Unsicher blickte Wil sich um. Dunst und Düsternis verschleierte alles außer dem leuchtenden Flackern des Feuers, das noch in Mallenrohs Turm brannte. Nichts sonst war zu erkennen. Wil hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sie von hier aus weiterwandern sollten. »Hebel, wo ist die Hochwarte?« fragte er eilig. Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Elf. Ich kann überhaupt nichts sehen.« Wil zögerte, dann kniete er rasch auf der Erde nieder und ließ den sich windenden Wisp aus der Umklammerung seines Armes frei. Wisp hielt das alte Gesicht in die Hände vergraben, und sein dicht behaarter Körper war zu einer Kugel zusammengerollt. Wil konnte versuchen was er wollte, es gelang ihm nicht, den kleinen Elf dazu zu bewegen, ihn anzusehen. Schließlich gab er es auf. Wisp bei den Schultern haltend, schüttelte er ihn heftig. »Wisp, hör mir zu. Wisp, du mußt mit mir sprechen. Sieh mich an, Wisp!« Da erst spähte der kleine Bursche widerwillig zwischen gespreizten Fingern hervor. Sein kleiner Körper zitterte. »Wisp, wo ist die Hochwarte?« fragte Wil. »Du mußt uns zur Hochwarte führen.« Wisp erwiderte nichts. Stumm starrte er zwischen seinen Fingern hervor, dann schloß er seine Hände wieder. »Wisp!« Erneut schüttelte Wil ihn. »Wisp, antworte mir!« »Wisp dient der Dame!« rief der kleine Elf plötzlich. »Dient der Dame! Dient der Dame! Dient der…« Wil schüttelte ihn, daß seine Zähne klapperten. »Hör auf! Schluß damit! Sie ist tot, Wisp! Die Dame ist tot! Du dienst ihr nicht mehr.« Da verstummte Wisp und langsam sanken seine Hände vom Gesicht herab. Er begann zu weinen. Heftiges Schluchzen schüttelte seinen kleinen Körper. »Wisp nicht weh tun«, flehte er. »Wisp ist brav. Nicht wehtun.« Er zog sich wieder zu einer kleinen behaarten Kugel zusammen und wälzte sich weinend auf dem feuchten Erdboden wie ein verwundetes Tier. Wil blickte hilflos zu ihm hinunter. »Gut gemacht, Heiler.« Eretria seufzte und trat näher. »Du hast ihm ja Todesangst gemacht. In dem Zustand ist er uns bestimmt keine Hilfe.« Sie packte Wil beim Arm und schob ihn weg. »Laß mich das mal machen.«
Wil ging zu Amberle hinüber und sie sahen beide zu, wie Eretria neben dem kleinen Wisp niederkniete und das schluchzende Bündel in die Arme nahm. Leise flüsternd drückte sie den Elf an sich und streichelte den Wuschelkopf. Nach einer Weile hörte Wisp auf zu weinen. Vorsichtig hob er den Kopf ein kleines Stück.
»Hübsche?«
»Es ist alles gut, Wisp.«
»Paßt du jetzt auf Wisp auf, Hübsche?«
»Ja, ich paß auf dich auf.« Sie warf Wil einen strengen Blick zu. »Dir tut keiner etwas.«
»Keiner tut Wisp weh?« Das Altmännergesicht blickte sie an. »Versprichst du mir das?«
Eretria sah ihn mit einem beruhigenden Lächeln an.
»Ja, das verspreche ich dir. Aber du mußt uns dafür helfen, Wisp. Willst du das tun? Willst du uns helfen?«
Der kleine Bursche nickte eifrig.
»Ich helfe dir, Hübsche. Wisp ist brav.«
»Ja, Wisp ist wirklich brav«, stimmte Eretria zu. Dann neigte sie sich nahe zu ihm hinunter. »Aber wir müssen uns beeilen, Wisp. Der Dämon — der, der uns in die Senke verfolgt hat — sucht uns immer noch. Und wenn er uns findet, dann wird er uns allen etwas antun, Wisp.«
Wisp schüttelte ängstlich den Kopf.
»Du mußt Wisp schützen, Hübsche.«
»Natürlich schütze ich dich, Wisp, aber wir müssen uns beeilen.« Sie streichelte seine Wange. »Wir müssen den Berg finden — Heiler, wie heißt er?«
»Die Hochwarte«, sagte Wil.
Sie nickte. »Die Hochwarte. Kannst du uns den Weg dahin zeigen, Wisp? Kannst du uns dahin führen?«
Mißtrauisch sah der kleine Irrwisch Wil an, dann wanderte sein Blick weiter zu dem brennenden Turm. Einen Moment lang blieb er dort liegen, dann kehrte er zu Eretria zurück.
»Ich führe Euch, Hübsche.«
Eretria stand auf und nahm den kleinen Burschen bei der Hand.
»Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf, Wisp.«
Als sie an Wil vorübergingen, zwinkerte Eretria.
»Ich hab´ dir ja gesagt, daß du mich brauchst, Heiler.«
Sie verschmolzen mit der Düsternis des Waldes. Eretrias Hand fest umklammert, hüpfte Wisp wie ein Irrlicht durch den Nebel und das Gewirr von Büschen und Bäumen. Ihm folgte Hebel mit Drifter, dann kam Wil mit Amberle. Den Arm um ihre Taille gelegt, stützte er sie, während sie tapfer an seiner Seite hinkte. Dennoch vergrößerte sich der Abstand zu den anderen rasch. In dem Bemühen, sie einzuholen, stolperte Amberle und stürzte. Wil zögerte nicht. Er hob das Elfenmädchen einfach in seine Arme und eilte weiter. Zu seiner Überraschung protestierte Amberle nicht. Er hatte das erwartet, nachdem sie während ihrer gemeinsamen Wanderung so grimmig darauf bestanden hatte, ihre Selbständigkeit zu beweisen. Jetzt aber war sie ganz still. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und ihre Arme lagen lose um seinen Hals. Nicht ein Wort wurde zwischen ihnen gewechselt.
Flüchtig machte sich Wil Gedanken über dieses veränderte Verhalten, dann aber jagten seine Gedanken zu anderen Dingen. Schon beschäftigte er sich mit einem Plan für ihre Flucht — nicht nur aus der Senke, sondern auch vor dem Raffer. Denn was nützte es ihnen, der Senke zu entkommen, wenn sie nicht auch dem Raffer entkamen. Die Senke war gefährlich, gewiß, doch wirkliche Furcht hatte Wil vor dem Raffer, diesem erbarmungslosen Mörder, den offenbar nichts aufhalten konnte in seiner Suche nach Amberle. Er darf sie nicht finden, dachte Wil. Selbst die Kraft der Elfensteine, sollte es ihm gelingen, ihren Quell wieder zu erschließen, würde vielleicht nicht ausreichen, diesem Ungeheuer Einhalt zu gebieten. Sie mußten ihm entkommen, und sie mußten ihm schnell entkommen.
Er meinte, das Mittel dazu zu besitzen. Es war der fünfte Tag ihrer Ankunft im Wildewald — der Tag, an dem Perk auf Genewen ein letztes Mal über das Tal fliegen würde, ehe er sich heimwärts wandte. Hastig griff Wil mit einer Hand zur Tasche seines Kittels, wo das silberne Pfeifchen steckte, das Perk ihm gegeben hatte, um Genewen herbeizurufen. Es war ihre einzige Verbindung zu dem jungen Himmelsreiter, und Wil hatte sorgfältig darüber gewacht.
Wenn sie den Weg durch die Senke und den Wildewald, durch das ganze untere Westland bis nach Arborlon zu Fuß bewältigen mußten, würden sie das nie schaffen. Der Raffer würde ihre Spur doch finden und sie töten. Naiv und töricht wäre es, etwas anderes zu hoffen. Wir müssen einen besseren Weg finden, nach Arborlon zurückzukehren, und Wil wußte einen: mit Genewen zu fliegen. Der Raffer würde sie dennoch verfolgen, genauso, wie er sie bisher überallhin verfolgt hatte, doch es würde ihm nicht gelingen, sie einzuholen. Sie würden seinen mörderischen Fängen entkommen.
Vielleicht, mahnte er sich selbst zur Vorsicht. Vielleicht. Denn es war ja auch eine Frage der Zeit; das bißchen Zeit, das ihnen noch blieb, zerrann ihnen förmlich zwischen den Fingern. Sie hatten von Anfang an nicht viel Zeit gehabt, und der größte Teil dieser Frist war bereits verstrichen. Der Raffer hatte sie gejagt. Obwohl sie ihn in den Ruinen des Hexenturms ausmanövriert hatten, würde er sie rasch genug wiederfinden. Wenn sie überhaupt entkommen wollten, dann mußten sie Sichermal erreichen und das Blutfeuer finden, um das Samenkorn des Ellcrys darin einzutauchen; dann mußten sie die Höhen der Hochwarte erklimmen, um Perk das Zeichen zu geben, der vielleicht erst von weit herkommen mußte; dann mußten sie Genewen besteigen, vorausgesetzt, der gewaltige Rock konnte sie alle tragen, um sich von ihm nach Arborlon bringen zu lassen — das alles, ehe der Raffer ihrer habhaft wurde. Das war viel verlangt.
Zweige klatschten ihm ins Gesicht, und Dornen rissen an ihm, während er Eretrias schlanker Gestalt durch den Wald folgte. Er hielt Amberle fest in den Armen, obwohl er die Anstrengung schon zu spüren begann. Rundum dehnte sich der Wald schweigend und still.
Flüchtig wanderten seine Gedanken zu Arborlon und den Elfen. Die Dämonen hatten inzwischen gewiß die Mauer der Verfemung durchbrochen und das Westland überschwemmt, so daß das gesamte Elfenvolk jetzt um die Erhaltung seines Heimatlandes kämpfen mußte. Der schreckliche Kampf, den Eventine hatte vermeiden wollen, war nun wohl doch ausgebrochen. Und was war mit dem Ellcrys? Hatte Allanon ein Mittel gefunden, den sterbenden Baum zu schützen? Hatten die magischen Kräfte des Druiden ausgereicht, um dem Ansturm der Dämonen Widerstand zu bieten? Nur die Wiedergeburt des Ellcrys konnte die Elfen retten, hatte Allanon gesagt. Doch wieviel Zeit blieb ihnen noch, diese Wiedergeburt herbeizuführen? Mußten sie nicht fürchten, daß es auch dafür schon zu spät war?
Sinnlose Fragen, schalt sich Wil Ohmsford selbst. Fragen, die er nicht beantworten konnte, da er nicht wußte, was jenseits der Senke und des Wildewalds sich zutrug. Und doch wünschte er, Allanon besäße die Macht, ihn mit seinem Geist zu erreichen, ihm etwas darüber zu sagen, was im Heimatland der Elfen geschah, ihn wissen zu lassen, daß noch Zeit war — wenn Wil nur Mittel und Wege finden konnte, nach Arborlon zurückzukehren.
Verzweiflung übermannte ihn plötzlich, die beängstigend war in ihrer Gewißheit — als wüßte er, daß es, selbst wenn er und Amberle hier ihr Ziel erreichen sollten, dennoch zu spät wäre für jene, die seine Rückkehr erwarteten. Und wenn dem so war…
Wil Ohmsford erlaubte sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Das war der Weg in den Wahnsinn.
Das Gelände begann zu steigen, allmählich zunächst, dann steil. Sie befanden sich auf den Hängen der Hochwarte. Der Wald lichtete sich, und sie traten auf kahlen Fels hinaus. Ein schmaler Pfad schlängelte sich aufwärts in Nebelschwaden. Ohne Rast eilten sie weiter. Allmählich lösten sich die Nebelschleier, und das Dach des Waldes versank unter ihnen. Grauer Himmel wurde sichtbar, aus dem wäßrige Sonnenstrahlen herabfielen. Langsam, vorsichtig stiegen die Kletterer weiter aufwärts.
Plötzlich dann standen sie auf einem Plateau, das über die Senke hinweg den Blick auf die höheren Wände des Wildewalds bot. Verkrüppelte Bäume und dürre Büsche wuchsen auf dem Felsboden zwischen Büscheln groben Grases, und am hinteren Ende des Plateaus, dort, wo es von einer steilen Felswand begrenzt wurde, öffnete sich wie ein gewaltiger dunkler Rachen eine große Höhle.
Wisp führte die kleine Gruppe zum Eingang der Höhle. Dort blieb er stehen und drehte sich rasch nach Eretria um.
»Sichermal, Hübsche — dort.« Sein Arm wies in die Höhle hinein. »Viele, viele Tunnel und Gänge, die sich winden und schlängeln. Sichermal. Braver Wisp.«
Eretria lächelte ihn an und warf dann einen Blick zurück zu Wil.
»Und jetzt?«
Wil kam zu ihr und spähte in die Dunkelheit, doch ohne Erfolg. Er ließ Amberle kurz, hinunter und drehte sich dann nach Wisp um. Sogleich versteckte sich der kleine Irrwisch hinter Eretria, das Gesicht in die Falten ihrer weiten Hose gedrückt.
»Wisp?« rief Wil freundlich, doch der Kleine wollte nichts mit ihm zu tun haben. Wil seufzte. Jetzt war nicht die Zeit für solchen Unsinn.
»Eretria, frag ihn nach einer Tür aus Glas, die nicht bricht.«
Das Mädchen beugte sich zu Wisp hinunter.
»Wisp, es ist ja gut. Ich erlaube nicht, daß dir jemand wehtut. Sieh mich an, Wisp.« Der Kleine hob den Kopf und lächelte unsicher. Eretria streichelte seine Wange. »Wisp, kannst du uns eine Tür aus Glas zeigen, das nicht bricht? Weißt du von einer solchen Tür?«
»Machen wir ein Spiel, Hübsche? Spielst du mit Wisp?«
Eretria war ratlos. Sie sah Wil an. Der zuckte die Schultern und nickte.
»Natürlich können wir ein Spielchen machen, Wisp.« Wieder lächelte Eretria ihn an. »Kannst du uns die Tür zeigen?«
Wisps altes Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Wonnelächeln.
»Wisp kann es dir zeigen.«
Er sprang auf, schoß in den Schlund der Höhle hinein, dann wieder heraus, um Eretrias Hand zu fassen und das Mädchen mit sich zu ziehen. Wil schüttelte den Kopf. Der Kleine war wirklich ein bißchen verrückt, ob nun von all dem, was ihm während seiner Gefangenschaft in der Senke widerfahren war, oder von dem Schock über den Tod seiner Dame. Es war auf jeden Fall ein großes Risiko ihm zu glauben, daß er ihnen die geheime Kammer des Blutfeuers zeigen konnte. Doch sie hatten keine andere Wahl. Wieder blickte Wil auf die Schwärze der Höhle.
»Also verlaufen möcht’ ich mich da drin nicht gern«, murmelte Hebel neben ihm.
Eretria schien es ähnlich zu gehen.
»Wisp, wir können ja gar nichts sehen.« Sie zog an seinem Arm, bis er stehenblieb. »Wir müssen uns Fackeln machen.«
Wisp erstarrte. »Keine Fackeln, Hübsche. Kein Feuer. Feuer brennt — macht kaputt. Tut Wisp weh. Feuer verbrennt den Turm der Dame. Die Dame … Wisp dient…«
Unvermittelt brach er wieder in heftiges Schluchzen aus. Tränen traten ihm in die Augen, während seine kleinen Arme fest Eretrias Beine umspannten.
»Du tust Wisp nicht weh, Hübsche!«
»Nein, nein, Wisp«, versicherte sie und hob ihn hoch, um ihn fest an sich zu drücken. »Keiner wird dir etwas tun. Aber wir brauchen Licht, Wisp. Ohne Licht können wir in dieser Höhle nichts sehen.«
Wisp hob das von Tränen feuchte Gesicht.
»Licht, Hübsche? Oh, Licht — es ist Licht da. Kommt. Da drüben ist Licht.«
Eifrig vor sich hinmurmelnd, führte er sie noch einmal zum Schlund der Höhle. Dort trat er nahe an die Wand, griff in eine kleine Nische im Fels und entnahm ihr zwei jener merkwürdigen Lampen. Als er sie in die Höhle hineinstreckte, entzündeten sich die Glaszylinder mit dem gleichen rauchlosen Licht, das überall in Mallenrohs Turm gebrannt hatte.
»Licht.«
Wisp lächelte voller Eifer und Stolz und reichte Eretria die Lampen. Sie nahm sie, behielt eine für sich und reichte die andere Wil. Der drehte sich nach Hebel um.
»Ihr braucht nicht weiter mit uns zu kommen, wenn Ihr nicht wollt«, sagte er.
»Seid nicht albern«, schnaubte der alte Mann verächtlich. »Und was ist, wenn Ihr Euch da drinnen verlauft? Ihr braucht Drifter und mich, wenn Ihr da wieder rauskommen wollt, oder vielleicht nicht? Außerdem möcht’ ich mir dieses Sichermal ganz gern anschauen.«
Wil sah, daß es keinen Sinn hatte, sich auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen. Er nickte Eretria zu. Sie nahm den kleinen Irrwisch fest bei der Hand; die Lampe vor sich hinhaltend, tat sie die ersten Schritte in die Höhle. Wil hob Amberle wieder in seine Arme und folgte. Hebel und Drifter bildeten den Schluß.
Ganz vorsichtig bewegten sie sich vorwärts. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie konnten sehen, daß die Höhle tief in das Herz der Hochwarte hineinführte. Das Licht der Lampen erreichte ihr Dach und ihre Mauern nicht. Der Boden des Tunnels war holprig, doch nirgends stellten sich ihnen Hindernisse entgegen. Tief wanderten sie in die Schwärze hinein. Nach einer Weile machte Wisp vor der hinteren Wand der Höhle halt. Vor ihnen zeigten sich zahlreicheÖffnungen, die meisten nur schmale Spalte im Fels, eine der anderen sehr ähnlich.
Wisp entschied sich ohne Zögern und zog Eretria mit sich in eine der Spalten hinein. Die anderen folgten. Er führte sie nun durch ein Labyrinth von Gängen und Windungen, die ständig weiter in die Tiefe führten. Die anderen hatten bald jede Orientierung verloren. Doch Wisp führte sie unbeirrt weiter.
Dann standen sie plötzlich vor einer Treppe, und Aussehen und Form der unterirdischen Gänge wandelte sich schlagartig. Das waren keine natürlich geformten Felswände und —mauern mehr. Die Treppe und der Gang waren aus rohbehauenen, massigen Steinquadern errichtet, ganz zweifellos von Menschenhand. Flecken von Feuchtigkeit glitzerten an den Mauern und am Dach des Ganges, und Rinnsale sickerten die Stufen hinab. Aus der Tiefe der Finsternis waren Geräusche zu hören. Ein Scharren winziger Füße, ein dünnes Quietschen des Ärgers. Im Schein der Lampen waren die huschenden Körper von Ratten zu erkennen.
Wisp führte sie die Treppe hinunter in die Finsternis. Hunderte von Stufen stiegen sie hinab, während die Treppe sich in endlosen Windungen immer tiefer schlängelte. Rund um sie herum, gerade noch außerhalb des Lichtscheins der rauchlosen Lampen, huschten die Ratten durch die Finsternis. Schrill und unangenehm drangen ihre Schreie durch die Stille. Ein durchdringender Geruch nach Moder und Feuchtigkeit und nach Verfall schwängerte die Luft. Und immer noch stiegen sie tiefer hinunter, und das Ende der Treppe war nicht abzusehen.
Endlich hatten sie die letzte Stufe hinter sich. Sie standen nun in einem großen Saal, dessen hohe gewölbte Decke von mächtigen Säulen getragen wurde. Halbzerfallene steinerne Bänke umgaben in sacht ansteigenden, immer weiter werdenden Kreisen ein Rondell in der Mitte des Raumes. Seltsame Zeichen waren in den Stein der Säulen und der Mauern eingeritzt, und unten im leeren Rund verrosteten eiserne Fahnenstangen. Früher einmal war diese steinerne Kammer ein Ratssaal oder ein Versammlungsraum gewesen, vielleicht auch ein Ort, wo seltsame Rituale vollzogen worden waren, dachte Wil. Früher einmal hatte sich ein anderes Volk hier versammelt. Flüchtig nur konnte er sich umsehen, denn schon führte Wisp sie durch die Bankreihen zu einer schweren Steintür, die am Ende des Saales wartete. Sie stand offen, und hinter ihr führte eine weitere Treppe in die Tiefe.
Wieder stiegen sie abwärts. Wil wurde allmählich unruhig. Sie hatten schon einen weiten Weg im Inneren des Berges zurückgelegt, und nur Wisp hatte überhaupt eine Ahnung, wo sie sich befanden. Wenn der Raffer sie hier einholte…
Die Treppe mündete in einen Gang. Wil glaubte das Geräusch plätschernden Wassers zu hören, als sprudele weiter vorn ein Bach durch den Fels. Eifrig eilte Wisp voran, während er Eretria mit sich zog und immer wieder ängstliche Blicke zurückwarf, als wolle er sich vergewissern, daß sie noch da war.
Dann hatten sie auch diesen Gang hinter sich und standen in einer gewaltigen Höhle, nicht von Menschenhand errichtet, sondern ein Werk der Natur. Ihre Wände waren von Löchern und Rissen durchsetzt, und von ihrem Dach stachen zahllose spitze Stalaktiten herab. In der Dunkelheit jenseits ihrer Lichter konnten sie das Rauschen von Wasser hören.
Wisp führte sie durch die Höhle und murmelte dabei unaufhörlich vor sich hin. An der hinteren Wand türmte sich ein Berg von Felsbrocken, vielleicht durch einen Erdrutsch aufgeworfen. Von den Felsen herab sprang zischend und schäumend ein schmaler Bach, dessen Wasser sich in einem Becken sammelte, um sich dann in einer Anzahl winziger Bächlein und Rinnsale zu verzweigen, die sich glucksend in die Finsternis schlängelten.
»Hier«, verkündete Wisp strahlend und wies auf den kleinen Wasserfall.
Wil ließ Amberle herunter und starrte den kleinen Burschen verständnislos an.
»Hier«, wiederholte Wisp. »Eine Tür aus Glas, das nicht bricht. Ein lustiges Spiel.«
»Wil, er meint den Wasserfall«, sagte Amberle plötzlich. »Schau doch mal genau hin — da, wo das Wasser zwischen diesen beiden Felsen zu dem Becken herabfällt.«
Wil schaute sich das an, sah jetzt, was Amberle schon vor ihm gesehen hatte. An dieser Stelle, wo das Wasser in das Becken abfiel, rieselte es in einem dünnen, glitzernden Vorhang zwischen zwei Felssäulen herab. Der Anblick erinnerte in der Tat an eine Tür aus Glas. Wil trat ein paar Schritte näher heran. Das Licht seiner Lampe spiegelte sich im Wasser.
»Aber das ist doch nicht Glas!« rief Eretria ungeduldig. »Das ist doch nur Wasser!«
»Aber würde sich der Ellcrys daran erinnern?« entgegnete Amberle rasch, immer noch zu Wil sprechend. »Er hat ein so langes Leben hinter sich. Vieles von dem, was er einst wußte, ist ihm im Lauf der Zeit entfallen. Vieles ist ihm unklar geworden. Vielleicht erinnert er sich an diesen Wasserfall nur deshalb, weil er eben aussieht wie eine Tür aus Glas, das nicht bricht.«
Eretria blickte auf Wisp hinunter.
»Das ist die Tür, Wisp? Bist du ganz sicher?«
Wisp nickte eifrig. »Lustiges Spiel, Hübsche. Spiel noch ein lustiges Spiel mit Wisp.«
»Wenn das die Tür ist, dann muß auf der anderen Seite eine Höhle sein…«
Wil ging noch näher an das Wasser heran.
»Wisp kann es zeigen!« Wisp lief ihm voraus und zog Eretria mit sich. »Schau, schau, Hübsche! Komm!«
Er zog Eretria mit sich, bis sie unmittelbar rechts von dem kleinen Wasserfall standen. Aus seinem Altmännergesicht warf er einen Blick zurück, dann ließ er ihre Hand los.
»Schau, Hübsche.«
Er trat in den Wasserfall hinein und verschwand. Eretria starrte ihm erstaunt nach. Beinahe unverzüglich war er wieder da. Sein dichtbehaarter Körper war klatschnaß, sein Gesicht strahlte.
»Schau!« Er faßte das Mädchen wieder an der Hand und zog es hinter sich her.
Rasch glitt die kleine Gruppe durch den Vorhang des Wasserfalls, und im Licht der rauchlosen Lampe sah Wil, daß sie sich nun in einer Felsnische befanden, aus der ein schmaler Gang hinausführte. Tropfnaß folgten sie Wisp, der sie bis zu dem Ende des Durchgangs führte, wo wieder eine Höhle wartete. Diese war viel kleiner und unerwartet trocken, frei von dem Geruch nach Moder und Feuchtigkeit, der die andere erfüllt hatte. In einer Folge breiter flacher Simse senkte sich ihr Boden abwärts.
Wil holte tief Atem. Wenn der Wasserfall die Tür aus unzerbrechlichem Glas war, von der der Ellcrys gesprochen hatte, dann war dies, hier die Felskammer, in der sie das Blutfeuer finden würden. Stumm schritt er bis in den Hintergrund der Höhle und wieder zurück. Keine anderen Tunnel, keine anderen Gänge führten aus dieser Höhle heraus. Die Felswände, der Boden und das Dach der Höhle schimmerten matt im Schein seiner Lampe, als er sie hochhielt und sich sorgfältig umsah.
Die Felskammer war leer.
An der Öffnung der Höhle, die in die Hochwarte hineinführte, glitt ein Schatten aus den Büschen des Plateaus und verschwand lautlos in der Finsternis.
Ein Sturm wilder Phantasien überfiel Wil Ohmsford, als er in der leeren Höhle stand und sich hilflos umblickte. Es gab kein Blutfeuer. Nach allem, was sie erduldet hatten, um Sichermal zu erreichen, gab es gar kein Blutfeuer. Es war verloren, vielleicht schon seit Jahrhunderten vom Antlitz der Erde verschwunden, untergegangen mit der alten Welt. Es war eine Erfindung, eine eitle Hoffnung des sterbenden Ellcrys, ein Zauber, der mit dem Sterben der Geisterwelt verschwunden war. Oder, wenn es ein Blutfeuer gab, dann befand es sich nicht hier. Dann lag es vielleicht irgendwo in den Tiefen des Wildewalds, aber nicht in diesen Höhlen, und sie würden es niemals finden. Es befand sich außerhalb ihrer Reichweite. Es war versteckt…
»Wil!«
Amberles Ausruf durchbrach die Stille. Er wandte sich um. Sie stand ein Stück abseits von ihm, tastete mit einer Hand vor sich her, als sei sie blind und versuche sich zurechtzufinden.
»Wil, es ist hier! Das Blutfeuer ist hier! Ich kann es fühlen!«
Ihre Stimme überschlug sich vor Erregung. Die anderen beobachteten sie, wie sie durch den Dämmerschein der Höhle humpelte, die gespreizten Finger wie Fühler ausgestreckt.
Eretria eilte zu Wil. Sie hielt noch immer Wisp an der Hand, der sich hinter ihr zusammenkauerte.
»Heiler, was soll das —?«
Er hob die Hand, um ihr Schweigen zu gebieten. Langsam schüttelte er den Kopf und sprach kein Wort. Sein Blick blieb auf das Elfenmädchen gerichtet. Sie war jetzt zu einem der höherliegenden Simse der Höhle emporgestiegen, einem kleinen Felssockel, der sich beinahe in der Mitte der Steinkammer erhob. Unter Schmerzen hinkte sie vorwärts. Am anderen Rand des Sockels lag ein großer Felsbrocken. Bis dorthin schleppte sich Amberle, dann blieb sie stehen. Leicht vorgeneigt streckte sie die Hände abwärts und strich über das rauhe Gestein des Felsens.
»Hier.« Das Wort war nur ein Hauch.
Wil wollte zu ihr, rannte durch die Höhle, sprang zu dem Sims hinauf. Augenblicklich drehte sich Amberle nach ihm um.
»Nein! Nicht näher, Wil!«
Wil blieb stehen. Etwas in ihrem Ton zwang ihn stehenzubleiben. Wortlos sahen sie einander im düsteren Licht der Höhle an. In den Augen des Elfenmädchens stand ein Ausdruck von Verzweiflung und Furcht. Noch einen Moment hielten sie die seinen fest, dann wandte sie sich wieder ab. Zierlich und schlank lehnte sie sich gegen den Felsen. Als sei er nur aus Papier, rollte der Brocken davon.
Weißes Feuer barst aus der Erde hervor. Aufwärts schoß es zum Dach der Höhle, und seine Flammen glitzerten wie flüssiges Eis. Weiß und funkelnd brannte es, und gab doch keine Hitze ab. Dann nahm es langsam die Farbe von Blut an.
Überrascht und erschreckt taumelte Wil Ohmsford zurück, ohne im ersten Augenblick zu gewahren, daß Amberle im gleißenden Feuer verschwunden war. Dann hörte er hinter sich die Entsetzensschreie Wisps.
»Verbrennen! Wisp wird verbrennen!« Das dünne Stimmchen wurde zu einem Kreischen. Das Greisengesicht verzerrte sich in panischer Angst, während das Feuer die Höhle mit rotem Licht durchflutete.
»Die Dame, die Dame, die Dame — brennt — sie brennt! Wisp — Wisp dient — er dient — er brennt!«
Er hatte völlig den Verstand verloren. Mit einem Ruck riß er sich von Eretria los und stürzte schreiend und kreischend aus der Höhle. Hebel wollte ihn packen, verfehlte ihn aber.
»Wisp, komm zurück!« rief Eretria ihm nach. »Wisp!«
Doch es war zu spät. Sie hörten, wie er durch den Wasserfall stürmte, und dann war er fort. Im scharlachroten Glanz des Blutfeuers sahen die drei, die zurückgeblieben waren, einander wortlos an.