Knapp eine Stunde vor Sonnenaufgang erreichten sie das Südufer des Mermidon mehrere Meilen stromabwärts von der Stelle, wo der Fluß aus den Wäldern des Westlands auftauchte, um seinen Lauf weiter durch Callahorn zu nehmen. Fast die ganze Nacht waren sie in gleichmäßigem Trab in nördlicher Richtung durch das grüne Flachland geritten, um den Tirfing so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Nur einmal hatten sie kurz gerastet, um zu trinken und die verkrampften Muskeln zu lockern, dann waren sie wieder aufgesessen. Als sie schließlich an das Flußufer gelangten, waren Pferd und Reiter der Erschöpfung nahe. Wil Ohmsford konnte nirgends eine Furt oder Untiefen entdecken, die ein Durchqueren des Flusses ermöglicht hätten. Breit und tief wälzte sich der Mermidon durch das Land, und den beiden jungen Leuten wurde bald klar, daß sie ihn entweder würden durchschwimmen oder seinem Lauf so lange folgen müssen, bis sie eine Furt fanden. Solange es noch dunkel war, wollten sie weder das eine noch das andere versuchen, und Wil fand, es sei das beste, bis Tagesanbruch Rast zu machen. Er führte also Artaq in einen Hain von Balsampappeln, nahm ihm dort den Sattel ab und band ihn fest und bereitete schließlich für Amberle und sich selbst Decken im Gras aus. Im Schutz der dichtbelaubten Bäume schliefen sie schnell ein.
Es war beinahe Mittag, als Wil erwachte. Die Wärme des Sommertags strömte von einem klaren, sonnenhellen Himmel durch das Laub der Balsampappeln herab. Behutsam berührte Wil das Elfenmädchen, und es erwachte. Sie standen auf, wuschen sich, aßen ein wenig und nahmen ihre Reise nach Arborlon wieder auf.
Mehrere Meilen ritten sie stromaufwärts fast bis zum Rand der Westland-Wälder, fanden aber keine seichte Stelle, die ihnen eine sichere Durchquerung; des Flusses ermöglicht hätte. Weil sie nicht noch mehr Zeit darauf verwenden wollten, umzukehren und stromabwärts zu reiten, beschlossen sie, das Wagnis einzugehen und den Fluß zu durchschwimmen. Nachdem sie ihre wenigen Habseligkeiten an Artaqs Hals festgeschnallt hatten, banden sie sich selbst mit einem Strick an seinem Sattel fest, führten den mächtigen Rappen zum Wasser hinunter und sprangen hinein. Das Wasser war kalt, und die Kälte benahm ihnen einen Moment lang den Atem. Ein paar Minuten lang schlugen sie wild um sich, um gegen die eisige Kälte und den Sog der Strömung anzukämpfen, dann aber fanden sie einen gleichmäßigen Rhythmus, während ihre Hände fest das Sicherheitsseil faßten. Artaq schwamm kraftvoll und ruhig. Obwohl die Strömung sie beinahe eine halbe Meile flußabwärts trieb, erreichten sie wohlbehalten das gegenüberliegende Ufer.
Von dort aus ritten sie in gemächlichem Tempo weiter nach Norden, wanderten beträchtliche Strecken zu Fuß neben Artaq her, um ihn zu schonen. Wil glaubte, daß sie sich nun weit genug vom Tirfing entfernt hatten, um eventuelle Verfolger zu verwirren, und er sah keinen Grund, den Rappen noch länger zu ermüden. Der lange Ritt der vergangenen Nacht hatte das tapfere Pferd eine Menge Kraft gekostet, und es brauchte jetzt Gelegenheit, wieder zu Kräften zu kommen. Wenn es diese Gelegenheit nicht bekam, würde es später zu erschöpft sein — und Wil hielt es durchaus für möglich, daß sie seine Kraft und Stärke noch dringend brauchen würden, ehe sie endlich Arborlon erreichten. Im übrigen würden sie selbst in diesem ruhigen Tempo das Rhenn-Tal spätestens am folgenden Morgen erreichen. Und das genügte, so sagte er sich. Wenn sie erst einmal so weit waren, dann waren sie in Sicherheit.
Möglich, daß Amberle eine andere Meinung hatte, doch sie behielt sie für sich. Jetzt, nachdem sie den Fahrensleuten entkommen waren, zeigte sie sich merklich besserer Stimmung. Sie sang und summte vor sich hin, während sie marschierten, und blieb häufig stehen, um sich zu Blumen und Pflanzen hinunterzubeugen, die auf den grünen Matten der Ebene wuchsen. Mit Wil sprach sie wenig. Sie antwortete ihm freundlich, wenn er sie ansprach, und lächelte geduldig, wenn er ihr Fragen über das Pflanzenleben stellte, das sie so fesselnd fand. Die meiste Zeit jedoch blieb sie ihm gegenüber zurückhaltend und unzugänglich, lehnte es ab, sich in ein allgemeines Gespräch verwickeln zu lassen. Sie verkroch sich hinter den Mauern jener geheimen Eigenwelt, in die sie sich geflüchtet hatte, seit sie diese Wanderung aufgenommen hatten.
Im Laufe des Tages ertappte sich Wil immer wieder dabei, daß seine Gedanken zu Eretria wanderten. Er fragte sich, ob sie wirklich, wie sie gedroht hatte, Cephelo und seine Familie verlassen würde, ob er sie in der Tat eines Tages Wiedersehen würde. Das Mädchen besaß eine sprühende Lebendigkeit, die ihn faszinierte. Sie erinnerte ihn an eine flüchtige Vision, wie sie die Sirenen heraufzubeschwören pflegten, die auf dem Schlachtengrund wuchsen — betörend und verlockend, ein Bildnis, das wilde und herrliche Gefühle weckte. Er lächelte über den Vergleich. Unsinnig im Grunde. Sie war aus Fleisch und Blut, sie war kein Bildnis.
Doch wenn er ihr je näherkommen sollte, würde er dann entdecken, daß sie, wie die Sirene, Blendwerk war? Sie hatte etwas an sich, das diesen Verdacht in ihm weckte, und es beunruhigte ihn stark. Er hatte nicht vergessen, wie sie ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um seines zu retten; schrecklich wäre es ihm gewesen, erkennen zu müssen, daß der Edelmut Schein gewesen war.
Als die Nacht hereinbrach, schwenkten sie nach Westen und folgten der Linie des Waldes, der sich nordwärts dehnte zu den Weiten der Streleheim-Ebene. Als die Dunkelheit sie umhüllte, lenkte Wil Artaq in den Wald hinein, und sie folgten einem kleinen Bach durch die Bäume bis zu einem weißschäumenden Wasserfall. Dort schlugen sie ihr Nachtlager auf. Sie fütterten und tränkten Artaq, ehe sie an sich selbst dachten. Da ein Feuer vielleicht zu gefährlich wäre, begnügten sie sich mit einem Mahl aus Früchten und Kräutern, die Amberle im Lauf des Tages gesammelt hatte. Wil war diese Kost fremd, doch sie schmeckte ihm. Mit der Zeit, dachte er, würde er sich vielleicht sogar daran gewöhnen. Er hatte die letzte der merkwürdigen, länglichen orangefarbenen Früchte beinahe verzehrt, als das Elfenmädchen ihn plötzlich mit einem fragenden Blick ansah.
»Macht es dir etwas aus, wenn ich dir eine Frage stelle?« wollte sie wissen.
Er lachte. »Woher soll ich wissen, ob es mir etwas ausmacht, wenn ich gar nicht weiß, was du mich fragen willst?«
»Du brauchst nicht zu antworten, wenn du es nicht willst —aber die Frage geht mir schon im Kopf herum, seit wir gestern abend aus dem Lager der Fahrensleute fortgeritten sind.«
»Dann frag doch.«
Auf der kleinen Lichtung, wo sie saßen, herrschte tiefe Dunkelheit. Das bleiche Licht des Mondes und der Sterne konnte nicht durch das Gewirr dichtbelaubter Äste hindurchdringen. Amberle rückte näher an Wil heran, so daß sie sein Gesicht schwach erkennen konnte.
»Versprichst du mir, ehrlich zu antworten?« Sie sah ihn eindringlich an.
»Ja.«
»Als du die Elfensteine gebrauchtest, hast du da —« Sie zögerte, als sei sie sich des Wortes nicht recht sicher, das sie verwenden sollte. »Hast du dich da — verletzt?«
Überrascht blickte er sie an, und in den Tiefen seines Geistes regte sich eine plötzliche Vorahnung, unbestimmt und verschwommen noch, aber spürbar.
»Das ist eine seltsame Frage.«
»Ich weiß.« Sie nickte, und ein schwaches Lächeln huschte über ihre Züge, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Ich kann es eigentlich nicht richtig erklären — es war ein Gefühl, das ich bekam, als ich dich beobachtete. Anfangs hatte es den Anschein, als könntest du den Elfensteinen gar nicht deinen Willen aufzwingen. Du hast sie hochgehalten und es geschah nichts, obwohl ganz deutlich zu sehen war, daß du versuchtest, dich ihrer Kraft zu bedienen, um den Dämon aufzuhalten. Und als die Steine dann schließlich doch reagierten, da ging eine Veränderung mit dir vor — dein Gesicht zeigte es ganz deutlich — es sah aus wie ein großer Schmerz.«
Wil nickte sinnend. Er erinnerte sich jetzt, und die Erinnerung war nicht erfreulich. Bis zu diesem Augenblick hatte er sie aus seinem Geist verbannt gehabt — ohne nachzudenken, beinahe wie im Unbewußten. Selbst jetzt wußte er nicht, warum er das getan hatte. Und erst in diesem Augenblick, als sie es ihm ins Gedächtnis zurückrief, erinnerte er sich dessen, was er empfunden hatte.
Anteilnahme spiegelte sich in den Augen des Elfenmädchens, als sie ihn jetzt anblickte.
»Wenn du nicht —«, begann sie hastig.
»Doch!« Seine Stimme war ruhig und fest. »Doch. Ich weiß nicht, ob ich selbst überhaupt verstehe, was vorgegangen ist —aber es wäre sicher eine Hilfe, darüber zu sprechen, denke ich mir.«
Er holte tief Atem und wählte seine Worte mit Bedacht.
»Irgendwo in meinem Inneren war eine Sperre. Ich weiß nicht, was es war, oder wodurch sie hervorgerufen wurde, aber sie war da, und sie hinderte mich daran, die Kraft der Steine einzusetzen. Es war so, als könnte ich diese Sperre nicht überwinden.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Dann stand der Dämon praktisch direkt vor mir, und du und Eretria ward neben mir. Ich wußte, daß wir alle sterben würden, und irgendwie brachte ich es fertig, die Sperre zu sprengen — ich zerschmetterte sie und konnte endlich ins Innere der Steine eindringen…«
Er machte eine Pause, ehe er weitersprach. »Ich spürte keinen Schmerz, aber ich hatte das Gefühl, daß etwas Unschönes in meinem Inneren geschah — etwas — ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich hatte das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben — obwohl doch an dem, was ich getan hatte, gar nichts Unrechtes war.«
»Vielleicht wurde das Unrecht dir angetan«, murmelte sie nach einem Augenblick der Überlegung. »Vielleicht ist der Elfenzauber irgendwie schädlich für dich.«
»Vielleicht«, pflichtete er ihr bei. »Aber mein Großvater hat mir nie davon gesprochen. Kann es sein, daß der Zauber auf ihn keine Wirkung hatte, während er auf mich sehr wohl wirkt? Aber wenn das so wäre, weshalb dann der Unterschied?«
Sie schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Der Zauber der Elfen ruft bei dem einzelnen Menschen verschiedene Wirkungen hervor. Es war immer schon so. Es ist ein Zauber, der aus dem Geist geboren ist, und der Geist ist nun mal keine Konstante.«
»Aber mein Großvater und ich, wir sind einander so ähnlich — nicht einmal meinem eigenen Vater war ich so ähnlich.« Wil schwieg grübelnd. »Verwandte Geister, könnte man sagen — und nicht so unterschiedlich geartet, daß sich diese — diese andersartige Reaktion damit erklären ließe.«
Amberle neigte sich zu ihm und legte ihm fest die Hand auf den Arm.
»Ich finde, du solltest die Kraft der Elfensteine nicht wieder einsetzen.«
Er lächelte. »Nicht einmal, um dich zu schützen?«
Er sagte es leichthin, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht. Für sie war nichts Erheiterndes an diesem Gespräch.
»Niemals würde ich wollen, daß du meinetwegen Schaden nimmst, Heiler«, erwiderte sie still. »Nicht mein Wille war es, der dich zu dieser Reise zwang, und es ist mir arg, daß du überhaupt hier bist. Aber da du nun einmal hier bist, will ich offen sprechen.
Elfenzauber ist kein Spielzeug; er kann sich als gefährlicher erweisen als das Böse, das abzuwehren er geschaffen wurde. Unsere Geschichtsbücher haben uns diese Warnung hinterlassen, wenn auch sonst herzlich wenig. Der Zauber kann nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist wirken. Körperliche Wunden kann man behandeln. Was aber ist mit geistigen Schäden? Wie willst du die behandeln, Heiler?«
Sie neigte sich noch näher zu ihm. »Niemand ist dieses Wagnis wert — niemand! Und schon gar nicht ich.« Er blickte sie schweigend an und war erstaunt, Tränen in ihren Augen zu sehen. Er legte seine Hand auf die ihre.
»Wir werden aufeinander achtgeben«, versprach er und versuchte nochmals ein aufmunterndes Lächeln. »Vielleicht werden wir die Steine nicht wieder brauchen.«
Der Blick, mit dem sie ihn ansah, verriet, daß sie seinen Worten nicht glaubte.
Es war Mitternacht, als das Heulen der Dämonen-Wölfe aus der Stille des Graslandes aufstieg, schrill, gierig, haßerfüllt. Wil und Amberle erwachten mit einem Schlage, und eine eisige Angst verscheuchte die Seligkeit ihres Schlummers. Sie fuhren unter ihren Decken hoch und saßen einen Moment lang reglos, während sie mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrten. Das Heulen erstarb, verklang in der Stille der Nacht, schwoll wieder an, durchdrang gellend und kreischend das Schweigen. Diesmal zögerten die beiden nicht. Ohne ein Wort sprangen sie auf, schlüpften in ihre Stiefel, warfen sich ihre Umhänge über die Schultern. Innerhalb von Sekunden hatten sie Artaq gesattelt, saßen auf und galoppierten wieder nach Norden.
Dem Saum des Waldgebietes folgend, ritten sie in scharfem Tempo und hielten sich dabei im offenen Flachland, das von Mond und Sternen beleuchtet war. Kühle Nachtluft, schwer von Feuchtigkeit und den Gerüchen der Nacht, strömte über sie hinweg, während sie dahinjagten. Das wütende Heulen hinter ihnen verstummte nicht; noch war es weit entfernt, irgendwo jenseits des Mermidon. Die Dämonen-Wölfe waren auf der Suche. Die Spur, der sie folgten, war einen Tag alt; sie ahnten nicht, wie nahe sie ihrer Beute tatsächlich waren.
Artaq lief ruhig und leicht. Ohne Anstrengung flog sein mächtiger Körper über das Grasland, einem der vielen Schatten gleich, die die Sommernacht belebten. Er hatte Ruhe genug gehabt, um sich zu erholen, und würde nicht so schnell an Kraft verlieren. Wil achtete sorgfältig darauf, daß die Geschwindigkeit gleichmäßig blieb, und dem Rappen nicht zuviel abverlangt wurde. Es war noch früh; die Jagd hatte gerade erst begonnen. Wil war zornig auf sich selbst; er hatte nicht geglaubt, daß die Verfolger ihnen so rasch auf die Spur kommen würden. Die Elfensteine mußten ihnen ihre Anwesenheit im Tirfing verraten haben. Und augenblicklich hatten die Dämonen-Wölfe die Verfolgung des Talbewohners und des Elfenmädchens aufgenommen, hatten ihre Spur nach Norden verfolgt, hatten sie jetzt aus den Wäldern des Westlands aufgescheucht. Wenn die Wölfe erst den fluchtartig verlassenen Lagerplatz entdeckt hatten, würden sie wie die Besessenen hinter ihrem Wild herjagen. Die Dämonen würden Wil und Amberle hetzen, bis sie sie faßten.
Mehr als eine Stunde ritten sie über das Land, ohne das Tal zu sichten, unaufhörlich verfolgt vom schrillen Geheul der Bösen. In das Heulen mischten sich jetzt Schreie, die aus dem Grasland unterhalb der Drachenzähne und aus den Ebenen im Norden aufstiegen. Wil erschrak. Die Wölfe hatten sie umzingelt. Nur der Weg in das Westland stand ihnen noch offen. Er fragte sich plötzlich, ob nicht auch dort schon die Feinde warteten. Er erinnerte sich, wie es am Silberfluß gewesen war. Vielleicht war auch das Rhenn-Tal eine Falle. Vielleicht trieben die Verfolger sie absichtlich in das Tal hinein, um sie dort zu vernichten. Aber hatten sie denn noch eine Wahl? Nein, es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen.
Sekunden später steigerte sich das Heulen hinter ihnen zur Raserei. Die Dämonen-Wölfe hatten ihr Lager entdeckt.
Wil spornte Artaq zu gestrecktem Galopp an. Jetzt würden die Dämonen rasch näherkommen, siegessicher, daß ihr Wild dicht vor ihnen floh. Aus Norden und Osten antwortete gellendes, blutgieriges Kreischen dem tollwütigen Geheul aus den Wäldern. Artaq schwitzte, während er mit weit vorgestrecktem Kopf, die Ohren flach angelegt, über das flache Land jagte. Das Gras wurde spärlicher, wich dürren Krüppelbüschen und verdorrendem Gestrüpp; sie hatten die Streleheim-Ebene erreicht. Das Rhenn-Tal konnte nicht mehr weit entfernt sein. Wil neigte sich tief über Artaqs muskulösen Hals und trieb das tapfere Pferd noch mehr an.
In der dritten Stunde der Verfolgungsjagd, als sie das Grasland von Callahorn weit hinter sich gelassen hatten, und die Erde unter Artaqs donnernden Hufen hart und rissig geworden war, als das rasende Geheul der Dämonen-Wölfe so nahe herangekommen war, daß Wil meinte, die riesigen grauen Leiber mußten jeden Augenblick in Sicht kommen, als ihnen die Augen vom Wind tränten und vom Staub verklebt waren und ihre Körper fröstelten vor Angstschweiß, da endlich erblickten der Talbewohner und das Elfenmädchen den zerklüfteten Felskamm, der die Mündung des Rhenn-Tales bildete. Er erhob sich aus dem Flachland unterhalb der Elfenwälder, ein dunkler Felsrucken, der sich schwarz vor dem Nachthimmel abhob. Ohne das Tempo zu verlangsamen, nahmen die Reiter Kurs auf den Paß. Artaqs Flanken arbeiteten, und sein Atem kam mit keuchenden Stößen aus den geblähten Nüstern; der glatte schwarze Körper glänzte von Schweiß. Noch länger machte er sich, während er durch die Dunkelheit preschte, und die beiden jungen Leute, die auf seinem Rücken saßen, klammerten sich verzweifelt fest.
Innerhalb von Sekunden öffnete sich der Paß vor ihnen, zu beiden Seiten bewacht von zerklüfteten Felskämmen. Der Rappe jagte hinein in den engen Flaschenhals des Tals. Aus tränenden Augen spähte Wil in die Finsternis, während der Wind ihm ins Gesicht peitschte, und hielt Ausschau nach den Dämonen, die er hier erwartet hatte. Zu seiner Verwunderung entdeckte er nichts. Sie waren allein in dem kleinen Tal. Eine Aufwallung erleichterten Überschwangs überwältigte ihn. Sie würden entkommen! Die Verfolger lagen zu weit zurück, um sie einzuholen, bevor sie die Wälder des Westlands erreichten, das Land der Elfen. Dort wartete Hilfe …
Unvollendet blieb der Gedanke in seinem Hirn haften, wiederholte sich in endloser Monotonie mit dem Klang von Artaqs donnernden Hufen. Wil wurde eiskalt. Welchen Gedanken gab er sich da hin? Es gab keine Hilfe für sie. Niemand wußte ja, daß sie kamen — niemand außer Allanon, und der Druide war vernichtet. Hilfe? Welche Art Hilfe erwartete er denn? Schon waren die Dämonen bis ins Herz der Stadt Arborlon eingedrungen, um die Erwählten zu töten. Was könnte sie davon abhalten, einen unglaublich törichten Talbewohner und ein unbewaffnetes Elfenmädchen bis in die einsamen Wälder des Festlandes zu verfolgen? Sie hatten das Rhenn-Tal erreicht, doch was war damit gewonnen? Nichts. Im Gegenteil — draußen, im offenen Land, hatte Artaq ungehindert galoppieren können; und hier, im behindernden Gewirr der Wälder, konnte er es nicht. Nichts konnte hier die Dämonen-Wölfe daran hindern, sie zu verfolgen; diese Geschöpfe waren schneller undwendiger als sie, besser in der Lage, das Geschlinge von Ästen und Büschen zu durchdringen. Den Bösen würde die Verfolgung leichter fallen, als ihnen die Flucht. Am liebsten hätte er alles hinausgeschrieen, was er empfand. Dummheit! Durch seine Kurzsichtigkeit hatte er sie ihrer einzigen Chance auf ein Entkommen beraubt. Sie würden nie entkommen. Sie würden eingeholt und getötet werden. Und das war seine Schuld. Er hatte ihnen das angetan.
Er mußte etwas unternehmen.
Seine Gedanken überstürzten sich, während er voller Verzweiflung überlegte. Nur eine Waffe blieb ihm. Die Elfensteine.
Da schrie Amberle plötzlich auf. Wil fuhr herum. Sein Blick folgte dem Arm des Elfenmädchens, das himmelwärts wies.
Durch die Talöffnung segelte ein gewaltiges schwarzes Geschöpf auf ledrigen Schwingen, die weit ausgespannt waren. Auf seinen Schultern saß ein Kopf, so schief und verdreht wie ein verkrüppeltes Glied. Kreischend flog das Ungeheuer aus der Streleheim-Ebene in die Talspalte hinein und setzte ihnen nach. Nie zuvor hatte Wil ein so gigantisches Wesen gesehen. Außer sich vor Angst und Entsetzen schrie er auf Artaq ein, doch der Rappe hatte nichts mehr zuzugeben — nur die Willenskraft trieb ihn noch vorwärts. Dreihundert Schritte entfernt ragte schwarz der Gebirgszug in die Dunkelheit, durch den ein zweiter Paß aus dem Tal hinausführte in die Wälder auf der anderen Seite. Dort konnten sie sich vor dieser Ausgeburt eines Alptraums verstecken, dorthin konnte ihnen ein Ungeheuer von solcher Größe nicht folgen. Nur ein paar Sekunden brauchten sie.
Das geflügelte Ungeheuer stieß aus der Luft herab. Wie ein riesiger Felsbrocken schien es auf sie hinunterzufallen, wie es da taumelnd durch die Nacht stürzte. Wil Ohmsford sah es kommen und erblickte flüchtig den Reiter, den es trug, ein menschenähnliches Wesen, doch bucklig und mißgestaltet, mit roten Augen, die im Schwarz des Gesichtes glühten. Die Augen schienen ihn zu durchbohren, und er spürte, wie sein Mut dahinschmolz.
Einen Moment lang dachte er, es sei aus mit ihnen. Doch da hatte Artaq mit einem letzten verzweifelten Sprung den Paß erreicht, jagte zwischen den hohen Felsgipfeln hindurch und tauchte in die Dunkelheit der Bäume.
Einen schmalen, von tiefen Furchen durchzogenen Pfad donnerte der große Rappe hinunter, wurde kaum langsamer, während sein mächtiger Körper sich geschmeidig durch das Gewirr von Bäumen und Büschen schlängelte. Wil und Amberle hielten sich mit der Kraft der Verzweiflung auf dem Rücken des Pferdes. Zweige und stachlige Ranken schlugen ihnen ins Gesicht, und bei jeder Wendung des Rappen drohten sie abgeworfen zu werden. Wil versuchte Artaq zu zügeln, doch der war nicht zu bändigen. Der Talbewohner hatte völlig die Kontrolle über ihn verloren. Der Rappe lief jetzt sein eigenes Rennen.
Verwirrt durch die Finsternis des Waldes, die sie jetzt einhüllte, und durch den gewundenen Pfad, verloren die Reiter innerhalb von Sekunden völlig die Orientierung. Obwohl Wil das Heulen der Dämonen-Wölfe und das Kreischen des fliegenden Ungeheuers nicht mehr hören konnte, stand er Todesängste aus, daß sie im Kreise reiten und am Ende eben den Ungeheuern in die Fänge geraten könnten, denen sie zu entrinnen suchten. Zornig riß er am Zügel, doch Artaq reagierte überhaupt nicht.
Wil hatte schon die Hoffnung aufgegeben, den Rappen jemals zum Stillstand zu bringen, als das mächtige Pferd plötzlich langsamer wurde und dann anhielt. Keuchend, mit geblähten Nüstern blieb es mitten auf dem Waldweg stehen, senkte den edel geformten Kopf und wieherte leise. Wil und Amberle tauschten einen fragenden Blick.
Da tauchte unversehens eine hochgewachsene schwarze Gestalt vor ihnen auf. Lautlos glitt sie aus dem Schatten der Waldnacht. Es geschah so schnell, daß Wil nicht einmal Zeit blieb, an die Elfensteine zu denken. Die dunkle Gestalt trat näher, und eine Hand berührte behutsam Artaqs schweißtriefenden Hals und streichelte das seidige Fell. Aus dem Schatten einer dunklen Kapuze hob sich ein Gesicht zum Licht.
Es war Allanon.
»Ist dir auch nichts geschehen?« fragte er leise, während er die Arme ausstreckte, um Amberle aus dem Sattel zu heben und sie sanft auf den Boden hinunterzulassen.
Das Elfenmädchen schüttelte stumm den Kopf. Verwunderung spiegelte sich in ihren meergrünen Augen — Verwunderung und ein Anflug von Zorn. Der Druide runzelte die Stirn, dann wandte er sich ab, um Wil zu helfen, doch der junge Mann schwang sich schon aus dem Sattel.
»Wir dachten, Ihr seid tot!« stieß er ungläubig hervor.
»Ich habe den Eindruck, daß irgend jemand mich dauernd für tot erklärt«, versetzte der Druide leicht gereizt. »Wie du siehst, bin ich völlig —«
»Allanon, wir müssen fort von hier.« Wil warf einen angstvollen Blick über die Schulter. Seine Worte überschlugen sich, so eilig hatte er es, sie herauszubringen. »Die Dämonen-Wölfe sind hinter uns her, sie haben uns den ganzen Weg verfolgt, und drinnen im Tal hätte uns so ein riesiges, schwarzes fliegendes Ungeheuer —«
»Langsam, Wil!«
»- beinahe erwischt. Es ist größer als alles, was mir je unter die Augen gekommen ist —«
»Wil!«
Wil Ohmsford verstummte. Allanon schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Würdest du mich vielleicht auch einmal zu Wort kommen lassen?« Wil nickte errötend. »Danke. Zunächst einmal brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, ihr seid hier in Sicherheit. Die Dämonen verfolgen euch nicht länger. Ihr Anführer wittert meine Anwesenheit. Ich bin ihm nicht geheuer, und er hat kehrt gemacht.«
Wil war skeptisch. »Seid Ihr ganz sicher?«
»Vollkommen. Niemand ist euch gefolgt. Kommt jetzt beide mit mir dort hinüber und setzt euch.«
Er führte sie zu einem umgestürzten Baumstamm, der neben dem Pfad lag, und die beiden jungen Leute ließen sich erschöpft darauf niedersinken. Allanon blieb stehen.
»Wir müssen noch heute abend nach Arborlon«, sagte er zu ihnen. »Aber ein paar Minuten Rast können wir uns schon erlauben, bis wir aufbrechen.«
»Wie seid Ihr hierher gekommen?« fragte Wil.
»Ich könnte euch die gleiche Frage stellen.« Der Druide ließ sich auf ein Knie nieder und zog die schwarzen Gewänder eng um seinen mageren Körper. »Ihr begreift wohl, was euch unten am Fluß geschehen ist?«
Wil nickte. »Ich glaube schon.«
»Es war der König vom Silberfluß«, warf Amberle ein. »Wir haben ihn gesehen; er hat mit uns gesprochen.«
»Er hat mit Amberle gesprochen«, berichtigte Wil. »Aber was ist Euch widerfahren? Hat er auch Euch geholfen?«
Allanon schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn leider nicht einmal zu Gesicht bekommen — ich habe nur das Licht gesehen, das euch einhüllte und davontrug. Er ist ein einsiedlerischer und geheimnisvoller Alter, und er zeigt sich nur sehr wenigen. Diesmal beliebte es ihm, sich euch zu zeigen. Den Grund dafür weiß nur er selbst. Wie dem auch sei, sein Auftauchen stiftete beträchtliche Verwirrung unter den Dämonen, und ich machte mir diese Verwirrung zunutze, um zu entkommen.«
Er hielt einen Augenblick inne und richtete das Wort dann an Amberle.
»Amberle, du sagtest, daß er mit dir gesprochen hat. Erinnerst du dich, was er sagte?«
Das Elfenmädchen war verlegen.
»Nein, nicht genau. Es war wie ein Traum. Er sagte etwas von — von einem Vereintsein.«
Flüchtig glomm ein Funke des Verständnisses in den dunklen Augen des Druiden auf. Doch weder Wil noch Amberle sahen ihn, und er erlosch sogleich wieder.
»Nun, es spielt keine Rolle.« Allanon tat die Episode mit einer gewissen Nachlässigkeit ab. »Er hat euch geholfen, als ihr Hilfe brauchtet, und dafür stehen wir in seiner Schuld.«
»O ja, in seiner Schuld ganz gewiß. Aber nicht in Eurer.« Amberle gab sich keine Mühe, ihren Zorn zu verbergen. »Wo seid Ihr gewesen, Druide?«
Allanon schien überrascht. »Ich habe nach euch gesucht. Als der König vom Silberfluß euch half, trennte er uns leider voneinander. Ich wußte natürlich, daß ihr in Sicherheit ward, aber ich wußte nicht, wohin der Alte euch gebracht hatte, oder wie ich euch wiederfinden sollte. Ich hätte es mit Zauberkraft versuchen können, doch das schien mir unnötig gefährlich. Der Führer dieser Dämonen, die die Mauer der Verfemung durchbrochen haben, verfügt über Kräfte, die so groß sind wie meine eigenen. Vielleicht sogar größer. Hätte ich Zauberkraft angewendet, so hätte ihm das womöglich den Weg zu mir und zu euch gewiesen. Ich entschied mich deshalb dafür, die Reise nach Arborlon fortzusetzen und unterwegs nach euch Ausschau zu halten. Ich hoffte, ihr würdet euch der Anweisungen erinnern, die ich euch gegeben hatte, und euch daran halten. Da ich gezwungen war, zu Fuß weiterzumarschieren —dein Grauer, Wil, kam in der Schlacht um —, war ich die ganze Zeit überzeugt, ihr wärt vor mir. Erst als du, Wil, die Kraft der Elfensteine gebrauchtest, erkannte ich, daß ich mich geirrt hatte.«
Er zuckte die Schultern.
»Da war ich schon fast in Arborlon. Ich kehrte augenblicklich um und marschierte in südlicher Richtung durch das Waldland, da ich glaubte, daß ihr schon unterhalb des Mermidon den Schutz der Wälder suchen wurdet. Wieder irrte ich mich. Als ich das Heulen der Dämonen-Wölfe wahrnahm, wurde mir klar, daß ihr versuchtet, das Rhenn-Tal zu erreichen. Diese Erkenntnis führte mich hierher.«
»Ich habe den Eindruck, du hast dich sehr häufig geirrt«, bemerkte Amberle schnippisch.
Allanon antwortete darauf nichts. Ihre Blicke trafen sich.
»Meiner Meinung nach begingt Ihr den ersten Irrtum schon, als Ihr zu mir gekommen seid«, fuhr sie mit anklagender Stimme fort.
»Ich mußte zu dir kommen.«
»Das wird sich erweisen. Was mir im Augenblick Sorge macht, ist die Tatsache, daß die Dämonen uns von Anfang an immer einen Schritt voraus gewesen sind. Wie oft haben sie mich jetzt schon beinahe gefaßt?«
Allanon erhob sich. »Zu oft. Es wird nicht wieder vorkommen.«
Auch Amberle sprang auf. Ihr Gesicht war zornig.
»Eure Versprechungen sind mir längst keine Beruhigung mehr. Ich sehne das Ende dieser Reise herbei. Ich möchte zurück nach Hause — nach Havenstead, nicht nach Arborlon.«
Das Gesicht des Druiden zeigte keinerlei Ausdruck.
»Begreife doch: Ich tue für dich, was ich kann.«
»Vielleicht. Vielleicht tut Ihr aber auch nur das, was Euch paßt.«
Der Druide war gekränkt.
»Das ist ungerecht, Elfenmädchen. Du weißt weniger über diese Sache, als du glaubst.«
»Aber eines weiß ich — ich weiß, daß weder Ihr noch der Beschützer, den Ihr mir an die Seite gestellt habt, sich als sonderlich hilfreich erwiesen habt. Viel glücklicher wäre ich, wenn ich keinen von euch beiden je gesehen hätte.«
Sie war so zornig, daß sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Trotzig starrte sie Allanon und Wil an, als wolle sie ihren Widerspruch herausfordern. Da sich beide in Schweigen hüllten, wandte sie sich ab und stapfte energischen Schrittes den dunklen Pfad hinunter.
»Ihr habt gesagt, daß wir noch heute Arborlon erreichen müssen, Druide«, rief sie nach einer Weile. »Ich möchte diese Sache endlich hinter mich bringen!«
Wil Ohmsford blickte ihr wortlos nach. Ärger und Verwirrung spiegelten sich auf seinen Zügen. Einen Lidschlag lang dachte er ernsthaft daran, einfach hier sitzen zu bleiben und das Elfenmädchen seines Wegs gehen zu lassen. Sie empfand offensichtlich ohnehin nichts für ihn. Dann spürte er Allanons Hand auf seiner Schulter.
»Sei mit deinem Urteil nicht zu voreilig«, mahnte der Druide leise.
Dann trat er zu Artaq hin und nahm die Zügel des Pferdes. Wil stand auf. Mitgehangen, mitgefangen, sagte er sich.
Der Druide hatte sich schon auf den Weg gemacht, der zierlichen Gestalt des Elfenmädchens zu folgen, die unter den Bäumen verschwunden war. Grollend trottete Wil hinterher.