33

Wil Ohmsford fand den Wildewald so abschreckend und bedrohlich, wie man ihn ihm geschildert hatte. Obwohl die Sonne hell und leuchtend vom Himmel gestrahlt hatte, als er und Amberle vom Steinkamm aufgebrochen waren, lag der Wildewald in tiefen Schatten und dämmriger Finsternis, von der Welt abgeschlossen durch Bäume und Buschwerk, so verwildert und verwachsen, daß es in dem Wirrwarr keinen Anfang und kein Ende zu geben schien. Knorrig und gebeugt ragten die massigen Stämme in die Höhe, auf denen Moos und Flechten wuchsen, und ihre Zweige krümmten sich wie Spinnenbeine. Sie waren von schmarotzenden Kletterpflanzen überwuchert, und ihre dornigen Blätter schimmerten wie weißglühendes Silber. Dürres Holz und welkes Laub bedeckten den Talboden und verrotteten langsam auf der dunklen Erde, die unangenehm weich und schwammig unter den Füßen gluckste. Der Wildewald, feucht von Moder und Fäulnis, hatte etwas Mißratenes, Entstelltes, Unnatürliches an sich. Es war, als hätte die Natur das Land und das Leben, das auf ihm wuchs, verkrüppelt und gesunden Wachstums unfähig gemacht, so daß es auf immer den modrigen Todesgeruch atmen mußte, der aus seinem eigenen langsamen Sterben aufstieg. Aus vorsichtigen, ängstlichen Augen spähten Wil Ohmsford und Amberle Elessedil in die Finsternis rundum, während sie dem gewundenen Waldpfad folgten. Aus der Ferne hörten sie die nächtlichen Geräusche der Wesen, die im Dickicht des Waldes lauerten und jagten. Der Pfad war wie ein Tunnel, nur hier und dort von schwachen Lichtstrahlen erhellt, die irgendwie durch das Geschlinge der Äste eindrangen. Es gab keine Vögel in diesem Wald; das war Wil sogleich aufgefallen. Vögel würden niemals in solcher Finsternis leben, hatte Wil bei sich gedacht — jedenfalls nicht, solange sie die Möglichkeit hatten, im Sonnenlicht zu fliegen. Auch die anderen kleinen Tiere, die man sonst im Wald anzutreffen pflegte, fehlten; nicht einmal Schmetterlinge gab es. Die Wesen, die hier lebten, beließ man am besten in Finsternis, Nacht und Schatten: Fledermäuse mit ledrigen Flughäuten, Schlangen und gepanzerte Jäger, die sich von Ungeziefer nährten, das in stinkenden Tümpeln und schlammigen Sümpfen hauste; Katzenwesen, die flink und wendig auf lautlosen Pfoten durch das Gewirr der Bäume huschten. Einoder zweimal kreuzten ihre Schatten den Pfad, und Wil und Amberle verhielten ängstlich ihren Schritt. Doch so rasch wie sie aufgetaucht waren, verschwanden die Schatten wieder, verloren sich in der Schwärze des Dickichts, während die beiden Menschenkinder noch eine Weile mißtrauisch auf dem Pfad stehenblieben und dann weitereilten.

Einmal, als sie tief in den Dämmerschatten des Waldes eingedrungen waren, hörten sie das Rumoren irgendeines großen, massigen Wesens, das sich einen Weg zwischen den Bäumen bahnte und sogar die Äste so leicht knickte, als wären es dünne Zweiglein. Laut stieß sein schnaubender Atem durch die Stille. Es schien Wil und Amberle nicht zu sehen, während es da unsichtbar durch die Finsternis stampfte, vielleicht aber waren ihm die beiden kleinen Geschöpfe, die da zitternd auf dem Pfad standen, auch einfach nicht der Beachtung wert. Bedächtig schlurfte es davon. In der nachfolgenden Stille flohen Wil und Amberle wie von Furien gehetzt.

Nur wenigen Reisenden begegneten sie auf dem Weg durch den Wald. Alle außer einem waren sie zu Fuß unterwegs, und dieser eine hockte auf einer Schindermähre, die so mager und ausgezehrt war, daß sie eher wie eine Vision als wie ein Wesen aus Fleisch und Blut wirkte. In Umhänge und Kapuzen vermummt, schlichen die Reisenden einzeln oder in Paaren an ihnen vorüber, ohne ihnen einen Gruß zu bieten. Doch im Schutz ihrer Kapuzen wandten sie die Köpfe und blickten den beiden Eindringlingen mit dem kalten Interesse raubgieriger Katzen nach, als wollten sie den Zweck ihres Hierseins ergründen. Ein eiskaltes Gefühl der Angst beschlich die beiden unter diesen Blicken, und mehrmals sahen sie den vermummten Gestalten lange und furchtsam nach.

Die Sonne wollte schon untergehen, als sie endlich aus der Dunkelheit der Wildnis traten und vor sich den Ort Grimpen Ward erblickten, ein unfreundliches Dorf aus heruntergekommenen alten Holzhäusern, die so eng aneinandergepfercht lagen, daß man kaum das eine vom anderen unterscheiden konnte. Schäbig waren sie, diese Läden und Buden, diese Gasthäuser und Spelunken. Der grelle Anstrich ihrer Wände war verblichen und blätterte an vielen Stellen ab. Viele der ungepflegten Häuser waren vergittert und verriegelt, ihre Fenster durch Läden gesichert. Schlecht beschriftete Schilder mit Warenangeboten hingen an windschiefen Pfosten und über dunklen Türen. Durch Fenster und Türritzen fiel der flackernde Schein von Öllampen in die sich vertiefenden Schatten des Abends.

Die Bürger von Grimpen Ward saßen in den Gasthäusern und Schenken an rohgezimmerten Tischen und Theken vor Wein und Bier. Ihre Stimmen gröhlten laut und grob, ihr Gelächter schrill. Männer und Frauen aller Rassen mit harten Augen und kaltem Blick wanderten durch die Gassen, manche grell und bunt gekleidet, andere in Lumpen, manche frech und dreist im blendenden Schein des Lampenlichts, andere verstohlen im Schatten der Häuser. Viele bewegten sich schwankend und torkelnd, von Alkoholdünsten umgeben. Münzen klingelten und wechselten rasch den Besitzer, oft verstohlen oder unter Gewaltanwendung. Hier kauerte zusammengekrümmt eine schlaffe Gestalt in einer Türnische und schlief ihren Rausch aus, ohne schon zu ahnen, daß man Geld und Kleider gestohlen hatte. Dort lag einer verkrümmt in einem dunklen Durchgang, und das Lebensblut sickerte ihm aus einer Wunde am Hals. Überall strichen räudige, ausgehungerte Hunde umher, huschten gespenstisch durch die Schatten wie Geister.

Diebe und Halsabschneider, Huren und Schwindler, Händler, die Leben und Tod und falsches Vergnügen verkauften, der Abschaum des Gesindels. Wil Ohmsford spürte, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Perks Großvater hatte recht gehabt mit seiner Warnung vor Grimpen Ward.

Amberles Hand fest in der seinen, folgte er den ausgefahrenen Furchen der Straße, die sich zwischen den häßlichen Häusern hindurchzog. Was sollten sie jetzt tun? In den Wald zurück konnten sie nicht — nicht jetzt, da bald die Nacht hereinbrach. Er fürchtete sich davor, in Grimpen Ward zu bleiben, doch hatten sie überhaupt eine Wahl? Sie waren beide müde und hungrig, es war Tage her, seit sie das letzte Mal in einem Bett geschlafen oder eine heiße Mahlzeit zu sich genommen hatten. Die Chancen allerdings, daß sie eines dieser beiden Dinge ausgerechnet hier bekommen würden, schienen gering. Sie hatten beide kein Geld, um etwas zu kaufen, sie hatten nichts, was sie gegen Unterkunft und Verpflegung eintauschen konnten. Sie hatten alles auf ihrer Flucht aus dem Pykon verloren. Wil hatte geglaubt, daß sich im Ort jemand finden würde, bei dem sie sich mit Arbeit eine Mahlzeit und ein Bett verdienen könnten; aber was er hier rundum sah, ließ ihn vermuten, daß es so jemanden in diesem Ort gar nicht gab.

Ein betrunkener Gnom torkelte gegen ihn und hielt sich an seinem Umhang fest. Wil gab ihm einen hastigen Stoß. Der Gnom stolperte und fiel auf die Straße, wo er mit dümmlichem Lachen liegenblieb. Wil starrte einen Moment auf ihn hinunter, dann faßte er Amberle am Arm und eilte weiter.

Es stellten sich auch noch andere Probleme. Wenn sie Grimpen Ward wieder verließen, wie sollten sie sich dann weiter zurechtfinden? Wie sollte es ihnen gelingen, sich in der Wildnis da draußen nicht zu verirren? Sie brauchten unbedingt jemanden, der sie führen konnte, gab es aber in Grimpen Ward jemanden, dem sie vertrauen konnten? Wenn sie gezwungen sein sollten, weiterzumarschieren, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ihr Weg führte, dann würde Wil die Elfensteine gebrauchen müssen — oder zumindest versuchen müssen sie zu gebrauchen —, noch bevor sie die unterirdischen Gänge von Sichermal und das Blutfeuer gefunden hatten, lange bevor sie nach Arborlon zurückkehren konnten. Und wenn er das tat, würde er den Dämonen verraten, wo sie sich befanden. Doch wenn sie keinen Führer hatten, und er die Steine nicht gebrauchte, dann hatten sie überhaupt keine Chance, Sichermahl zu finden — und wenn sie ein ganzes Jahr Zeit gehabt hätten.

Ratlos blieb Wil stehen und starrte unsicher auf die erleuchteten Fenster der Häuser. Es war eine beinahe aussichtslose Situation, und er wußte nicht, wie er sie meistern sollte.

»Wil.« Amberle zupfte ihn ängstlich am Ärmel. »Komm weg hier von dieser Straße.«

Wil warf ihr einen flüchtigen Blick zu und nickte. Immer alles schön der Reihe nach, dachte er. Zunächst mußten sie eine Unterkunft für die Nacht finden; und sie brauchten etwas zu essen. Alles übrige konnten sie später bedenken.

Hand in Hand mit Amberle lief er weiter und musterte die Gasthäuser zu beiden Seiten der Straße. Nach etwa fünfzig Schritten gewahrte er eine kleine zweistöckige Herberge, die, etwas zurückgesetzt von anderen Gebäuden, im Schatten einiger Fichten stand. In den Fenstern des Erdgeschosses flackerte Licht, während das obere Geschoß im Dunkeln lag. Hier waren die Stimmen nicht so trunken laut, das Gelächter nicht so schrill, die Zahl der Gäste war klein.

Wil eilte durch den Hof vor dem Gasthaus und spähte durch das verschmierte Glas eines der Fenster in den Gastraum. Alles schien ruhig. Er blickte auf. Auf dem Schild am Torpfosten stand, daß dies das Gasthaus zum Mond war. Er zögerte noch einen Augenblick, dann faßte er seinen Entschluß. Aufmunternd nickte er Amberle zu, deren Miene tiefe Zweifel verriet, und führte sie durch das Tor. Die Tür des Gasthauses stand offen, um die milde Luft der Sommernacht in den Schankraum einzulassen.

»Zieh dir die Kapuze tief ins Gesicht«, flüsterte Wil plötzlich, und als sie ihn verständnislos anstarrte, tat er es für sie. Mit einem Lächeln, das von seiner eigenen Unsicherheit nichts verriet, nahm er dann ihre Hand und trat in das Gasthaus.

Der Gastraum war nicht sonderlich groß, und die Luft war schwer vomRauch der Öllampen und Tabakspfeifen. Vorn war eine kurze Theke, an der sich eine Gruppe grober Männer und Frauen drängte. Im Hintergrund des Raums standen mehrere Tische, nicht alle besetzt. Türen führten aus diesem Raum zu anderen Teilen des Hauses, und eine Treppe schwang sich auf der linken Seite nach oben und mündete in Finsternis. Die Bodendielen waren rissig und abgetreten, und in den Ecken hingen Spinnweben von der Decke. Neben der Haupttür nagte ein alter Jagdhund zufrieden an einem Knochen.

Wil führte Amberle zu einem kleinen Tisch, auf dem eine dicke Kerze stand, und sie setzten sich. Ein paar Köpfe drehten sich, als sie vorübergingen, doch die Neugierigen verloren rasch das Interesse.

»Was tun wir hier?« fragte Amberle bang.

Wil schüttelte den Kopf. »Nur Geduld.«

Wenig später näherte sich eine wenig freundlich aussehende Frau ungewissen Alters schlürfend ihrem Tisch. Über einem Arm trug sie ein schmuddeliges Geschirrtuch. Als sie näher kam, bemerkte Wil, daß sie stark hinkte. Er glaubte die Ursache dieses Hinkens zu erkennen, und der Keim einer Idee regte sich in seinem Hirn.

»Etwas zu trinken?« fragte die Frau.

Wil lächelte freundlich. »Zwei Gläser Bier.«

Die Frau humpelte ohne Kommentar davon. Wil blickte ihr nach.

»Ich mag gar kein Bier«, protestierte Amberle. »Was soll das alles?«

»Ich gebe mich umgänglich. Ist dir aufgefallen, daß diese Frau hinkt?«

Amberle starrte ihn entgeistert an.

»Was soll das denn nun wieder heißen?«

Wil lächelte. »Du wirst schon sehen.«

Eine Weile saßen sie schweigend am Tisch, dann brachte die Frau die Krüge mit dem Bier. Sie stellte sie auf den Tisch und trat einen Schritt zurück, wobei sie sich mit ihrer fleischigen Hand über das zerzauste, von Grau gesträhnte Haar fuhr.

»Ist das alles?«

»Habt Ihr vielleicht etwas zu essen übrig?« erkundigte sich Wil und trank einen Schluck von seinem Bier.

Amberle rührte ihr Glas gar nicht an.

»Eintopf, Brot, Käse, vielleicht auch Kuchen — er ist ganz frisch aus dem Ofen.«

»Hm. Ein heißer Tag zum Backen.«

»Das kann man sagen. Und vergebene Liebesmüh ist es dazu. Keiner will was davon.«

Wil schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.

»Das ist aber schade.«

»Die meisten trinken lieber«, meinte die beleibte Frau mit einem spöttischen Lachen. »Würd’ ich wahrscheinlich auch lieber tun, wenn ich die Zeit hätte.«

Wil grinste. »Ja, kann schon sein. Führt Ihr das Gasthaus ganz allein?«

»Mit meinen Söhnen zusammen.« Sie wurde etwas freundlicher und verschränkte die Arme auf ihrer Brust. »Der Mann ist mir auf und davon. Die Jungs helfen mir, wenn sie nicht grade trinken oder spielen — was selten ist. Ich würd’s allein leicht schaffen, wenn das verflixte Bein nicht wär. Die Schmerzen, die hören überhaupt nicht auf.«

»Habt Ihres schon einmal mit Wärme versucht ?«

»Gewiß. Ein bißchen hilft das schon.«

» Kräutersalben ? «

Sie spie aus. »Taugenichts.«

»Ja, das ist ein schwieriges Problem. Wie lange geht das denn schon?«

»Ach, Jahre. Ich zähl’ schon gar nicht mehr. Vom Grübeln wird’s auch nicht besser.«

»Hm.« Wil machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das Essen klingt verlockend. Ich denke, wir werden den Eintopf mal versuchen.«

Die Wirtin des Gasthauses zum Mond nickte und humpelte wieder davon. Hastig beugte Amberle sich vor.

»Wie willst du das alles bezahlen? Wir haben doch gar kein Geld.«

»Das weiß ich«, entgegnete Wil. »Aber ich glaube, wir werden gar keins brauchen.«

Amberle machte ein Gesicht, als wolle sie ihm eine Ohrfeige geben.

»Du hast mir versprochen, daß du das nicht wieder tust. Du hast versprochen, daß du erst mit mir redest, wenn du was vor hast — weißt du noch? Das letzte Mal, als du so geheimnisvoll getan hast, bei den Fahrensleuten, hätte es uns beinahe das Leben gekostet. Und diese Leute hier sehen nicht ungefährlicher aus als die Fahrensleute.«

»Ich weiß, ich weiß, aber es ist mir eben erst eingefallen. Wir müssen was zu essen haben, und ein Bett brauchen wir auch, und das hier scheint mir unsere beste Chance zu sein.«

Amberles Gesicht im Schatten der Kapuze verzog sich ängstlich.

»Mir ist dieses Gasthaus nicht geheuer, Wil Ohmsford — das Gasthaus nicht, das Dorf nicht, die Leute nicht. Wir könnten doch auch ohne Nachtlager und ohne Essen auskommen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ja, das könnten wir, aber werden’s nicht tun. Pscht — sie kommt wieder.«

Die Frau war mit ihrem Nachtmahl zurückgekommen. Sie stellte die dampfenden Teller vor ihnen auf den Tisch und wollte gerade wieder gehen, als Wil sie ansprach.

»Bleibt einen Augenblick«, bat er. Die Wirtin wandte sich um. »Ich hab’ mir das mit Eurem Bein durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kann ich Euch helfen.«

Argwöhnisch sah sie ihn an.

»Was meint Ihr damit ?«

Er zuckte die Schultern.

»Nun, ich glaube, ich kann den Schmerz lindern.«

Der Ausdruck des Argwohns vertiefte sich.

»Und warum wollt Ihr das für mich tun ?«

Wil lächelte. »Geschäft. Geld.«

»Ich hab’ nicht viel Geld.«

»Wie wär’s dann mit einem Tausch? Gegen das Nachtmahl, das Bier und ein Nachtlager nehme ich Euch den Schmerz. Einverstanden?«

»Einverstanden.« Schwerfällig ließ sie sich auf den Stuhl neben ihm fallen. »Aber wie schafft Ihr das überhaupt ?«

»Bringt mir eine Tasse heißen Tee heraus und ein sauberes Tuch, dann werden wir schon sehen.«

Augenblicklich sprang die Frau auf und schlürfte humpelnd in die Küche. Mit einem schwachen Lächeln sah Wil ihr nach. Amberle schüttelte den Kopf.

»Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.«

»Ja, das hoffe ich auch. Jetzt iß schon, für den Fall, daß ich es doch nicht weiß.«

Als die Frau mit dem Tee und dem Tuch zurückkam, hatten sie ihr Nachtmahl fast verzehrt. Wil blickte an ihr vorbei zu den Gästen an der Theke. Schon drehten sich einige Köpfe nach ihnen um. Keinesfalls, dachte er, wollte er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er blickte zu der Frau auf und lächelte.

»Das sollten wir aber nicht hier in aller Öffentlichkeit bewerkstelligen . Können wir uns irgendwo zurückziehen? «

Mit einem gleichgültigen Achselzucken führte die Frau Wil und Amberle durch eine der Türen in einen kleinen Raum, in dem nur ein Tisch mit sechs Stühlen stand. Sie entzündete die Kerze auf dem Tisch und schloß die Tür. Die drei setzten sich.

»Was geschieht jetzt?« fragte die Frau.

Wil nahm aus einem Beutel, der an seinem Gürtel hing, ein dürres Blatt und zerkrümelte es zu Staub, den er in den Tee fallen ließ.

Nachdem er gründlich umgerührt hatte, reichte er die Tasse der Frau.

»Trinkt das. Es wird Euch ein wenig schläfrig machen, aber nicht mehr.«

Die Frau blickte einen Moment lang in das dunkle Gebräu, dann trank sie es. Als die Tasse leer war, nahm Wil sie ihr ab und ließ ein anderes Blatt hineinfallen und goß etwas Bier aus seinem Glas darüber. Dieses Gemisch rührte er gemächlich um, bis das Blatt sich völlig aufgelöst hatte. Amberle, die ihm am Tisch gegenübersaß, schüttelte den Kopf.

»Legt Euer Bein da auf den Hocker«, befahl Wil, und die Frau gehorchte. »Jetzt zieht den Rock hoch.«

Die Wirtin warf ihm einen fragenden Blick zu, als hätte sie Zweifel an seinen Absichten, dann lupfte sie ihren Rock bis zum Oberschenkel. Das Bein war voller Knoten und mit dunklen Flecken bedeckt. Wil tauchte das Tuch in die Flüssigkeit in der Tasse und rieb das Bein damit ab.

»Das prickelt ein bißchen.« Die Frau kicherte.

Wil lächelte ermutigend. Als die Tasse wiederum leer war, griff er nochmals in den Beutel und zog eine lange silberne Nadel mit abgerundetem Kopf hervor. Erschreckt beugte die Frau sich vor.

»Ihr werdet mir das Ding doch nicht ins Fleisch stechen ?«

Wil nickte ungerührt.

»Doch, Ihr werdet gar nichts spüren, es tut nicht weh.« Langsam schob er die Nadel durch die Flamme der Kerze, die in der Mitte ihres Tisches brannte. »Haltet Euch jetzt ganz still«, befahl er.

Sehr behutsam senkte er die Nadel oberhalb des Kniegelenkes in das Bein der Frau, bis nur noch der abgerundete Kopf sichtbar war. Er ließ sie eine Zeitlang stecken, dann zog er sie wieder heraus. Die Frau verzog das Gesicht, schloß die Augen und öffnete sie dann wieder. Sie lehnte sich zurück.

»Fertig«, verkündete er und hoffte, daß die Behandlung gewirkt hatte. »Steht auf und geht ein bißchen herum.«

Die Frau starrte ihn verdutzt an, dann schob sie entrüstet ihren Rock runter und stand auf. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte vom Tisch weg und verlagerte probeweise ihr Gewicht auf das kranke Bein. Dann wirbelte sie plötzlich mit einem Ruck herum, und ein breites Grinsen ging über ihr grobes Gesicht.

»Er ist weg! Der Schmerz ist weg! Das erste Mal seit Monaten!« Sie lachte aufgeregt. »Ich kann es nicht glauben. Wie habt Ihr das nur gemacht ? «

»Zauberei.« Wil grinste zufrieden und wünschte gleich darauf, er hätte das nicht gesagt. Amberle schoß einen ärgerlichen Blick auf ihn ab. »Zauberei, wie?« Die Frau machte noch ein paar Schritte und schüttelte den Kopf. »Nun, wenn Ihr es sagt. Es fühlt sich wahrlich so an. Überhaupt keine Schmerzen.«

»Nun, Zauberei war es natürlich nicht…« begann Wil, doch die Frau war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich fühle mich so glänzend, daß ich jetzt alle Gäste auf ein Glas einlade.« Sie öffnete die Tür und ging hinaus. »Die Gesichter möcht’ ich sehen, wenn ich ihnen das erzähle.«

»Nein, wartet —!« rief Wil ihr nach, doch sie hatte die Tür schon hinter sich zugezogen. »Verdammt«, murmelte er und wünschte allzu spät, er hätte ihr das Versprechen abgenommen, nichts über die Behandlung zu erzählen.

Amberle faltete die Hände und sah ihn fragend an.

»Wie hast du es wirklich gemacht? «

Er zuckte die Schultern.

»Ich bin ein Heilkundiger, das weißt du doch. Die Stors haben mich einiges gelehrt.« Mit Verschwörermiene neigte er sich zu ihr hinüber. »Der Haken ist nur, daß die Behandlung nicht von Dauer ist.«

»Nicht von Dauer!« Amberle war entsetzt.

Wil drückte einen Finger auf die Lippen.

»Sie wirkt nur vorübergehend. Morgen früh sind die Schmerzen wieder da. Dann müssen wir also weg sein.«

»Wil, du hast diese Frau betrogen«, rief Amberle empört. »Du hast behauptet, du würdest sie heilen.«

»Nein, so habe ich mich nicht ausgedrückt. Ich habe gesagt, ich könne ihr den Schmerz nehmen. Ich habe nichts darüber gesagt, wie lange. Eine schmerzfreie Nacht für sie und ein Bett und ein Nachtmahl für uns. Ein reelles Geschäft.«

Amberle sah ihn vorwurfsvoll an und erwiderte nichts.

Wil seufzte. »Wenn es dir ein Trost ist, der Schmerz wird nicht mehr so schlimm werden, wie er vorher war. Aber das, woran sie leidet, kann kein Heilkundiger kurieren; es hat mit dem Leben zu tun, das sie führt in ihrem Alter, mit ihrem Gewicht — mit einer Menge anderer Dinge, auf die ich keinen Einfluß habe. Ich habe für sie getan, was ich konnte. Würdest du also bitte vernünftig sein!«

»Kannst du ihr etwas geben, was sie einnehmen kann, wenn der Schmerz wiederkommt?«

Wil beugte sich über den Tisch und nahm ihre Hände.

»Du bist wirklich eine liebevolle kleine Person, weißt du das? Gegen den Schmerz kann ich ihr etwas geben. Aber das lassen wir einfach zurück, wenn wir morgen früh verschwinden.«

Plötzliches Getöse im anderen Raum veranlaßte ihn aufzuspringen. Er eilte zur Tür und zog sie einen Spalt auf. Vorher war das Gasthaus beinahe leer gewesen. Jetzt drängten sich die Leute von der Straße herein, angelockt von dem Versprechen auf Freibier und den marktschreierischen Reden der Wirtin, die triumphierend ihre neugefundene Kur pries.

»Zeit, daß wir verschwinden«, murmelte Wil und führte Amberle eilig aus dem Zimmer.

Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, als die Frau schrill hinter ihnen herrief und ihnen nacheilte, um sie aufzuhalten. Die Köpfe flogen herum, einige der Leute wiesen mit den Fingern auf Wil. Dem war das gar nicht angenehm.

»Ein Glas Bier für euch beide?« fragte die Frau.

Sie schlug Wil mit der Hand auf die Schulter, daß er beinahe in die Knie gegangen wäre. Er brachte ein schwaches Lächeln zustande.

»Ich glaube, wir schlafen jetzt besser. Wir haben eine lange Reise hinter uns und sind wirklich müde.«

Die Frau lachte geringschätzig.

»Bleibt auf und feiert mit mir. Ihr braucht nicht zu bezahlen. Ihr könnt trinken, soviel Ihr wollt.«

Wil schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns schlafen legen.«

»Schlafen? Bei dem Krach?« Die Frau zuckte die Schultern. »Nehmt das Zimmer gleich oben an der Treppe rechts. Liegt nach hinten raus. Vielleicht ist’s da ein bißchen ruhiger für Euch.« Sie hielt einen Moment inne. »Jetzt sind wir quitt, oder? Ich schulde Euch nichts mehr?«

»Nein, nichts mehr«, versicherte ihr Wil, der es eilig hatte, wegzukommen.

Die Wirtin grinste breit.

»Na, Ihr habt Euch billig verkauft! Für das, was Ihr getan habt, hätte ich Euch zehnmal soviel gegeben, wie Ihr verlangt habt. Ha, schon zwei Stunden ohne Schmerz sind das Bier und das Nachtmahl und das Bett wert! Wenn man’s hier im Land zu was bringen will, muß man schon schlau sein. Nehmt Euch den Rat zu Herzen, kleiner Elf. Er kostet nichts.«

Sie lachte dröhnend und kehrte an die Theke zurück. Schluß jetzt mit dem Freibier, bei so viel Gästen ließ sich eine Menge Geld machen.

Wil nahm Amberle beim Arm und führte sie die Treppe hinauf. Die Blicke der Gäste folgten ihnen.

»Und du dachtest, sie könnte sich von uns übers Ohr gehauen fühlen«, murmelte Wil, als sie den oberen Flur erreichten.

Amberle lächelte und sagte nichts.

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