Die Gefährten zogen sich hoch in die Berge nördlich von Aniscans zurück. Sie bestatteten Nomja unter einer Silbertanne am Rand eines Gletschersees. Die Waffen der Elfe hängten sie in das Geäst des Baumes.
Unter den Elfen und Menschen herrschte eine düstere Stimmung. Trotz der heilenden Kräfte Nuramons blieben sie fast zwei Wochen, bis sie sich von ihren Verletzungen erholt hatten. Die Wunden an ihren Seelen jedoch wollten so bald nicht heilen. Niemand hätte geahnt, dass der schweigsame und stets mürrische Gelvuun eine solche Lücke hinterlassen würde. Ganz zu schweigen von Nomja, die alle gemocht hatten.
Als es keine Ausrede mehr gab, ihren Aufbruch noch weiter hinauszuzögern, kamen sie überein, nach Firnstayn zu reisen, um vom Albenstern im Steinkreis hoch über dem Fjord den Weg nach Albenmark zu nehmen.
Ihre Reise dauerte fast drei Monde. Sie mieden Dörfer und Städte so gut es ging, um kein Aufsehen zu erregen. Zweimal sahen sie von fern Reitertrupps unter dem Banner König Cabezans. Von Kaufleuten, mit deren Wagenzug sie einen Tag lang ritten, erfuhren sie von den »schrecklichen Ereignissen in Aniscans«. Die Stadt, so hieß es, sei von Dämonenkindern überfallen worden, die den gutmütigen Heiler Guillaume ermordet und den Tempel des Tjured geschändet hätten.
Keiner von ihnen hielt dagegen, um der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, auch später nicht, als sie in einem wuchtigen Kornschiff über die Neri-See nach Gonthabu, der Königsstadt des Fjordlands übersetzten. Während der Woche auf See bekamen sie noch ausgeschmücktere Fassungen der Geschichte zu hören.
Es war Hochsommer, als sie schließlich Firnstayn erreichten. Alfadas war überrascht, wie klein die Siedlung am Ufer des Fjords war. Nach den Erzählungen seines Vaters hatte er sie sich weit bedeutender vorgestellt. Neun Langhäuser und drei Dutzend kleiner Hütten wurden von einer Holzpalisade auf einem Erdwall umfasst.
Am Tor der Siedlung erhob sich ein massiger, hölzerner Wachturm. Kaum hatten sie den Hügelkamm über dem Dorf erreicht, da wurde ein Signalhorn geblasen. Und als sie sich dem Tor näherten, bemannte ein Trupp Bogenschützen die Palisade.
»Heho, kennt man die Gesetze der Gastfreundschaft nicht mehr in Firnstayn?«, rief Mandred wütend. »Vor eurem Tor steht der Jarl Mandred Torgridson und verlangt, eingelassen zu werden.«
»Mann, der du dich Mandred nennst«, entgegnete ein stattlicher junger Krieger, »die Sippe, deren Namen du dich bemächtigt hast, ist verloschen. Ich bin der gewählte Jarl von Firnstayn, und ich sage dir, du und dein Gefolge seid hier nicht willkommen.«
Alfadas blickte zu seinem Vater und erwartete jeden Augenblick einen seiner gefürchteten Temperamentsausbrüche. Doch Mandred blieb überraschenderweise ruhig. »Gut gesprochen, Jarl! An deiner Stelle hätte ich nicht anders gehandelt.« Sein Vater nahm einen silbernen Armreif ab, um den er einen Kaufmann beim Würfelspiel betrogen hatte. »Ich biete das hier für ein Fass Met und lade dich ein, mit mir und meinem Sohn zu trinken.«
Der junge Jarl musterte Alfadas. Dann schüttelte er den Kopf. »Du übertreibst, Lügenmeister! Wie kann ein Mann einen Sohn haben, der fast im selben Alter ist wie er?«
»Wenn du die Geschichte hören willst, dann trink mit mir auf meine Kosten«, rief Mandred lachend.
»Mach endlich das Tor auf, Kalf!« Ein alter Mann drängte sich an die Brustwehr der Palisade und winkte ihnen zu. »Glaubst du uns jetzt? Sieh nur, er hat auch die Elfen wieder mitgebracht!« Der Alte schlug rasch ein Schutzzeichen. »Sei kein Narr, Kalf, und verweigere Elfen nicht den Zugang zum Dorf. Du kennst doch die alten Geschichten.«
»Ich grüße dich, Erek Ragnarson«, rief Mandred. »Schön zu sehen, dass du und dein leckes Boot noch nicht auf dem Grund des Fjords liegen. Wirst du mit uns hinausfahren? Ich will meinem Sohn das Fischen beibringen, bevor ich weiterziehe.«
»Los, macht das Tor auf«, befahl Erek nun entschieden. Und niemand widersetzte sich ihm.
Drei Wochen blieben Mandred und die Elfen. Es waren Wochen, in denen Alfadas die Welt der Menschen mit neuen Augen sehen lernte. Er genoss den ruppigen Respekt, mit dem er behandelt wurde, und die Art, wie ihm die jungen Mädchen nachblickten. Das Leben war einfach. Man musste vor allem Acht geben, auf den schlammigen Wegen des Dorfes nicht von übellaunigen Schweinen umgerannt zu werden. Es gab keinen Luxus. Die grobe Wolle, die die Frauen sponnen, kratzte auf der Haut. Es zog in den Häusern, und Rauch brannte einem in den Augen, wenn man bis tief in die Nacht in den Langhäusern saß und trank und erzählte. Ungläubig hörte Alfadas, wie Kalf davon berichtete, dass man im vergangenen Winter Trollspäher in den Wäldern auf dem anderen Ufer des Fjords beobachtet hatte. Deshalb war auch die Palisade rings um das Dorf verstärkt worden. Selbst die Elfen nahmen diesen Bericht ernst.
Nachdem sie zwanzig Tage in Firnstayn geblieben waren, drängten vor allem Ollowain und Farodin darauf, endlich zum Albenstern zu reiten.
Kalf war der Einzige, der erleichtert war, als die kleine Truppe am Morgen des einundzwanzigsten Tages von Erek Ragnarson zum anderen Ufer des Fjords übergesetzt wurde. Alfadas aber war es schwer ums Herz, denn am Ufer stand Asla, die Enkeltochter Ereks. Mit ihrer stillen Art hatte sie ihn regelrecht bezaubert. Jede der Elfendamen an Emerelles Hof hätte Asla an Schönheit übertroffen, doch in Asla brannte eine Leidenschaft, wie sie Elfen, deren Leben nach Jahrhunderten zählte, kaum kannten. Sie war es nicht gewohnt, ihre Gefühle hinter schönen Worten zu verbergen. Und so standen ihr Tränen in den Augen, als Alfadas übersetzte.
Immer wieder blickte der Krieger zurück, während sie hinauf zum Steinkreis ritten. Als sie schon kaum mehr zu sehen waren, stand das Mädchen in dem blauen Kleid und mit dem wehenden blonden Haar noch immer am Ufer.
»Du solltest Kalf als Jarl anerkennen«, sagte Mandred plötzlich. »Er ist ein guter Mann.«
Alfadas war überrascht von den Worten seines Vaters. »Du bist der Jarl von Firnstayn«, entgegnete Alfadas aufgebracht.
Mandred sah ihn eindringlich an. »Das war vor mehr als dreißig Jahren. Ich gehöre nicht mehr in diese Welt. Es wäre nicht gerecht gegen Kalf und all die anderen, die nach mir geboren wurden, wenn ich nach Firnstayn zurückkehrte. Auch nicht gegen dich, mein Sohn. Deine Zeit ist gekommen.«
Alfadas wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. Sie waren ein wenig hinter den Elfen zurückgeblieben, sodass die anderen ihr Gespräch nicht mit anhören konnten.
»Jedes Jahr zur Mittwinterfeier wählt das Dorf den Jarl für das kommende Jahr. Ich glaube nicht, dass man dich in diesem Winter zum Jarl machen wird. Du musst dich erst bewähren … im Kampf, aber auch im alltäglichen Leben. Ich sehe in dir alle Eigenschaften eines guten Anführers, mein Sohn. Ich weiß, du wirst deinen Weg machen, wenn du hier bleibst.«
Mandred zügelte seine Stute und blickte hinab zum Dorf. Seine Stimme klang belegt, als er weitersprach. »Sie blickt dir noch immer hinterher. Sieh nur … Überlege nicht lange, ein Weib wie sie wirst du in Albenmark nicht finden. Sie ist stolz und wird sich von dir nichts gefallen lassen. Ich bin mir sicher, sie wird dir manches Mal das Leben bitter machen. Aber sie liebt dich und wird mit dir zusammen alt werden. Das kann dir keine Elfe schenken. Ein langlebiges Elfenweib wäre eines Tages nur noch aus Mitleid oder aus Gewohnheit mit dir zusammen.«
»Wenn ich bleiben würde, dann vor allem wegen der Geschichten über die Trolle«, entgegnete Alfadas ernst.
Sein Vater verbarg ein Schmunzeln. »Natürlich. Und ich muss sagen, ich wäre beruhigt, wenn ich wüsste, dass es einen Mann im Dorf gibt, der von Ollowain im Kampf mit dem Schwert unterwiesen wurde und dem ich in den letzten Jahren alle schmutzigen Tricks beigebracht habe… Und falls es dir hier doch nicht gefällt, komm in einer Vollmondnacht hinauf zum Steinkreis und rufe den Namen Xern. Ich bin sicher, man wird dich hören.«
»Ich bleibe zunächst nur für einen Winter«, entschied Alfadas. Und er war überrascht, wie erleichtert er sich mit einem Mal fühlte.
»Eben … wegen der Trolle«, bestätigte Mandred und blickte wie beiläufig hinab zum Ufer des Fjords. »Sie ist wirklich dickköpfig. Sie wartet noch immer auf dich.«
»Willst du nicht auch bleiben? Firnstayn könnte deine Axt gut gebrauchen.«
»Auf mich wartet dort niemand mehr. Ich könnte es nicht ertragen, im Schatten der Eiche von Freyas Grab zu leben. Der Devanthar hat mir meine Liebste entrissen. Ich werde Farodin und Nuramon helfen, ihre Liebe wieder zu finden. Und ich werde meine Blutfehde mit dem Devanthar zu Ende bringen. Meine Vergangenheit ist Asche, und meine Zukunft ist Blut. Ich bin erleichtert, dass du nicht an meiner Seite reiten wirst. Vielleicht …« Er stockte. »Wenn der Devanthar tot ist, kann ich vielleicht in Frieden in Firnstayn leben.« Er lächelte. »Jedenfalls, wenn Jarl Alfadas Mandredson nichts dagegen hat, einen bockigen alten Mann ins Dorf zu lassen.«
Der Schatten einer Wolke zog über den Hang. Die Vögel und Grillen verstummten. Plötzlich hatte Alfadas das Gefühl, dass er seinen Vater niemals wiedersehen würde.