Ein niedergeschlagenes Heer marschierte vom Halys-Joch in die Ebene hinunter — beschämt über die Niederlage, die ihm beigebracht worden war, bestürzt über die Zahl seiner Toten und Verwundeten. Die Toten, die man auf der Flucht durch den Paß hatte zurücklassen müssen, konnten nun nicht, wie es der Brauch wollte, der Erde wiedergegeben werden, die ihnen das Leben geschenkt hatte. Für die Verwundeten gab es keine Linderung der unmenschlichen Schmerzen, welche ihnen die von Dämonengift verseuchten Verletzungen verursachten; ihr Stöhnen und Schreien bebte, den Kameraden kaum erträglich, in der mittäglichen Stille. Die anderen, die an den Felshängen des Grimmzacken-Gebirges entlang nach Süden marschierten, konnten keinen Trost in den Ereignissen des Tages finden. Die sengende Hitze der Mittagssonne dörrte ihnen die Kehlen aus, und ihre Gedanken waren düster und schwarz vor Bitterkeit. Andor Elessedil führte sie; er war kein Mann, dem es gegeben war zu führen, sondern ein Opfer der Umstände, und tiefe Bedrücktheit lastete auf ihm. Er wünschte, dies alles wäre vorüber, sein Vater wieder bei Bewußtsein, sein Bruder zurück. Er hielt den knorrigen Stab des Ellcrys in seinen Händen und kam sich vor wie ein Narr. Und doch wußte er, daß er die Rolle, die ihm aufgezwungen worden war, noch eine Weile ausfüllen mußte, wenigstens so lange, bis das Heer den Baen Draw erreichte. Dann aber würde es hoffentlich vorbei sein. Sein Blick schweifte zu Allanon hinüber. Der Druide ritt schweigend an seiner Seite, dunkel und unergründlich das Gesicht. Sorgsam hielt er seine Gedanken vor Andor verborgen, und nur einmal auf dem Rückmarsch hatte er sein Schweigen gebrochen. »Mir ist jetzt klar, warum sie uns so weit herankommen ließen«, hatte er gesagt. »Sie wollten uns in diese Berge locken.« »Sie wollten?« hatte Andor gefragt. »Ja, Elfenprinz«, hatte Allanon erwidert. »Da ihrer so viele sind, wußten sie, daß wir keine Möglichkeit hatten, sie aufzuhalten. Sie ließen uns in eine Falle tappen.« Ein Reiter tauchte am Horizont auf, jagte einsam über das grüne Land dem Zug der Elfen entgegen. Andor hob den Ellcrys-Stab und gab das Zeichen zum Halten. Mit Allanon an seiner Seite ritt er voran, dem einsamen Reiter entgegen. So ruckartig hielt dieser sein Pferd an, daß das Tier sich hoch aufbäumte. Andor kannte den Mann, einen Kurier im Dienst seines Bruders.
»Flyn«, rief er, den Elf mit seinem Namen begrüßend.
Der Kurier, staubbedeckt und schweißnaß im Gesicht, zögerte. Sein Blick ging an Andor vorbei und streifte über den Zug der Soldaten.
»Ich soll dem König selbst Meldung machen —«, begann er.
»Laßt den Prinzen Eure Botschaft hören«, fuhr Allanon ihn ungeduldig an.
»Herr!« Flyn salutierte. Sein Gesicht war weiß. Tränen standen plötzlich in seinen Augen. »Herr —« begann er wieder, doch seine Stimme brach, und er konnte nicht weitersprechen.
Andor sprang vom Pferd und bedeutete Flyn, ein gleiches zu tun. Stumm legte er dem verwirrten Boten einen Arm um die Schultern und führte ihn einige Schritte von den anderen weg, so daß er allein mit ihm sprechen konnte. Dann blickte er dem Elf eindringlich ins Gesicht.
»Jetzt laßt mich hören, was Ihr zu melden habt.«
Flyn nickte. »Herr, mir ist befohlen, dem König zu melden, daß Prinz Arion gefallen ist. Herr- er ist tot.«
Andor schüttelte fassungslos den Kopf. »Tot?« Ihm war, als spräche ein anderer. »Wie kann er tot sein? Er kann nicht tot sein.«
»Wir wurden bei Morgengrauen angegriffen, Herr.« Flyn weinte jetzt hemmungslos. »Die Dämonen — es waren so unglaublich viele. Sie drängten uns aus dem Paß. Wir wurden überrannt. Die Fahne fiel — und als Prinz Arion sie aufheben wollte, holten die Dämonen ihn ein …«
Hastig hob Andor die Hand, um den Worten des Elf Einhalt zu gebieten. Er wollte den Rest nicht hören. Es mußte ein Alptraum sein, es konnte nicht Wirklichkeit sein. Sein Blick flog zu Allanon, und er sah, daß das verschlossene Gesicht des Druiden ihm zugewandt war. Allanon wußte…
»Habt ihr die Leiche meines Bruders geborgen?« zwang Andor sich, den Boten zu fragen.
»Ja, Herr.«
»Ich möchte, daß sie zu mir überführt wird.«
Flyn nickte wortlos. »Herr, das ist noch nicht alles.« Andor, der sich schon abgewandt hatte, drehte sich wieder um. »Herr, der Spindelpaß ist verloren, aber Befehlshaber Pindanon meint, er könne zurückgewonnen werden. Er bittet um Unterstützung durch Kavallerieeinheiten, um —«
»Nein!« fiel Andor ihm sogleich ins Wort. Seine Stimme klang scharf.
Es kostete ihn Mühe, ruhig zu bleiben. ›Nein, Flyn. Richtet Befehlshaber Pindanon aus, daß er unverzüglich den Rückzug antreten soll. Er soll ins Sarandanon zurückkehren.«
Der Bote schluckte kurz, warf einen unsicheren Blick auf Andor.
»Verzeiht, Herr, aber ich hatte Auftrag, dies dem König mitzuteilen. Der Befehlshaber wird wissen wollen —«
Andor verstand. »Sagt dem Befehlshaber, daß mein Vater verwundet ist.« Flyn wurde noch bleicher, und Andor holte tief Atem. »Sagt Kael Pindanon, daß ich das Heer der Elfen befehlige und von ihm erwarte, daß er unverzüglich den Rückzug antritt. Nehmt ein frisches Pferd, Flyn, und eilt Euch. Glück mit Euch.«
Flyn grüßte und eilte davon. Allein blieb Andor stehen und starrte in die Weite der sonnenüberfluteten Ebene. Eine seltsame Gefühllosigkeit breitete sich in ihm aus, als ihm klar wurde, daß er die Kluft, die ihn und Arion getrennt hatte, nun niemals würde schließen können. Allanon den Rücken zugewandt, weinte er haltlos.
Still senkte sich der Abend über das Tal des Sarandanon, sandte seine Schatten bis zum Baen Draw und dem Heer der Elfen. In seinem Zelt lag Eventine Elessedil und schlief. Noch immer war er ohne Bewußtsein, und sein Atem ging flach und unregelmäßig. Andor saß allein wachend an seinem Lager und blickte unverwandt auf ihn nieder, beseelt von dem inständigen Wunsch, daß er wieder erwachen möge. Erst wenn der König erwachte, würde man beurteilen können, wie schwer seine Verletzungen wirklich waren. Er war ein vom Alter geschwächter Mann, und Andor hatte Angst um ihn.
Impulsiv ergriff er die Hand seines Vaters und nahm sie behutsam in die seine. Die Hand war schlaff. Der alte Mann regte sich nicht. Andor hielt die Hand eine Weile fest, dann ließ er sie wieder los und lehnte sich müde zurück.
»Vater«, flüsterte er beinahe wie zu sich selbst.
Voller Qual stand er auf und entfernte sich vom Lager des Königs. Wie hatte dies geschehen können — sein Vater schwer verwundet; sein Bruder gefallen; er selbst Führer der Elfen — wie hatte dies alles nur geschehen können? Es war ein grenzenloses Unheil, das er nicht akzeptieren wollte. Sicherlich, die Möglichkeit hatte immer bestanden, daß sein Vater und sein Bruder sterben und er als letzter Elessedil zurückbleiben würde, um die Herrschaft zu übernehmen; aber es war eine absurde Möglichkeit gewesen. Keiner hatte ernsthaft geglaubt, daß sie je wahr werden könnte, am wenigsten er selbst. Er war schlecht vorbereitet auf dieses Amt, dachte er sorgenvoll. Was war er seinem Vater und seinem Bruder je anderes gewesen als ein Paar Hände, das in ihrem Auftrag handeln konnte? Ihre Bestimmung war es gewesen, über das Elfenvolk zu herrschen, ihr Wunsch, ihre Erwartung — doch niemals die seine. Doch jetzt…
Müde schüttelte er den Kopf. Nun sollte er die Herrschaft ausüben, zumindest für eine gewisse Zeit. Und er mußte dieses Heer führen, das vor ihm dem Befehl seines Vaters gehorcht hatte. Er mußte das Sarandanon verteidigen und einen Weg finden, den Vormarsch der Dämonen-Horden zu bremsen. Die Schlacht am Halys-Joch hatte bewiesen, wie schier unmöglich das war. Die Elfen wußten, daß die Dämonen sie wahrscheinlich eingeholt und bis auf den letzten Mann niedergemetzelt hätten, wäre nicht durch den Kampf Allanons mit dem Drachen der gewaltige Erdrutsch ausgelöst worden, der den Paß zugeschüttet hatte. Er sah darum seine erste Aufgabe darin, das Vertrauen und Selbstgefühl der Elfen wieder so aufzurichten, daß sie daran glauben konnten, daß sich solches Schicksal hier, am Baen Draw, nicht wiederholen würde, auch wenn der König sie nicht selbst führen konnte. Kurz, er mußte ihnen Hoffnung geben.
Er setzte sich wieder an das Lager seines Vaters. Keal Pindanon konnte ihm helfen, er hatte in vielen Schlachten gekämpft, war ein kriegserfahrener Soldat. Aber würde er ihm helfen? Er wußte, daß Pindanon wegen seines Befehls zum Rückzug aus dem Grimmzacken-Gebirge erzürnt über ihn sein mußte. Pindanon war noch nicht zurück, da er mit einer Nachhut von Kavalleriesoldaten das Vorrücken der Dämonen zum Sarandanon aufhalten wollte. Einen Vorgeschmack auf seinen Unmut jedoch hatte Andor schon bekommen: Er hatte sehr wohl die Kommentare einer Handvoll von Offizieren vernommen, die zur Kompanie des Befehlshabers gehörten. Sobald Pindanon zurückkehrte, würde er die direkte Konfrontation mit Andor suchen. Und dann würde es zur Krise kommen. Andor wußte schon jetzt, daß der alte Kämpe ihn auffordern würde, ihm das oberste Kommando über das Heer zu geben. Andor schüttelte wieder den Kopf. Leicht wäre es, das zu tun, Pindanon den Oberbefehl und damit die gesamte Verantwortung für die Verteidigung des Elfenreiches zu übertragen. Vielleicht sollte er es tatsächlich tun. Aber irgend etwas in ihm wehrte sich gegen eine so einfache Lösung.
»Was würdest du tun?« fragte er leise seinen Vater, obwohl er wußte, daß er ihm keine Antwort und keinen Rat würde geben können.
Die Zeit rann zäh dahin, und die Dunkelheit brach herein.
Endlich erschien Dardan an der Zeltöffnung.
»Befehlshaber Pindanon ist zurückgekehrt, Herr«, meldete er, »und bittet um eine Unterredung mit Euch.«
Andor nickte und überlegte flüchtig, wohin Allanon wohl verschwunden sein konnte. Seit ihrer Rückkehr hatte er den Druiden nicht mehr gesehen. Aber diese Begegnung mit Pindanon war ohnehin allein seine Sache.
Er erhob sich schwerfällig. Dann erinnerte er sich des Ellcrys-Stabs, der neben dem Lager seines Vaters auf dem Boden lag. Er bückte sich und hob ihn auf. Den Stab in beiden Händen haltend, verharrte er einen Moment lang und blickte auf den alten Mann hinunter.
»Ruh dich gut aus«, flüsterte er schließlich. Dann drehte er sich um und trat aus dem kleinen Zelt des Königs.
Ein schneller Blick zum Hohlweg zeigte ihm, daß dieser durch Geröll- und Gesteinsmassen völlig blockiert war. Ein bitteres Lächeln flog über sein blutverschmiertes Gesicht. Die Dämonen würden ihnen nicht weiter durch den Halys-Joch Paß folgen können. Die Elfen hatten eine Gnadenfrist gewonnen, eine Chance, sich neu zu ordnen, um an anderer Stelle dem Feind mit frischen Kräften entgegenzutreten.
Er drehte sich um. Hinter ihm drängte sich das Elfenheer. Stumm spähten die Soldaten aus den Schatten, die Gesichter von Erschöpfung und Unsicherheit gezeichnet. Der Elfenprinz wußte, was sie dachten. So viele Dämonen waren aus dem finsteren Verlies hinter der Mauer der Verfemung emporgestiegen — so viele, mehr als sie je für möglich gehalten hatten! Es war ihnen nicht gelungen, ihren Vormarsch hier aufzuhalten. Wie sollten sie sie im Sarandanon halten?
Stumm wandte er sich wieder ab. Er hatte auch keine Antwort darauf.
Im Nachbarraum wartete Kael Pindanon. Staub und Blut bedeckten die Rüstung des Befehlshabers, und das weißbärtige Gesicht war hochrot vor Zorn, als er raschen Schrittes auf den Elfenprinzen zuging.
»Warum habt Ihr mir den Rückzug befohlen, Andor?« fragte er aufgebracht.
Andor ließ sich nicht verunsichern.
»Sprecht leiser, Befehlshaber. Nebenan liegt der verwundete König.«
Einen Augenblick schwiegen beide. Pindanons Augen funkelten zornig. Dann fragte er mit gesenkter Stimme: »Wie geht es ihm?«
»Er schläft«, antwortete Andor kühl. »Also — wie lautet Euer Anliegen?«
Pindanons Gestalt straffte sich.
»Warum habt Ihr mir den Befehl zum Rückzug gegeben? Ich hätte den Spindelpaß zurückerobern können. Wir hätten die Stellung nie halten können, wie Euer Vater es wünschte.«
»Mein Vater wünschte, daß die Stellungen hier so lange gehalten werden würden, wie das möglich war«, entgegnete Andor, ohne sich von Pindanons zornigem Blick einschüchtern zu lassen. »Jetzt, da mein Vater verwundet ist und mein Bruder tot, wo das Halys-Joch verloren ist, ist das nicht mehr möglich. Die Dämonen haben uns in die Flucht geschlagen, so wie sie Euch in die Flucht geschlagen haben.« Pindanon fuhr auf, doch Andor beachtete ihn nicht. »Um den Spindelpaß zurückzugewinnen, hätte ich mit einem Heer, das gerade vernichtend geschlagen worden war, einen Gewaltmarsch nach Norden machen müssen. Wenn dann unsere vereinten Streitkräfte besiegt worden wären, hätten die Soldaten einen überaus anstrengenden Rückmarsch zum Sarandanon vor sich gehabt, und es wäre ihnen kaum Zeit geblieben, sich zu erholen, weil sie sogleich das Sarandanon gegen die nachrückenden Dämonen hätten verteidigen müssen. Hinzu kommt, daß jede Schlacht in den Grimmzacken-Bergen ohne den Einsatz der Kavallerie geschlagen werden mußte. Wenn wir aber dem Vormarsch der Dämonen standhalten wollen, dann brauchen wir unsere vereinten Kräfte. Das, Befehlshaber, ist der Grund, weshalb ich Euch den Befehl zum Rückzug gab.«
Pindanon schüttelte langsam den Kopf.
»Ihr seid kein ausgebildeter Soldat, mein Prinz. Ihr hattet kein Recht, eine so lebenswichtige Entscheidung zu treffen, ohne Euch zuerst mit dem Befehlshaber des Heeres zu beraten. Fühlte ich mich nicht Eurem Vater verpflichtet —«
»Sprecht diesen Satz besser nicht zu Ende, Befehlshaber«, fiel Andor ihm scharf ins Wort.
In demselben Augenblick öffneten sich die äußeren Klappen des Zelts, und Allanon und Stee Jans traten ein. Allanons Erscheinen war nicht unerwartet, doch Andor war etwas überrascht, auch den Befehlshaber der Freitruppe zu sehen. Der Grenzländer nickte höflich, sagte aber nichts.
Andor wandte sich wieder Pindanon zu.
»Wie dem auch sei, die Sache ist erledigt. Wir sollten uns jetzt dringend mit dem befassen, was vor uns liegt. Wieviel Zeit bleibt uns, bis die Dämonen uns erreichen?«
»Ein Tag, vielleicht auch zwei«, gab Pindanon brüsk zurück. »Sie müssen rasten, sich neu formieren.«
Allanon hob die schwarzen Augen.
»Morgen bei Tagesanbruch.«
Es wurde totenstill.
»Seid Ihr sicher?« fragte Andor leise.
»Ihr Haß treibt sie mit solcher Heftigkeit an, daß sie an Schlaf nicht denken. Morgen bei Tagesanbruch.«
Pindanon spie auf den hartgestampften Boden des Zeltes.
»Dann müssen wir jetzt beschließen, wie wir sie aufhalten wollen, wenn sie hier eintreffen«, erklärte Andor, dessen Hände leicht über den Ellcrys-Stab glitten.
»Sehr einfach«, fuhr Pindanon ungeduldig dazwischen.
»Wir verteidigen Baen Draw. Wir riegeln es ab. Halten sie am Engpaß auf, bevor sie das Tal erreichen.«
Andor holte tief Atem.
»Genau das haben wir bereits am Halys-Joch versucht. Doch ohne Erfolg. Die Dämonen haben die Phalanx der Elfen allein aufgrund ihrerzahlenmäßigen Überlegenheit gesprengt. Es besteht kein Grund zu der Vermutung, daß es diesmal anders sein wird.«
»Es besteht aller Grund dazu«, beharrte Pindanon. »Unsere Kräfte sind hier nicht gespalten, wie das im Grimmzacken-Gebirge der Fall war. Die Dämonen werden auch nicht frisch und ausgeruht sein, wenn sie von der Rauhen Platte direkt hierher durchmarschieren. Wir können unsere Kavallerie einsetzen, was am Paß nicht möglich war. Die Lage ist doch eine völlig andere! Entsprechend wird auch das Resultat ein anderes sein.«
Andor warf einen kurzen Blick auf Allanon, doch der Druide schwieg beharrlich. Pindanon trat einen Schritt vor.
»Andor, gebt mir an Eures Vaters Stelle das Kommando. Laßt mich die Stellungen errichten, so wie ich weiß, daß er sie errichten würde. Die Elfen können den Engpaß halten, ganz gleich, wie stark die Dämonen sind. Euer Vater und ich, wir wissen —«
»Befehlshaber!« Der Elfenprinz sprach leise, aber entschieden. »Ich habe auf dem Halys-Joch gesehen, wessen die Dämonen fähig sind. Ich habe gesehen, wie sie die Verteidigungsstellungen gesprengt haben, die mein Vater für unerschütterlich hielt. Dies ist ein Feind von besonderer Art, gegen den wir kämpfen. Die Dämonen hassen die Elfen, sie werden von diesem Haß getrieben — dieser Haß brennt so heiß, daß selbst der Tod ihnen nichts bedeutet. Können wir, denen das Leben so kostbar ist, das gleiche von uns sagen? Ich glaube es nicht. Wir bedürfen etwas ganz anderes als der üblichen Strategien, wenn wir diesen Zusammenstoß überleben wollen.«
Aus den Augenwinkeln fing er Allanons flüchtiges Nicken auf.
Pindanon wurde ärgerlich. »Euch fehlt das Vertrauen, mein Prinz. Euer Vater würde nicht so schnell —«
»Mein Vater ist nicht anwesend«, unterbrach Andor ihn. »Aber wenn er unter uns wäre, dann würde er so mit Euch sprechen, wie ich gesprochen habe. Ich erwarte Vorschläge, Befehlshaber — und suche keinen Streit.«
Pindanon lief vor Empörung rot an, dann wandte er sich unvermittelt gegen Allanon. »Und was hat dieser hier zu sagen? Hat er keine Vorschläge zu unterbreiten, wie diese Dämonen aufgehalten werden können?« Allanons dunkles Gesicht blieb ausdruckslos.
»Wir können sie nicht aufhalten, Befehlshaber. Ihr könnt nur ihren Vormarsch verzögern.«
»Verzögern?«
»Ja, verzögern, nicht mehr, um der Botin des Ellcrys den Vorsprung zu verschaffen, um das Blutfeuer zu finden und nach Arborlon zurückzukehren.«
»Hört mir damit auf!« rief Pindanon verächtlich schnaubend. »Soll unser Schicksal in den Händen dieses Mädchens liegen? Druide, ich glaube nicht an die Legenden der alten Welt. Wenn das Westland gerettet werden soll, dann kann es nur durch den Mut seiner waffentragenden Männer gerettet werden — durch das Geschick und die Erfahrung seiner Soldaten. Dämonen sterben genau wie andere Wesen aus Fleisch und Blut.«
»Ja, ebenso wie Elfen«, versetzte der Druide vielsagend.
Darauf lastete eine bedrückende Stille im Raum. Pindanon wandte den anderen zornig den Rücken zu. Nach einer Weile wirbelte er herum.
»Treten wir ihnen nun am Baen Draw entgegen oder nicht, Prinz Andor? Bisher habe ich nur meine eigenen Vorschläge vernommen.«
Andor zögerte, wünschte, Allanon würde dem etwas entgegnen. Doch es war Stee Jans, der vortrat, und dessen tiefe Stimme das Schweigen brach.
»Herr, gestattet Ihr, daß ich spreche?«
Andor hatte beinahe vergessen, daß auch der Befehlshaber der Freitruppe anwesend war. Er sah den kräftigen, hochgewachsenen Mann an und nickte.
»Herr, während ihres Einsatzes in den Grenzländern hat sich die Freitruppe mehr als einmal ähnlichen Situationen gegenübergesehen. Wir sind stolz darauf, daß wir stets den Sieg davongetragen haben, obwohl unsere Feinde uns häufig an Zahl überlegen waren. Wir sind durch eine harte Schule gegangen, aber wir haben einiges gelernt. Beispielsweise dies: Niemals sollte man feste Verteidigungsstellungen errichten, wenn die Gefahr besteht, daß ein zahlenmäßig überlegenes Heer einen überrennen wird. Wir haben gelernt, unsere Abwehrfront in eine Anzahl beweglicher Linien aufzuteilen, die immer wieder den Standort wechseln. Diese Linien greifen nacheinander an und weichen dann wieder zurück, wobei sie den Feind bald in der einen, bald in der anderen Richtung mit sich ziehen. Immer greifen sie an den Flügeln an, so daß der Feind gezwungen wird, sich dorthin zu konzentrieren, und entziehen sich dann mit schneller Flucht dem Gegenangriff des Feindes.«
Pindanon lachte verächtlich. »Auf diese Weise macht ihr keinen Boden gut, ja, ihr könnt die Stellungen nicht einmal halten, Befehlshaber.« Stee Jans wandte sich ihm zu.
»Wenn man mit diesen Flügelangriffen die feindlichen Linien weit genug auseinandergezogen hat, dann schließt man an beiden Flügeln die Reihen und nimmt ihn in die Zange. Etwa so!«
Er legte die Hände V-förmig gegeneinander und schlug sie klatschend zusammen. Verblüfftes Schweigen folgte der Demonstration.
»Ich weiß nicht«, murmelte Pindanon zweifelnd.
»Wie würdet Ihr Baen Draw verteidigen?« fragte Andor gespannt.
»Ich würde eine Variation dessen, was ich Euch eben geschildert habe, anwenden«, antwortete Stee Jans. »Bogenschützen an den Hängen des Kensrowe unmittelbar über der Einmündung in den Engpaß, um den Vormarsch zu stören. Fußsoldaten am Ende des Passes, so als wolltet Ihr den Baen Draw auf die gleiche Art und Weise zu halten versuchen wie das Halys-Joch. Wenn die Dämonen angreifen, halten die Linien eine Zeitlang stand, dann aber weichen sie zurück. Sollen die Dämonen ruhig die Stellung durchbrechen. Ihr müßt ihnen nur ein Kaninchen geben, dem sie hinterherjagen können, das heißt, Ihr müßt eine Kavallerieeinheit abstellen, um den Feind immer weiter zu locken. Wenn die Linien weit auseinandergezogen sind und die Flügel ungedeckt, dann gilt es, von beiden Seiten auf sie einzudringen, und zwar schnell, damit sie nicht zurückweichen können oder Verstärkung bekommen. Am besten halten sich die Soldaten die Dämonen mit Lanzen vom Leibe. Die Dämonen haben keine Waffen wie die unseren. Wenn man außerhalb ihrer Reichweite bleibt, können sie einem nichts anhaben. Sobald die vorderen Reihen ihres Heeres vernichtet sind, laßt Ihr das Kaninchen ein zweites Mal springen. Diesmal lockt es die Dämonen in eine andere Richtung. Es kommt darauf an, sie nicht zur Ruhe kommen zu lassen und sich auf ihre Flügel zu konzentrieren.«
Die Elfen starrten den Grenzländer an. Pindanon runzelte noch immer zweifelnd die Stirn.
»Und wer wäre das Karnickel bei diesem Spiel?«
Stee Jans lächelte verschmitzt.
»Wer wohl, Befehlshaber?«
Pindanon zuckte die Schultern. Andor blickte fragend zu ihm hinüber.
»Es könnte gelingen«, gab der alte Krieger widerstrebend zu. »Vorausgesetzt natürlich, das Karnickel versteht sein Handwerk.«
»Oh, das Karnickel hat einige Tricks auf Lager«, versetzte Stee Jans. »Nur deshalb ist es ja noch am Leben.«
Andor blickte rasch zu Allanon hinüber. Der Druide nickte ihm zu.
»Dann haben wir unseren Plan zur Verteidigung des Sarandanon«, verkündete der Elfenprinz. Seine Hand umschloß die Pindanons, dann jene des Eisenmannes. »Wir wollen alles dafür tun, daß ihm Erfolg beschieden ist.«