ihr war alles ganz anders als bei uns. Ich weiß nicht, ob sie sich dessen je bewußt war. Wir haben eigentlich nie darüber gesprochen …«
Andor war mit einer heftigen Bewegung hochgefahren. Lauren fühlte die Reaktion und sprach eilig weiter.
»Vielleicht würde der Ellcrys wieder zu ihr sprechen. Vielleicht verstünde sie seine Botschaft auch besser. Es könnte doch möglich sein, daß sie von ihm etwas erfährt, was uns nicht zugänglich ist.«
Diesen Worten folgte ein langes Schweigen, während die beiden Männer einander stumm anblickten. Dann schüttelte Andor bekümmert sein Haupt.
»Amberle kann uns nicht helfen, Lauren. Sie hat uns verlassen. Nicht einmal ihre Mutter weiß, wohin sie gegangen ist. Wir haben keine Möglichkeit, sie so rasch zu finden, daß sie uns noch helfen könnte.«
Der junge Elf nickte bedrückt, während der letzte Hoffnungsschimmer auf seinem Gesicht erlosch.
»Es war nur so ein Gedanke«, sagte er schließlich und wandte sich zurück zum Haus. »Gute Nacht, Prinz Andor.«
»Gute Nacht, Lauren. Dank dir, daß du dich mir anvertraut hast.«
Noch einmal nickte der junge Mann, bevor er auf dem Fußpfad davonschritt. Seine weißen Gewänder raschelten leise, als die Dunkelheit der Nacht ihn aufnahm.
Das dunkle Gesicht gezeichnet von quälender Unruhe, blickte Andor ihm eine Weile nach. Alles, hatte sein Vater gesagt, auch das scheinbar Nichtigste sollte er erkunden, was vielleicht einen Hinweis darauf zuließ, wo Sichermal zu finden war. Doch es gab ja keine Hoffnung, Amberle aufzuspüren. Überall in den vier Ländern konnte sie sich aufhalten. Und dies war kaum der Zeitpunkt, Eventine an sie zu erinnern. Sie war sein Liebling gewesen, ihre Erwählung durch den Ellcrys hatte ihn mit Stolz und Freude erfüllt. Ihr Verrat an der ihr anvertrauten Aufgabe war für ihn viel schwerer zu ertragen gewesen als selbst der Tod ihres Vaters Aine.
Mutlos setzte Andor schweren Schrittes seinen Weg zum Herrensitz fort.
Gael tat noch immer Dienst. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit, seine Augen blickten sorgenvoll. Es war nicht zu vermeiden gewesen, daß er von dem drohenden Unheil erfahren hatte, das sie irgendwie abwenden mußten, doch man konnte sich darauf verlassen, daß er Stillschweigen darüber bewahrte. Er wollte aufspringen, als er des Prinzen ansichtig wurde, doch auf eine Geste von Andor ließ er sich wieder zurücksinken.
»Der König erwartet Euch«, meldete er. »Er ist in seinem Studierzimmer und lehnt es ab, sich schlafen zu legen. Wenn Ihr ihn überreden könntet, wenigstens ein paar Stunden lang zu ruhen…«
»Ich will sehen, was ich tun kann«, gab Andor bedrückt zurück.
Eventine Elessedil blickte auf, als sein Sohn das Studierzimmer betrat. Nur flüchtig forschten seine Augen in Andors Gesicht, lasen dort Enttäuschung und Mißerfolg. Dann schob er seinen Stuhl von dem Lesepult zurück, an dem er gesessen hatte, und rieb sich die müden Augen. Er erhob sich, streckte sich und schritt langsam zum Fenster. Durch die schweren Falten der Vorhänge spähte er hinaus in die Dunkelheit.
Auf dem mit Büchern beladenen Tisch stand unbeachtet ein Tablett mit unberührten Speisen. Die Kerzen waren weit heruntergebrannt; ihr Wachs tropfte auf das glänzende Silber. Es war still in dem düsteren kleinen Raum; die Eichenregale und die mit Teppichen behangenen Wände bildeten einen Hintergrund aus verblichenen Farben und flackernden Schatten. In Stapeln lagen überall die Bücher, die Gael im Laufe des Tages aus dem Kellergewölbe herauf geschleppt hatte.
Der König wandte sich um und sah seinen Sohn an.
»Nichts?«
Andor schüttelte stumm den Kopf. Eventines Gesicht verriet gleichfalls Enttäuschung.
»Ich habe auch nichts gefunden.« Er zuckte die Schultern und wies auf das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Die letzte Hoffnung. Es enthält einen einzigen Hinweis auf das Samenkorn des Ellcrys und auf das Blutfeuer. Lies ihn selbst.«
Das Buch war einer der mehr als hundert Bände geschichtlicher Aufzeichnungen, die von den Elfenkönigen und ihren Schreibern seit den Tagen, in die sich Mythen und Legende verloren, geführt wurden. Es waren abgegriffene, alte Folianten mit schönen, sorgfältig gearbeiteten Einbänden aus Leder und Messing, in Hüllen eingeschlagen, die sie vor der Abnutzung durch die Zeit schützen sollten. Sie hatten die Großen Kriege überdauert sowie die Zerstörung der alten Menschenrasse. Sie hatten den ersten und den zweiten Krieg der Rassen überstanden. Sie hatten die Jahrhunderte von Leben und Tod überlebt, von deren Ereignissen sie Kunde überlieferten. Chroniken mit Tausenden und Abertausenden von Seiten, enthielten sie die vollständige, ihnen bekannte Geschichte des Elfenvolkes.
Andor beugte sich über das aufgeschlagene Buch; die Tinte hatte sich im Lauf der langen Zeit bräunlich verfärbt, altertümliche Schriftzeichen blickten ihn an. Doch die Worte waren klar und leicht zu enträtseln.
›Dann soll das eine Samenkorn jenem übergeben werden, der auserkoren ist. Und dieser soll das Samenkorn zu den Kammern des Blutfeuers tragen, wo es ins Feuer eingetaucht werden soll, um dann der Erde zurückgegeben zu werden. Darauf wird der Baum wiedergeboren werden, und der große Bann der Verfemung wird ewig währen. Also sprach der Hochzauberer zu seinen Elfen im Augenblicke seines Todes, auf daß dieses Wissen seinem Volk nicht verlorenginge.‹
Eventine nickte, als Andor wieder aufblickte.
»Ich habe jedes einzelne dieser Bücher durchgesehen und jeden Absatz, der in Betracht kam, genauestens studiert. Es gibt noch andere Hinweise — aber nirgends steht mehr als in dem Schriftsatz, den du soeben gelesen hast.«
Er begab sich zurück an das Lesepult und blieb dort stehen, während seine Finger zerstreut über die goldgeränderten Seiten strichen.
»Das hier ist das älteste Buch. In ihm steht vieles, was vielleicht nur in das Reich des Mythos fällt. Die Geschichte von dem gnadenlosen Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten, die Namen der Helden, alle Einzelheiten, die zum Bannspruch führten. Aber nirgends wird das Wort Sichermal erwähnt, nirgends der Ort genannt, wo das Blutfeuer zu finden ist. Und es steht auch nichts über das Wesen der Zauberkraft darin, die den Ellcrys geschaffen und den Großen Bann verhängt hat.«
Das, dachte Andor, war nicht ungewöhnlich. Nur in Ausnahmefällen hatten die Alten die Geheimnisse ihrer Zauberkräfte schriftlich niedergelegt. Dieses kostbare Wissen wurde durch mündliche Überlieferung weitergegeben, damit es nicht den Feinden in die Hände fallen konnte. Und manche der Zauberkräfte sollten so mächtig sein, daß sie nur in einer ganz bestimmten Zeit und an einem ganz bestimmten Ort angewendet werden durften. Vielleicht hatte es auch diese Bewandtnis mit den magischen Kräften, die den Ellcrys geschaffen hatten.
Der König ließ sich wieder in seinen Sessel sinken, warf noch einen Blick in das alte Buch und schlug es dann wortlos zu.
»Wir werden uns eben auf das Wenige stützen müssen, was wir von dem Ellcrys erfahren haben«, sagte er leise. »Mit Hilfe dieser Kenntnisse müssen wir die Orte bestimmen, wo das Blutfeuer sich befinden kann, und dann jeden einzelnen aufsuchen.«
Andor nickte stumm. Es schien hoffnungslos. Es sprach kaum etwas dafür, daß sie Sichermal aufgrund dieser vagen Beschreibung jemals finden würden.
»Ich wollte, Arion wäre hier«, murmelte sein Vater unvermittelt.
Andor entgegnete darauf nichts. Er mußte sich eingestehen, daß der König guten Grund hatte, Arion herbeizuwünschen. Arion besaß die Führereigenschaften, die bei der Organisation und Leitung der Suchaktion vonnöten sein würden. Und seine Gegenwart hätte dem Vater einen gewissen Trost gespendet. Das war jedoch nicht der Zeitpunkt, dem Bruder dafür zu grollen.
»Ich finde, du solltest eine Weile schlafen, Vater«, schlug Andor nach einem Augenblick des Schweigens vor. »Du bedarfst der Ruhe, um für das gewappnet zu sein, was vor uns liegt.«
Der König erhob sich aus seinem Sessel und löschte die Kerzen auf dem Tisch.
»Gut, Andor«, erwiderte er und raffte sich zu einem mühsamen Lächeln auf. »Schick mir Gael herein. Aber auch du hast einen langen Tag gehabt. Auch du solltest dich niederlegen und versuchen zu schlafen.«
Andor kehrte in sein Häuschen zurück. Und er verfiel tatsächlich in einen tiefen Schlaf, so sehr ihn das am folgenden Morgen auch verwunderte. Während seine Gedanken sich wie Kreise drehten, überwältigte ihn die körperliche Erschöpfung. Einmal riß ihn mitten in der Nacht ein Alptraum von unbeschreiblicher Entsetzlichkeit aus seinem Schlummer, und er erwachte schweißgebadet. Doch schon Sekunden darauf glitt er wieder in tiefen Schlummer, der Traum war vergessen. Und danach schlief er ungestört.
Die Dämmerung des Tages zog schon herauf, als er wieder erwachte. Eilig sprang er von seinem Lager, um sich anzukleiden. Ein Gefühl neu belebter Entschlossenheit verlieh ihm Kraft, Stärke und Zuversicht. Irgendwo gab es einen Weg, der aus dieser schrecklichen Lage herausführte, eine Möglichkeit, Sichermal zu finden. Vielleicht barg der sterbende Ellcrys den Schlüssel. Vielleicht besaßen ihn die Erwählten. Auf jeden Fall mußte es ihn geben.
Während er den gekiesten Weg hinunterschritt, nahm er wahr, wie das Licht des frühen Morgens durch den dichten Vorhang der umliegenden Wälder sickerte. Zuerst wollte er zu den Erwählten gehen — sie mußten in den Gärten des Lebens zu finden sein, denn ihr Tag hatte ja schon begonnen. Vielleicht würde etwas Neues sich auftun, wenn er noch einmal mit ihnen sprach. Zweifellos hatten sie alle über ihr Gespräch mit dem Ellcrys nachgegrübelt, hatten es hin und her bedacht, und vielleicht war einem von ihnen noch etwas eingefallen. Oder vielleicht hatte der Ellcrys heute morgen noch einmal zu ihnen gesprochen.
Er machte einen Umweg zum Herrenhaus, wo Gael schon auf seinem Posten war. Doch der junge Elf hob einen Finger an die Lippen, um stumm zu bedeuten, daß der König noch schlief und nicht gestört werden sollte. Andor nickte und entfernte sich wieder. Er gönnte seinem Vater jeden Augenblick der Ruhe.
Tauperlen glitzerten noch auf den Rasenflächen, zwischen denen der Weg sich zum Tor hindurchschlängelte. Andor blickte sich erwartungsvoll um und war verwundert, Went nicht bei der Arbeit zu sehen. Noch mehr verwunderte es ihn, einige der Gartengeräte des alten Mannes achtlos hingeworfen am Rande eines der Rosenbeete hegen zu sehen. Feuchte Erde haftete noch an ihnen. Es war ganz und gar nicht Wents Art, eine angefangene Arbeit unbeendet liegen zu lassen. Andor warf einen letzten Blick auf die Blumenbeete und eilte weiter.
Minuten später schritt er an der von Efeu überwucherten Mauer der Gärten des Lebens entlang über den ausgetretenen Pfad, der zum Eingangstor führte. Von der Höhe des Carolan — der gewaltigen Felswand, die am Ostufer des Singenden Flusses jäh emporsprang und Arborlon hoch über die umliegenden Gebiete erhob — konnte er die Weiten von Westland überblicken, die sich zu seinen Füßen dehnten: im Osten und Norden die Türme und von Bäumen beschatteten Pfade der Elfenstadt, umgürtet vom dichten Grün des Waldlandes; im Süden die fernen, dunstgrauen Zacken des Steinkamms und des Pykon-Gebirges, durchwoben vom silberblauen Band des Mermidon-Flusses, der auf seinem langen Weg ins östliche Callahorn die uralten Felsen durchschnitt; im Westen, am Fuße des Carolan und jenseits der rasch sprudelnden Wasser des Singenden Flusses, das Tal des Sarandanon, die Kornkammer des Elfenreiches. Dieses gelobte Land, dachte Andor mit Stolz, war die Heimat der Elfen. Er mußte gemeinsam mit den Erwählten und seinem Vater einen Weg finden, es zu retten.
Wenig später stand er vor dem Ellcrys. Von den Erwählten war nirgends eine Spur zu entdecken. Der Baum stand verlassen.
Ungläubig sah Andor sich um. Undenkbar, daß die Erwählten ihre Pflicht versäumt hatten, auch wenn der gewohnte Ablauf ihres Tages durch die Offenbarung des Ellcrys arg durcheinandergeraten war. Im Laufe von Hunderten von Jahren hatten es die Erwählten niemals unterlassen, dem Baum beim ersten Lichtstrahl des neuen Tages den Morgengruß zu entbieten.
In großer Eile lief Andor aus den Gärten des Lebens hinaus und hastete zu dem von einer Mauer umgebenen Haus der Erwählten. Immergrüne Hecken und Büsche schlossen das Haus ein, Blumenbeete säumten gepflasterte Fußpfade, und hinten waren in langen Reihen Gemüsebeete angelegt, in deren dunkler Erde frisches Grün sproßte. Eine niedrige Mauer aus verwittertem Stein umfriedete den Hof, in den von zwei Seiten weiße Holztürchen hineinführten.
Das Haus selbst lag in stummer Ruhe.
Andor verlangsamte den Schritt. Die Erwählten mußten doch längst wach sein! Doch nichts rührte sich. Eisige Kälte kroch dem Elfenprinzen ins Herz. Er ging weiter, und seine Augen spähten in die Schatten jenseits der geöffneten Haustür. Schließlich blieb er auf der Schwelle stehen.
»Lauren?« rief er leise den Namen des jungen Elfen.
Er bekam keine Antwort. Nun trat er durch die Tür ins Innere des Hauses, aus dem die Schatten der Nacht noch nicht gewichen waren. Am Rande seines Blickfelds nahm er huschende Bewegungen wahr, welche die Zweige der umgebenden Nadelbüsche erzittern ließen. Plötzliche Furcht erfaßte ihn. Was tat sich dort hinten im Dunkel?
Zu spät erinnerte er sich der Waffen, die er in seinem Häuschen zurückgelassen hatte. Eine Weile stand er reglos da und wartete. Doch kein Laut war zu hören, der die Anwesenheit eines anderen lebenden Wesens verraten hätte. Entschlossen ging er weiter.
»Lauren…?«
Inzwischen hatten sich seine Augen auf die Düsternis des Hauses eingestellt, und was er sah, ließ den Namen des jungen Elf in seiner Kehle ersticken — Leichen, die im Wohnraum lagen wie der Tod sie ereilt hatte, zerfetzt, erschlagen, niedergemacht. Lauren, Jase — alle Erwählten waren tot, wie von tollwütigen Raubtieren gerissen. Grenzenlose Verzweiflung übermannte Andor. Es lebte kein Erwählter mehr, um das Samenkorn des Ellcrys zum Blutfeuer zu tragen, wenn man den Weg zum Sichermal wirklich finden sollte. Es würde keine Wiedergeburt des Baumes geben, keine Rettung für die Elfen. Der Anblick der niedergemetzelten Toten erfüllte ihn mit Grauen und Übelkeit, und dennoch war er unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Wie angewurzelt stand er regungslos da, während Entsetzen und Ekel ihn durchschüttelten, und nur ein einziges schreckliches Wort unaufhörlich in seinem Geist widerhallte: Dämonen!
Andor wankte ins Freie, stützte sich gegen die Mauer des Hauses, um das Zittern seiner Glieder zu beruhigen. Als er sich schließlich wieder einigermaßen gefaßt hatte, eilte er auf dem schnellsten Weg zur Schwarzen Wache, um Alarm zu schlagen, dann weiter in die Stadt. Sein Vater mußte in Kenntnis gesetzt werden, und es war das beste, daß er die schreckliche Nachricht von seinem Sohn erfuhr.
Was den Erwählten zugestoßen war, war nur allzu offenkundig. Mit dem allmählichen Verfall des Ellcrys hatte die Bannmauer der Verfemung begonnen abzubröckeln. Den Kraftvollsten unter den Dämonen war der Ausbruch gelungen. Nur Dämonen konnten die Erwählten niedergemetzelt haben. Mit einem einzigen Schlag hatten sie bewirkt, daß sie nie wieder eingekerkert werden würden. Sie hatten all jene vernichtet, die die Wiedergeburt des Ellcrys und die Wiedererrichtung der Bannmauer erreichen konnten, die sie gefangengehalten hatte.
In wilder Hast stürzte er durch das Tor zum Park, in dem das Herrenhaus lag, hastete den Kiesweg hinunter, der am Garten vorbeiführte. Went war jetzt an der Arbeit, hob flüchtig das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht, als der Prinz an ihm vorübereilte. Andor sah ihn kaum, grüßte ihn nicht einmal.
Mit einem Lächeln der Befriedigung senkte sich der Kopf, der Wandler machte sich wieder an die Arbeit.