Bis hinauf zum Turm klang das Lärmen des Heerlagers. Laut hallten die Hämmer von Waffenschmieden. Pferde wieherten unruhig. An einigen der Feuer wurde gesungen. Jeder bekämpfte die Angst auf seine Weise. Der morgige Tag würde über das Weiterbestehen Albenmarks entscheiden.
Farodin lehnte an der Brüstung des Balkons und dachte an den Tag, der all dies herbeigeführt hatte. Wäre Guillaume still, vielleicht durch ein Kissen erstickt, in seinem kleinen Haus nahe dem Turmtempel in Aniscans gestorben, wäre dann all dies nicht geschehen? Hätte er es tun können? War es seine Schwäche gewesen, die dazu geführt hatte, dass der Feind vor dem Herzland Albenmarks stand? Oder hatte alles bereits mit Gelvuuns Tod begonnen?
Er atmete tief ein. Der kühlen Nachtluft haftete ein Makel an. Ein Hauch eines allzu vertrauten Geruchs. Der Gestank von Schwefel. Bildete er sich das nur ein? Wurde er langsam verrückt? Oder hatte er in seinem wichtigsten Kampf nicht gesiegt? Lauerte der Devanthar etwa wie damals, nachdem sie ihn in der Eishöhle tot wähnten, im Verborgenen und zog weiterhin seine Fäden?
Er bemühte sich, die verzweifelten Gedanken zu verdrängen und einfach nur das Bild des Heerlagers in sich aufzunehmen. So weit das Auge reichte, waren Zelte aufgeschlagen, und Feuer glommen bis hinauf zu den fernen Hügeln. Nie hatten alle Völker Albenmarks zusammengestanden. Auch das war aus Guillaumes Tod erwachsen. Alte Fehden waren vergessen … Farodin dachte an Orgrim. Nachdem die Seele des Trollkönigs Boldor hundert Jahre nach der Seeschlacht immer noch nicht wiedergeboren war, hatte Skanga Herzog Orgrim zum Herrscher seines Volkes ausgerufen. Die Trolle, die so viel Unglück über das Elfenvolk gebracht hatten, würden morgen bei Welruun nahe an der Shalyn Falah stehen, um Seite an Seite mit den Elfen zu kämpfen. Ausgerechnet an jenem Ort, an dem sie vor Jahrhunderten eine erbitterte Schlacht untereinander ausgetragen hatten! An dem Ort, an dem Aileen gestorben war! Alles hatte sich in dieser Welt verkehrt. Und alles schien möglich. Wenn er den morgigen Tag überlebte, dann würden sie zu Noroelle gelangen. Farodins Hand strich über den kleinen Lederbeutel, in dem er Aileens Ring und Noroelles Smaragd bewahrte. Er spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Das Ende der Suche war so nahe! Doch wie mochten die Jahrhunderte der Einsamkeit Noroelle verändert haben? Was war von der Elfe geblieben, die er einst so geliebt hatte? Und was war von dem Farodin geblieben, den sie einst gekannt hatte?
Ein Geräusch ließ den Elfen herumfahren. Die Tür zu den Gemächern der Königin öffnete sich, und Emerelle trat zu ihm auf den Balkon. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Nie zuvor hatte Farodin sie in diesem Gewand gesehen. Es war schlicht und ohne Schmuck. Ein hoher Kragen umschloss ihren Hals. Das Kleid war tailliert, mit weit ausgestellten Ärmeln und reichte ihr bis zu den Knöcheln.
»Ich bin froh, dich noch einmal hier treffen zu können«, empfing sie ihn mit warmer Stimme. »So oft haben wir hier oben über den Tod gesprochen.« Die Königin trat neben ihn an das steinerne Geländer und blickte hinab auf die Ebene.
»Für dich ist viel Zeit vergangen, seit wir zum letzten Mal hier oben standen. Damals habe ich nicht daran gezweifelt, dass alles, was du befahlst, zum Besten von Albenmark sei«, sagte Farodin nachdenklich.
Im Heerlager erklang das ausgelassene Gelächter von Kentauren. »Und was denkst du heute?«, fragte Emerelle.
»Ich bin froh, dass ich Guillaume nicht getötet habe. Er war ein guter Mann. Hätte er länger gelebt … Vielleicht wäre all dies nicht geschehen.« Er trat ein Stück zurück vom Geländer und betrachtete die Königin. Sie sah so jugendlich aus. So schön und unschuldig. »Was habe ich an mir, dass du mich unter allen Albenkindern als deinen Henker auserwählt hast?«
»Wenn ein einziger Dolchstoß hunderte andere Tode verhindern kann, ist es dann verwerflich, ihn zu führen?«
»Nein«, erwiderte Farodin entschieden.
»Und weil du so denkst, habe ich dich meinen Dolch sein lassen. Es gab Zeiten, da hätte ein einzelner Dolchstoß den Auszug der Zwerge verhindert oder den Fortgang der Elfen von Valemas. Ich hatte Angst, dass unsere Völker in alle Winde zerstreut würden oder schlimmer noch, dass wir lange, blutige Fehden miteinander ausfechten würden. Albenmark drohte zu vergehen. Unsere Morde haben es bewahrt. Und wenn wir morgen bestehen, dann wird Albenmark so stark wie nie zuvor sein, und ein neues Zeitalter wird beginnen. Was bedeutet es, einen Körper zu opfern, wenn man weiß, dass die Seele wiedergeboren wird? Es ist nur Fleisch, das vergeht. Und der Seele wird ein neuer Anfang gewährt, der sie diesmal vielleicht nicht auf dunkle Pfade führt.«
»Hast du niemals gezweifelt, ob du das Richtige tust?«
Emerelle drehte sich um und lehnte sich gegen die Brüstung. »Was ist das Maß für Richtig und Falsch, Farodin? Ich habe dir und Nuramon befohlen, Guillaume zu töten. Stattdessen habt ihr beide versucht, ihn zu retten. Und dennoch wurde Guillaume ermordet. Das Schicksal hatte den Tag seines Todes längst festgesetzt. Und obwohl nicht ihr die Bluttat begangen hattet, wurde sie dem Volk der Elfen zugeschrieben. Es war Noroelles richtige Entscheidung als Mutter, mir das Kind nicht zu überlassen. Es war eure richtige Entscheidung, Noroelles Sohn nicht zu töten. Und doch stehen wir hier und kämpfen um Albenmark. Ich habe mich immer bemüht, im Sinne aller Albenkinder zu handeln. Vielleicht hilft es dir, wenn du weißt, dass ich nie leichten Herzens über einen Tod entschieden habe.«
Farodin empfand die Antwort als unbefriedigend. Früher war es ihm leichter gefallen, ihre Worte anzunehmen, ohne sie zu hinterfragen.
Lange standen sie schweigend beieinander und lauschten dem Lärmen des Heerlagers.
»Riechst du den Schwefel?«, fragte er.
Sie nickte. »Man braucht sehr feine Sinne, um den Geruch selbst hier noch wahrzunehmen. Er kommt von jenseits der Shalyn Falah.«
Farodin seufzte. Sie hatten vor dem letzten Kriegsrat von ihrem Kampf mit dem Devanthar berichtet. Emerelle hatte dazu geschwiegen. War es, weil sie nicht vor allen Heerführern die Wahrheit offenbaren wollte? »Er hat uns also wieder getäuscht«, sagte Farodin verzweifelt. »So wie damals in der Eishöhle, als wir dachten, er wäre besiegt. Ist er es, der die Heere der Ordensritter befehligt und den Riss zwischen den Welten erschaffen hat?«
Die Königin strich sich nachdenklich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Schließlich sah sie auf und suchte seinen Blick. »Der Devanthar ist für immer vergangen. Ihr habt ihn auf Albenweise getötet. Einst bannten unsere Ahnen die Devanthar in ihre magischen Waffen. Und dann vernichteten sie diese Waffen. Er wird nicht wiederkehren … Und doch ist er auf gewisse Weise unsterblich. Seine Saat in der Anderen Welt hat reiche Früchte getragen. Es waren Priester mit seinem Blut in den Adern, die während der zweiten Belagerung von Firnstayn den Riss erschufen. Es geschah aus Versehen. Sie wollten zur selben Stunde mit einem Ritual den Albenstern auf dem Hartungskliff und den Stern am Strand verschließen. Doch statt unsere Welten voneinander zu trennen, haben sie die Grenzen niedergerissen. Über die Jahrhunderte ist das Blut des Devanthars ausgedünnt. Heute gibt es keine Priester mehr, die durch ihre Zauber Albenkinder zu morden vermögen. Ereignisse wie während der Seeschlacht, als ich fast getötet worden wäre, haben sich seither nicht mehr zugetragen. Unsere Feinde brauchen allerdings auch keine Magie mehr. Sie gewinnen allein durch die Kraft ihrer Waffen. Und ganz gleich, wie hoch ihre Verluste in den Schlachten gegen uns sind, sie können jeden Toten ersetzen, während die Völker der Albenkinder langsam ausbluten. Deshalb müssen wir morgen siegen! Wir müssen unsere Welt nur noch einen einzigen Tag vor ihnen bewahren!«
Kurz kam Farodin der Gedanke, ob sie ihn vielleicht belogen hatte, um ihm nicht seinen Kampfesmut zu nehmen. Sie sah so unschuldig aus. So rein.
Doch war es in diesem Augenblick nicht völlig gleichgültig, ob sie ihn anlog? Die Schlacht um Albenmark musste geschlagen werden, und eines glaubte er ihr: Sie würde alles tun, um die Völker der Albenkinder zu retten.
Farodin verneigte sich knapp. »Ich werde noch in dieser Nacht zur Shalyn Falah reiten.«
Die Königin trat vor ihn und küsste ihn sanft auf die Wangen. »Gib auf dich Acht, mein Freund. Es gibt eine Emerelle, die nur wir beide kennen. Du hast ihr Geheimnis über die Jahrhunderte bewahrt. Dafür möchte ich dir danken.«
Farodin war überrascht. »Ich dachte, Ollowain hätte meinen Platz eingenommen.«
Die Königin sah ihn eindringlich an. »Nein. Er mag der beste Fechter von Albenmark sein. Doch um der Dolch der Königin zu sein, dazu fehlt ihm das Talent. Er hat in Aniscans versagt. Danach warst allein du es wieder, der meinen Willen vollstreckte. Du warst mein Gesandter unter den Trollen, und du hättest sie mit ihrem Blut zahlen lassen, hätten sie uns in der Seeschlacht verraten. Und zuletzt war deine Klinge es, die den Devanthar tötete, den mächtigsten Feind, den Albenmark je hatte.«