Der zweite Tag der Schlacht um Arborlon gehörte Andor Elessedil. Es war der Tag voll Blut und Schmerz, ein Tag des Todes und des Heldenmutes. Die ganze Nacht hatten unablässig Dämonen-Horden über die Wasser des Singenden Flusses gesetzt, einzeln und in Gruppen, bis schließlich, zum ersten Mal seit sie der Mauer der Verfemung entronnen waren, ihr gesamtes Heer zum Angriff gesammelt stand. Am Fuß des Carolan, von der Felswand zum Flußufer, von Norden bis Süden soweit das Auge reichte, drängten sich die Massen des Feindes, schrecklich anzusehen und unendlich an Zahl. Vor Morgengrauen schlugen sie los. In nicht enden wollenden Wogen brandeten sie gegen die Mauern des Elfitch, rasend und heulend vor Haß. In wilder Flut sprangen sie an den Felshöhen empor, kletterten am kahlen Stein hinauf, kämpften sich mit wütend gefletschten Zähnen durch einen Hagel von Pfeilen. Höher stiegen die Massen, einer Flutwelle gleich, die die Verteidiger, die oben warteten, überschwemmen und mit sich fortreißen würde. Andor Elessedil war es, der alles entschied. Er war, als würde er an diesem Tag endlich der König, der sein Vater gewesen war, der König, der fünfzig Jahre zuvor die Elfen gegen die Heere des Dämonen-Lords geführt hatte. Verflogen waren Mattigkeit und Entmutigung. Verflogen waren die Zweifel, die ihn seit der Schlacht am Halys-Joch gequält hatten. Er glaubte wieder an sich selbst und an die Entschlossenheit jener, die an seiner Seite kämpften. Es war ein historischer Moment, und der Elfenprinz wurde zu seinem Mittelpunkt. Um ihn geschart standen die Heere von vier Rassen, deren Banner im Morgenwind flatterten. Hier waren die silbernen Kriegsadler und die mächtige Eiche der Elfen, das Grau und Rot der Freitruppe, die schwarzen Rösser der alten Garde; dort flogen die Farben der Zwergpioniere, waldgrün, das von der Schlangenlinie des Silberflusses geteilt wurde, und die Standarte der Bergtrolle von Kershal, die einen Hammer und blaue Berggipfel zeigte. Nie zuvor hatten sie alle im selben Wind geflattert. Nie zuvor in der Geschichte der Vier Länder hatten die Rassen sich vereinigt, um gemeinsam für eine Sache zu kämpfen. Troll und Zwerg, Elf und Mensch — die Menschwesen der neuen Welt standen zusammen gegen eine böse Macht aus uralter Zeit. An diesem einen, wunderbaren Tag wurde Andor Elessedil zu dem zündenden Funken, der sie alle zum Leben erweckte.
Er war überall zugleich, bald hoch oben auf dem Fels, bald an den Toren des Elfitch, mal zu Pferd, mal zu Fuß, immer dort, wo die schwersten Kämpfe erbittert wüteten. Im schimmernden Kettenhemd, den Ellcrysstab hocherhoben, stand er in der vordersten Linie derer, die die Stadt vor dem Ansturm der Dämonen verteidigten. Ganz gleich, wohin er kam, die Verteidiger faßten neuen Mut und sammelten sich wieder. Obwohl an Zahl stets unterlegen, obwohl ständig unter gewaltigem Druck, gelang es dem Elfenprinzen und seinen Waffengefährten, die Angreifer zurückzuwerfen. Andor Elessedil wuchs an diesem Tag über sich selbst hinaus, kämpfte mit so grimmiger Entschlossenheit, daß es schien, als könne nichts ihm widerstehen. Wieder und wieder versuchten die Dämonen, die rasch erkannt hatten, daß dieser eine Mann die treibende Kraft hinter den Verteidigern war, seiner habhaft zu werden. Wieder und wieder schien es, als würde es ihnen gelingen, wenn sie Andor in einem Schwarm schwarzer, wütender Leiber umringten. Jedesmal aber kämpfte er sich seinen Weg wieder frei. Jedesmal wurden die Dämonen zurückgetrieben.
Es war ein Tag der Helden, denn alle Verteidiger Arborlons wurden durch den hohen Mut des Elfenprinzen befeuert. Eventine Elessedil stand an der Seite seines Sohnes und kämpfte mit Tapferkeit, und allein schon seine Gegenwart gab den Elfen Mut und Entschlossenheit. Auch Allanon war da. Hochgewachsen, schwarzgewandet, überragte er um Haupteslänge die Kämpfenden um ihn herum, wenn die blauen Flammen aus seinen Fingern züngelten und mitten unter die rasenden Dämonen fuhren. Zweimal brachen die Dämonen durch das Tor der dritten Rampe, und zweimal warfen die Bergtrolle unter Führung Amantars sie wieder zurück. Stee Jans und die Männer der Freitruppe fingen einen dritten Angriff ab, begegneten ihm mit einer Gegenattacke von solchem Feuer und solcher Härte, daß sie die Dämonen bis zur zweiten Rampe zurückwarfen und eine Zeitlang sogar die Tore wiederzuerobern hofften. Elfen-Kavallerieund Zwergpioniere wehrten am Rand des Carolans einen Überfall nach dem anderen ab, drängten scharenweise die Dämonen zurück, denen es gelungen war, die Felswand zu erklimmen, und die nun die Verteidiger auf dem Elfitch von den Flügeln her anzugreifen drohten.
Doch Andor war es, der sie alle führte, Andor, der ihnen neue Kraft und neuen Mut gab, wenn es schien, als könnten sie dem Ansturm nicht länger widerstehen. Andor war es, der sie immer wieder von neuem beflügelte. Als der Tag schließlich zu Ende ging, und die Dunkelheit sich herabsenkte, waren die Dämonen gezwungen, sich wiederum zurückzuziehen und in den schwarzen Wäldern am Fuß des Felsplateaus Schutz zu suchen. Heulend und kreischend vor ohnmächtiger Wut wichen sie zurück. Wieder war es den Verteidigern Arborlons gelungen, die Stadt zu halten. Es war Andor Elessedils größte Stunde.
Dann aber schien das Blatt sich zu wenden. Mit dem Einbruch der Nacht griffen die Dämonen von neuem an. Sie warteten nur, bis das letzte Sonnenlicht verglüht war, dann stürmten sie aus den Wäldern hervor, um die Verteidigungsstellen der Elfen zu überrennen. Im Nu hatten sie die Fackeln gelöscht, die die Verteidiger am unteren Teil des Elfitch entzündet hatten, und kämpften sich hinauf zum Tor der dritten Rampe. Verzweifelt stemmten sich die Verteidiger gegen den Ansturm; die massigen Bergtrolle blockierten das Tor, während Elfen und Freikämpfer von der Höhe der Mauern versuchten, die Angreifer abzuwehren. Doch der Ansturm war zu gewaltig; das Tor gab nach, die beiden Flügel flogen auf. Und mit wütendem Geheul strömte das Heer der Dämonen durch das doppelt geöffnete Tor.
Auch oben auf den Höhen gelang es jetzt den Dämonen, Breschen zu schlagen. Dutzende schwarzer Gestalten drängten sich durch die Linien der Kavallerie, welche die Höhe bewachten, und stoben mit wildem Geheul zur Stadt. Mehr als einhundert von ihnen stürmten den Garten des Lebens, wohl wissend, daß hinter seinen Toren jenes Zauberwesen stand, das sie so viele Jahrhunderte lang eingeschlossen gehalten hatte. Dort stießen sie auf die Soldaten der Schwarzen Wache, die bereitstanden, den uralten Baum, der ihnen anvertraut war, bis auf den letzten Mann zu verteidigen. In wahnsinniger Raserei griffen die Dämonen an, stürzten mitten hinein in die gesenkten Piken der Schwarzen Wache und wurden in Stücke zerrissen.
Am südlichen Ende des Carolan gelang es einer anderen Horde von Dämonen, sich im Schatten der Nacht zur Höhe emporzuarbeiten. Den von der Schwarzen Wache behüteten Garten des Lebens abseits liegen lassend, stahlen sie sich nach Osten, weg vom Carolan, und krochen hinter einer Reihe von Fackeln, die am Felsrand aufgestellt waren, durch die flackernden Schatten, um dann zur Stadt zu stürmen. Ein halbes Dutzend verwundeter Elfen, die, kampfunfähig, auf dem Weg nach Hause waren, fielen ihnen in die Hände, wurden getötet. Noch mehr wären umgekommen, hätte nicht eine Patrouille von Zwergenpionieren eingegriffen, die, zusammen mit Elfen-Patrouillen, den Umkreis der Stadt überwachten. Als sie merkten, daß es den Dämonen gelungen war, die Reihen der Verteidiger auf der Höhe zu durchbrechen, folgten sie den Schreien der Sterbenden und überraschten die Mörder. Als der Kampf endlich vorüber war, standen nur noch drei der Zwerge auf den Beinen. Doch alle Dämonen waren tot.
Als der Morgen graute, war die Höhe wieder freigekämpft, die Dämonen noch einmal zurückgeworfen. Doch die dritte Rampe des Elfitch war verloren, und die vierte war bedroht. Am Fuß der Felswand sammelten sich die Dämonen von neuem. Wildes Geschrei schallte durch die morgendliche Stille, als sie in wogenden Massen die Rampe hinaufstürmten. Jene, welche die Horde anführten, trugen einen gewaltigen Sturmbock. Mit ihm rannten sie gegen das Tor an, zertrümmerten die beiden schweren Holzflügel, und sogleich strömten die Horden mit wildem Triumphgeschrei hindurch. Trolle und Elfen bildeten in aller Eile eine festgefügte Phalanx, eine Wand eiserner Speere und Lanzen, die sich tief in die Woge zuckender schwarzer Leiber bohrten. Doch die Dämonen ließen nicht nach, weiter stürmten sie vor, warfen sich immer wieder gegen die Reihen der Verteidiger, bis sie diese hinter die dicken Mauern der fünften Rampe zurückgedrängt hatten.
Es war eine verteufelte Situation. Vier der sieben Terrassen des Elfitch waren verloren. Die Dämonen waren auf dem besten Weg, die Höhen des Plateaus zu erklimmen. Andor sammelte die Verteidiger um sich, während Amantar und Kerrin mit ihren Truppen die Flügel verstärkten. Die Dämonen preschten von neuem vor, warfen sich krachend gegen das Tor der Rampe. Doch als es schon schien, als könne ihr Durchbruch nicht mehr verhindert werden, erschien Allanon auf der Höhe der Mauer und erhob seine Arme. Blaue Flammen züngelnd die Rampe hinunter, trieben die Dämonenhorden auseinander und verbrannten den Sturmbock zu Asche. Erschrocken und bestürzt fielen die Dämonen zunächst einmal zurück.
Den ganzen Morgen versuchten die Dämonen immer wieder, die Verteidigungslinien der Elfen an der fünften Rampe zu durchbrechen. Als es Mittag wurde, gelang es ihnen schließlich. Zwei gewaltige, riesenhafte Unholde drängten sich an die Vorderfront des Dämonenheeres und warfen sich donnernd gegen das Tor — einmal, zweimal. Holz und Eisen zersprangen, die Torflügel splitterten, wurden auseinandergerissen. Die Unholde stürmten hindurch und jagten die Verteidiger auseinander. Eine kleine Gruppe von Bergtrollen versuchte, sie aufzuhalten, doch die Unholde wischten die Trolle zur Seite, als seien sie aus Papier. Wieder sammelte Andor seine Soldaten um sich und feuerte sie zum Gegenangriff an. Doch die Dämonen strömten jetzt in hellen Heerscharen durch das gesprengte Tor und überschwemmten die Verteidiger.
Eventine Elessedil, der der Sicherheit des höherliegenden Tores entgegenritt, wurde das Pferd getötet, und der alte König stürzte. Die Dämonen sahen es. Mit gierigem Geheul rannten sie vorwärts. Sie hätten ihn getötet, wäre nicht Stee Jans gewesen. Er und der klägliche Rest seiner Leute sprangen den Ungeheuern in den Weg und griffen sie mit mächtigen Schwerthieben an. Hinter ihnen kam Eventine torkelnd auf die Beine; benommen und blutig geschlagen, doch am Leben. Rasch führte Kerrin die Leibgarde in die Nähe des Königs, und sie trugen ihn aus dem Schlachtgetümmel fort.
Die Soldaten der Freitruppe hielten noch einige Zeit länger aus, dann wurden auch sie überrannt. Die Dämonen drängten unaufhaltsam vor, schoben sich einfach an den Elfen vorbei, die versuchten, ihnen den Weg zu versperren. Angeführt wurde der Überfall von den beiden Unholden, die das Tor gesprengt hatten, und die nun alle niedertrampelten, die sich ihnen in den Weg stellten. Den Ellcrysstab hoch erhoben, rief Andor die Verteidiger der Stadt zusammen, mit ihm gemeinsam die Attacke der Dämonen abzuwehren. Doch zu gewaltig war der Ansturm. Amantar und Stee Jans kämpften, an die Mauern der Rampe zurückgedrängt um ihr Leben und vermochten nicht, den Elfenprinzen zu erreichen. Einen beängstigenden Moment lang stand Andor Elessedil praktisch allein vor dem Heer wütender Dämonen, das sich unaufhaltsam heranwälzte.
Doch nur einen Augenblick lang. Auf der Höhe des Tores zum sechsten Plateau pfiff Allanon Dayn vom Rand des Carolan herunter. Ohne ein Wort riß er dem verwundeten Himmelsreiter die Zügel seines Vogels aus der Hand und sprang auf den Rücken des gigantischen Rock. Im nächsten Moment schwebte er abwärts, während seine schwarzen Gewänder sich um ihn bauschten wie Segel. Dancer schrie einmal laut auf, dann stieß er mit reißenden Krallen und hackendem Schnabel herab, mitten unter die Dämonen, die Andor bedrohten. Kreischend stürzten die schwarzen Gestalten auseinander. Blaues Feuer raste zuckend aus den Fingern des Druiden, und die Rampe vor ihm verwandelte sich in ein Flammenmeer. Mit rascher Hand zog er den erstaunten Andor zu sich hinauf, gab Dancer einen scharfen Befehl, und sogleich hob sich der Rock wieder in die Lüfte; unten gewannen gerade die letzten Verteidiger die Sicherheit der sechsten Rampe, und das Tor fiel hinter ihnen zu.
Noch einige Sekunden lang loderte das Feuer des Druiden, dann erstarb es zuckend. Wutentbrannt jagten die Dämonen den fliehenden Verteidigern nach. Doch inzwischen hatte man die Zwergenpioniere oben auf der Höhe alarmiert. Winden und Flaschenzüge begannen sich zu drehen, und die Ketten um die Stützpfeiler der Rampe strafften sich. Gleich würden Broworks schlau verborgene Fallen zuschnappen. Knirschend, krachend lösten sich die schon geschwächten Stützpfeiler unter dem Elfitch, von den Ketten herausgezogen. Rüttelnd und schwankend senkte sich die Rampe unterhalb der sechsten Stufe und splitterte. Dämonen, die sich auf ihr befanden, verschwanden in einer riesigen Wolke von Staub und Trümmern. Gellende Schreie erfüllten die Luft, und von der großen unteren Rampe war nichts mehr zu sehen.
Als der Staub sich gelegt hatte, war der Elfitch vom Tor der sechsten Rampe bis hinunter zur vierten nur noch ein wüster Haufen von Geröll und zersplitterten Holzbalken. Die Leichen zahlloser Dämonen, verzerrt und zerfetzt, lagen überall. Die, die überlebt hatten, wichen bis zum Fuß der Felswand zurück, wobei sie Mühe hatten, dem Hagel von Felsbrocken und Geröll zu entgehen, der sich über sie ergoß. Sie zogen sich in die Wälder zurück.
An diesem Tag griffen die Dämonen nicht wieder an.
Eventine Elessedil, der eine Kopfwunde davongetragen hatte und dazu eine Anzahl kleinerer Verletzungen, wurde vom Schlachtfeld auf der Höhe des Elfitch in die Stille und Abgeschiedenheit seines Hauses getragen. Der getreue Gael säuberte und verband die Wunden und half seinem König ins Bett. Danach ließ man den König der Elfen allein, um ihm Ruhe zu gönnen. Dardan und Rhoe bezogen Posten vor der Tür seines Schlafgemachs. Aber Eventine schlief nicht. Der Schlaf mied ihn. In den weichen Federkissen lag er und starrte tieftraurig vor sich hin. Verzweiflung überflutete ihn. Der Kampf war verloren, auch wenn die Freitruppe, die Zwerge und die Bergtrolle den Elfen mit großem Einsatz Beistand geleistet hatten. Alle Verteidigungsmaßnahmen hatten nichts geholfen. Einen Tag noch, vielleicht zwei, dann würden das sechste und das siebte Tor des Elfitch fallen, und die Dämonen würden die Höhe des Carolan erreichen. Das war dann das Ende. An Zahl hoffnungslos unterlegen, würden die Verteidiger schnell überrannt und vernichtet werden. Das Westland würde verlorengehen, die Elfen in alle vier Winde vertrieben werden.
Die innere Bedeutung dessen, was ihm das Herz bedrückte, quälte ihn tief. Wenn die Dämonen hier siegten, dann bedeutete das, daß Eventine Elessedil versagt hatte. Nicht nur seinem eigenen Volk gegenüber, sondern den Völkern der Vier Länder gegenüber — denn die Dämonen würden beim Westland nicht haltmachen, jetzt, da sie vom Fluch der Verfemung befreit waren. Und wie stand es um seine Vorfahren, die vor so vielen Jahrhunderten die Dämonen eingekerkert hatten, zu einer Zeit, die so fern war, daß sie ihm unvorstellbar blieb? Auch ihnen gegenüber würde er versagt haben. Sie hatten die Mauer der Verfemung geschaffen, doch ihre aufrechte Haltung hatten sie jenen anvertraut, die nach ihnen folgten; sie hatten sich darauf verlassen, daß die, die nach ihnen kamen, dafür sorgen würden, daß der Bannspruch seine Wirkung behielt. Doch im Laufe der Jahrhunderte, während der Umwälzungen, die die alte Welt vernichtet und zu einer Neugeburt der Rassen geführt hatten, hatte man den Bannspruch vergessen. Alle hatten ihn vergessen. Selbst die Erwählten hatten ihn nur als einen fernen Teil ihrer Geschichte angesehen, eine uralte Legende, die einem anderen Zeitalter angehörte, der Vergangenheit oder der Zukunft — niemals aber eigentlich der Gegenwart.
Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Wenn Arborlon fiel, wenn das Westland verloren war, dann würde das seine Niederlage sein. Seine! Seine durchdringenden blauen Augen wurden hart vor Zorn. Zweiundachtzig Jahre hatte er auf der Erde gelebt; mehr als fünfzig davon war er der Führer seines Volkes gewesen. Er hatte viel erreicht in dieser Zeit — und nun würde alles verlorengehen. Er dachte an Arion, seinen Erstgeborenen, seinen Sohn, der hätte leben sollen, um das weiterzuführen, wofür er so hart gearbeitet hatte, und er dachte auch an Kael Pindanon, den alten Waffengefährten, den treuen Freund. Er dachte an die Elfen, die bei der Verteidigung des Sarandanon und Arborlons gefallen waren. Für nichts waren sie gestorben.
Er schlüpfte tiefer unter die Decke seines Bettes, während er überlegte, welche Möglichkeiten noch geblieben waren, welche Taktik sich vielleicht noch anwenden ließ, auf welche Reserven man zurückgreifen konnte, wenn die Dämonen erneut angriffen. Die Gedanken jagten sich in seinem Kopf, und tief in seinem Inneren verspürte er ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Es gab keine Rettung mehr.
Während er um Antworten auf die Fragen rang, die er sich selbst gestellt hatte, fiel ihm plötzlich Amberle ein. Der Gedanke an sie erschreckte ihn beinahe, und mit einem Ruck setzte er sich in seinem Bett auf. In den Verwirrungen der letzten Tage hatte er seine Enkelin vergessen, sie, die die letzte der Erwählten war, die, wie Allanon ihm gesagt hatte, die einzige Hoffnung seines Volkes war. Was, fragte er sich niedergeschlagen und voller Trauer, was war nur aus Amberle geworden?
Er legte sich wieder nieder und starrte durch den Schatten der Vorhänge in die dichter werdende Dunkelheit hinaus. Allanon hatte gesagt, daß Amberle lebte. Und inzwischen tief drinnen im unteren Westland war; doch Eventine glaubte nicht, daß dieser Druide es wirklich wußte. Der Gedanke bedrückte ihn. Wenn sie tot war, dann wollte er es nicht wissen, sagte er sich plötzlich. Es war besser so, es nicht zu wissen. Und doch war es eine Lüge. Er mußte es wissen, unbedingt. Bitterkeit stieg in ihm auf. Alles entglitt ihm — seine Familie, sein Volk, sein Land, alles, was er liebte, alles, was seinem Leben Sinn und Bedeutung gegeben hatte. Er sah eine Ungerechtigkeit darin, die er nicht begreifen konnte. Nein, es war mehr als das. Es war eine Ungerechtigkeit, die er nicht akzeptieren konnte. Er wußte, wenn er es tat, würde es sein Ende sein.
Er schloß die Augen, um das Licht nicht sehen zu müssen. Wo war Amberle? Man mußte es wissen, sagte er sich eigensinnig. Er mußte einen Weg finden, sie zu erreichen, ihr zu helfen, wenn seine Hilfe gebraucht wurde. Er mußte einen Weg finden, sie zu ihm zurückzuholen. Schwer atmend lag er da. Noch immer an Amberle denkend, übermannte ihn der Schlaf.
Es war dunkel, als er wieder erwachte. Im ersten Moment war er nicht sicher, was ihn geweckt hatte. Sein Geist war noch umnebelt vom Schlaf, seine Gedanken wirr. Ein Geräusch, dachte er, ein Schrei. In seinen Kissen richtete er sich auf und blickte angestrengt in die Düsternis des Zimmers. Bleiches weißes Mondlicht sickerte durch den Stoff der zugezogenen Vorhänge und erhellte schwach die Linien der verriegelten zweiflügeligen Fenstertür. Ungewiß wartete er.
Dann hörte er wieder ein Geräusch, ein gedämpftes Stöhnen, das beinahe augenblicklich wieder verstummte. Es war von draußen gekommen, aus dem Korridor, wo Dardan und Rhoe Wache standen. Langsam setzte er sich auf und lauschte angestrengt. Doch er hörte nichts mehr; nur Schweigen umgab ihn, tiefes, lastendes Schweigen. Eventine rutschte zum Rand des Bettes und schob vorsichtig ein Bein auf den Boden hinunter.
Die Tür zu seinem Schlafgemach schwang langsam auf. Das Licht der Öllampen aus dem Korridor fiel ins Zimmer. Der Elfenkönig erstarrte.Durch die Öffnung kam Manx, den massigen Körper in Lauerstellung tief am Boden, den zottigen grauen Kopf zu seinem Herrn emporgestreckt, der auf dem Bettrand saß. Die Augen des Wolfshundes glitzerten wie die einer Katze, und seine dunkle Schnauze war feucht von Blut. Doch seine Beine und Pfoten erschreckten den König am meisten; im dämmrigen Licht schien es, als seien sie die knotigen, klauenbewehrten Glieder eines Dämons geworden.
Aus dem Licht der Öllampen glitt Manx in den Schatten, und Eventine blinzelte erstaunt. In diesem Augenblick war er sicher, daß das, was er gesehen hatte, der letzte Fetzen eines Traums gewesen war, daß er sich nur eingebildet hatte, Manx sei nicht Manx, sondern etwas anderes. Der Wolfshund kam langsam auf ihn zu, und der König erkannte, daß er freundlich mit dem Schwanz wedelte. In tiefer Erleichterung seufzte er auf. Es war wirklich nur Manx, sagte er sich.
»Manx, braver Alter…« sagte er und brach ab, als er die blutigen Spuren sah, die der Hund auf dem Fußboden hinterlassen hatte.
Da sprang Manx schon nach seiner Kehle, schnell und lautlos, mit weitaufgerissenem Maul und krallenden Pfoten. Doch Eventine war schneller. Er riß die Decken vom Bett und warf sie dem Hund über. Nachdem er sie fest um das sich wehrende Tier gewickelt hatte, schleuderte er das Bündel mit Wucht auf das Bett und stürzte zur offenen Tür. Mit einem Satz war er draußen, schlug die Tür hinter sich zu, ließ den Riegel einschnappen.
Schweiß strömte in kleinen Bächen an seinem Körper herab. Was ging hier vor? Wie betäubt taumelte er von der Tür zurück und wäre beinahe über den reglosen Körper Rhoes gefallen, der mit aufgeschlitztem Hals auf dem Boden lag. Eventines Gedanken rasten. Manx? Weshalb hätte Manx…? Aber nein, sagte er sich scharf, das war ja nicht Manx. Dieses Ungeheuer, das sich da in seinem Schlafgemach auf ihn gestürzt hatte, war nicht Manx, sondern nur etwas, das wie Manx aussah. Benommen ging er den Korridor hinunter auf der Suche nach Dardan. Er fand ihn nicht weit vom vorderen Portal mit einer Lanze tief in der Brust steckend.
Da flog krachend die Tür seines Schlafgemachs auf, und das Ungeheuer, das wie Manx aussah und doch ganz sicher nicht Manx war, stürzte heraus. In wilder Hast rannte Eventine zum Portal und rüttelte an den Klinken. Sie rührten sich nicht, die Tür war verschlossen. Der alte König drehte sich um und sah, wie das Untier im Flur, das bluttriefende Maul weit geöffnet, langsam auf ihn zu schlich. Furcht packte da Eventine, so entsetzlich, daß sie ihn einen Moment lang völlig zu überwältigen drohte. Er war in seinem eigenen Haus gefangen. Es war niemand da, der ihm helfen konnte, niemand, zu dem er sich flüchten konnte. Er war allein.
Hechelnd klang der Atem des Ungeheuers durch die Stille des Korridors. Ein Dämon, dachte Eventine voller Grauen, ein Dämon, der sich als Manx eingeschlichen hatte, als der treue alte Manx. Ihm fiel plötzlich ein, wie er nach dem Fall des Sarandanon aufgewacht war und Manx gesehen hatte und plötzlich, völlig irrational, den Eindruck gehabt hatte, daß dies gar nicht Manx gewesen war, sondern etwas anderes. Eine Täuschung, hatte er damals gedacht — aber es war keine gewesen. Manx war tot, seit vielen Tagen wahrscheinlich schon, vielleicht auch schon seit Wochen…
Mit einem Schlag dämmerte ihm die gräßliche Wahrheit. Bei all seinen Besprechungen mit Allanon, als sie gemeinsam ihre geheimen Pläne ausgearbeitet hatten, und als sie die Maßnahmen zum Schutz Amberles erörtert hatten, war Manx zugegen gewesen. Oder der Dämon, der wie Manx aussah. Allanon hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß sich im Lager der Elfen ein Spitzel befand — ein Spitzel, der über all ihre Geheimnisse Bescheid wußte. Der alte König dachte daran, wie oft er diesen zottigen grauen Kopf gestreichelt hatte, und ein eisiger Schauder rann ihm über den Körper.
Der Dämon war keine zwölf Fuß mehr von ihm entfernt. Mit gefletschten Zähnen kroch er in Lauerstellung heran. In diesem Augenblick wußte Eventine, daß er ein toter Mann war. Da geschah etwas in ihm, und es geschah so plötzlich, daß der Elfenkönig alles andere vergaß. Rasender Zorn flammte in ihm auf — Zorn über den Verrat, der an ihm geübt worden war, Zorn über die Opfer dieses Verrats, Zorn über seine eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit in diesem Augenblick, da er in seinem eigenen Haus gefangen war.
Sein Körper straffte sich. Neben dem toten Dardan lag das kurze Schwert, das dem Elfenjäger die liebste Waffe gewesen war. Den Blick unverwandt auf den Dämon gerichtet, stahl sich Eventine vorsichtig von der Tür weg. Wenn es ihm gelang, an das Schwert zu kommen…
Mit einem plötzlichen Satz sprang der Dämon nach dem Kopf des Elfenkönigs. Eventine riß die Arme empor, um sein Gesicht zu schützen, und wurde von der Wucht des Aufpralls niedergerissen. Verzweifelt trat er mit den Füßen um sich. Zähne und Klauen schlugen sich in seine Unterarme, doch seine Füße trafen das Untier mit solcher Wucht im Bauch, daß es über ihn hinweg in die dunkle Türnische flog. Hastig wälzte er sich herum, warf sich über Dardan und packte das Schwert. Dann war er schon wieder auf den Beinen und drehte sich um, dem Angreifer entgegenzutreten.
Ungläubiges Staunen lief über sein Gesicht. Aus der dunklen Ecke hinter der Tür kroch der Dämon, aber nicht mehr Manx, sondern etwas anderes jetzt. Noch während er sich ihm schleichenden Schrittes näherte, war er in der Umbildung begriffen, verwandelte sich von Manx in ein schmales, geschmeidiges schwarzes Wesen mit einem haarlosen, muskulösen Körper. Auf vier Beinen, die in Krallenhänden ausliefen, kam es auf ihn zu, und scharfe Zähne blitzten in seinem Maul. Es tänzelte um den König herum, hob sich hin und wieder auf die Hinterbeine, täuschte mit Scheinangriffen, während es haßerfüllt fauchte. Ein Wandler, dachte Eventine und drängte gewaltsam eine neue Welle der Furcht zurück. Ein Dämon, der alles sein konnte, was er sein wollte.
Der Wandler stürzte sich plötzlich auf ihn. Seine Krallen rissen dem König Schultern und Seiten auf, daß das Blut aus den tiefen Wunden strömte. Mit dem Schwert holte er aus, das Ungeheuer zu treffen, doch es war zu spät. Schon hatte es ihn wieder aus den Klauen gelassen und war fort. Und wieder umkreiste der Dämon den König, lauernd wie eine Katze, die eine in die Enge getriebene Maus beobachtet. Diesmal muß ich flinker sein, sagte sich der alte König. Wieder sprang der Dämon zu, hoch, als wolle er ihm an die Brust, doch im letzten Moment tauchte er unter der Klinge des Schwertes hinweg und schlug seine Krallen in das linke Bein des Königs. Ein scharfer Schmerz, durchfuhr das Bein, und Eventine fiel auf die Knie. Es kostete ihn Mühe, aufrecht zu bleiben. Einen Moment lang verschwamm alles vor seinen Augen, dann wurde sein Blick wieder klar, und er zwang sich aufzustehen.
Vor ihm kauerte der Wandler. Als er sah, daß er auf den Beinen blieb, begann er von neuem, den König zu umkreisen. Blut rann an Eventines Körper herab, und er spürte, wie die Schwäche ihn zu übermannen drohte. Auch diesen Kampf würde er verlieren, dachte er verzweifelt, und er würde mit seinem Tod enden, wenn er nicht eine Möglichkeit fand, das Ungeheuer in die Defensive zu drängen. Schlingernd und schwankend umlauerte ihn der Dämon. Der König versuchte, ihn in eine Ecke zu treiben, doch er wich ihm auf tänzelnden, flinken Füßen aus, viel zu behende für den verletzten alten Mann. Eventine gab die Verfolgung auf; sie brachte ihm nichts ein. Unverwandt beobachtete er den Dämon, während dieser ihn weiterhin fauchend umrundete.
In einem verzweifelten Versuch, doch noch eine Wende herbeizuführen, tat der Elfenkönig so, als stolpere er und geriete ins Schwanken. Schwer ließ er sich auf die Knie fallen. Schmerz durchzuckte ihn, doch die List wirkte. Des Glaubens, der alte Mann sei am Ende, stürzte der Wandler sich auf ihn. Diesmal aber erwartete Eventine ihn. Die Klinge des Schwertes traf das Ungeheuer in die Brust, bohrte sich tief durch Knochen und Muskeln. Kreischend vor Schmerz schlug der Dämon dem Elfenkönig Krallen und Zähne ins Fleisch, dann riß er sich los. Blut strömte aus der Wunde, ein grünlich-roter Schleim, der den geschmeidigen schwarzen Körper befleckte.
Von Angesicht zu Angesicht kauerten sie einander gegenüber, der Elfenkönig und der Dämon, beide verletzt, beide darauf lauernd, daß der andere sich zu einer Unvorsichtigkeit würde hinreißen lassen. Wieder begann der Dämon um den König herumzutänzeln, zog blutige Kreise auf dem Fußboden. Eventine Elessedil nahm seine ganze Kraft zusammen, während er sich drehte, der Bewegung des Dämons zu folgen. Er war von Blut besudelt, und seine Kräfte verließen ihn zusehends. Brennende Schmerzen quälten seinen mißhandelten Körper. Er wußte, daß er nur noch einige wenige Minuten aushalten konnte.
Plötzlich sprang ihm der Wandler an die Kehle. Es geschah so rasch, daß der König nicht die Zeit hatte, mehr zu tun, als mit erhobenen Armen zurückzutaumeln. Der Dämon umkrallte seinen Hals und riß ihn zu Boden, um mit scharfen Zähnen und Krallen über ihn herzufallen. Eventine schrie auf vor Schmerz, als die Klauen ihm die Brust aufrissen und die reißenden Zähne sich in seinen Unterarm bohrten.
In diesem Augenblick flog das Portal des Herrenhauses auf. Die Schlösser sprangen klirrend auf, die beiden Türflügel wurden aus den Angeln gerissen. Laute Rufe schallten durch den dunklen Vorraum, der sich jetzt rasch mit bewaffneten Männern füllte. Umfangen von Schleiern des Schmerzes und der Angst schrie Eventine auf. Es war jemand da! Es war jemand gekommen!
Mit gellendem Geschrei sprang der Wandler vom Körper des gestürzten Königs auf. In diesem Augenblick war sein Hals ungeschützt. Eventine riß das Schwert in die Höhe, die Klinge blitzte auf. Das Kreischen des Dämonen verstummte abrupt, als das Ungeheuer, den Kopf fast vom Körper getrennt, zur Seite stürzte. Augenblicklich umringten es die Retter des Königs, und die Klingen ihrer Schwerter bohrten sich tief in seinen Körper.
Der Wandler erzitterte unter der Wucht der Hiebe und Stiche und starb.
Taumelnd kam Eventine Elessedil auf die Füße, das Schwert noch immer fest in der Hand. Die blauen Augen blickten hart und starr. Ein Gefühl völliger Benommenheit umhüllte ihn, als er sich umdrehte und sah, daß Andor ihm die Arme entgegenstreckte. Dann brach der König der Elfen zusammen, und die Nacht schloß sich über ihm.