Rückkehr nach Albenmark

Die Burg der Königin strahlte in der Nacht, ebenso wie all die Häuser auf den Hügeln. Sie mussten nur noch die Wiese hinter sich lassen, dann waren sie da. Nuramon ritt neben Farodin und schwieg ebenso wie Yulivee, die vor ihm im Sattel saß.

Sie waren durch das Tor bei Atta Aikhjarto geschritten und dort auf Xern getroffen. Als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählt hatten, hatte er ihnen im Namen Atta Aikhjartos von einem Albenstern erzählt, welcher der Burg der Königin näher lag. So waren sie vom Tor aus zu dem anderen Stern gesprungen und hatten die Shalyn Falah umgangen.

An der Fauneneiche und an Noroelles See waren die Gefährten auf ihrem Weg nicht vorbeigekommen. Vielleicht war es auch besser so; sie waren so sehr in Eile, dass sie der Würde dieser Orte nicht gerecht geworden wären.

»Feenschein!«, sagte Yulivee leise. Sie spielte offensichtlich auf all die kleinen Lichter an, die in der Burg erstrahlten und sie weithin sichtbar machten. »Schneller, Felbion! Schneller!«

Zu Nuramons Überraschung legte Felbion einen Schritt zu. Jetzt hörte sein Pferd schon auf Yulivee! Es würde gewiss nicht mehr lange dauern, und Nuramon würde seiner kleinen Ziehschwester die Zügel überlassen müssen.

Je näher sie der Burg kamen, desto mehr fürchtete Nuramon, dass es ein Fehler sein könnte, als Boten für Liodred vor Emerelle zu treten. Gewiss, sie waren Elfen, doch die Königin hatte sicherlich nicht vergessen, dass sie sich ihr einst widersetzt hatten.

Sie ritten zum Tor hinauf. Es stand offen, und nirgends war eine Wache zu sehen. Der Hof war leer. Wären die Lichter nicht gewesen, Nuramon hätte geglaubt, dass die Burg verlassen war.

Die Mühe, die Pferde in den Stall zu bringen, machten sie sich nicht. Sie hielten an der Treppe vor dem Palast, stiegen ab und ließen die Tiere dort einfach stehen.

Nuramon nahm Yulivee bei der Hand. »Nun, du kennst die Märchen. Es ist niemand vorlaut in den Hallen der Königin. Denk daran!«

»Ich weiß, ich weiß. Lass uns gehen!«, entgegnete Yulivee.

Seite an Seite traten die drei in die hellen Hallen Emerelles. Yulivee schaute sich mit offenem Mund um. Besonders die Statuen hatten es ihr angetan. Nuramon musste sie fast hinter sich herziehen, um vorwärts zu kommen, so sehr ließ sich die kleine Zauberin von der Pracht der Umgebung in den Bann ziehen. Sie erreichten die Vorhalle zum Thronsaal. Hier trafen sie das erste Mal auf Wachen. Zwei Elfenkrieger standen mit Speeren bewaffnet vor dem geschlossenen Tor und erwarteten sie.

»Wer seid ihr?«, fragte der Kräftigere der beiden.

»Wir sind Boten des Königs von Firnstayn«, antwortete Farodin. »Die Zeit ist gekommen, da die Hilfe des Alfadas vergolten werden soll.«

Die beiden Männer tauschten unsichere Blicke.

»Wer hätte das gedacht?«, fragte jemand neben ihnen.

Sie wandten sich um, und durch eine Seitentür trat Alvias ein. Der Meister hatte sich verändert. Eine Narbe zog sich über seine Stirn. Er musste durch eine magische Waffe verwundet worden sein. »Wer hätte gedacht, dass jene die Boten sein sollen, deren Namen in diesen Hallen seit Jahrhunderten nicht mehr genannt werden.«

»Meister Alvias!«, sagte Farodin überrascht. »Es tut gut, ein bekanntes Gesicht zu sehen.«

Der Vertraute der Königin trat an sie heran und musterte sie. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, froh zu sein, euch zu sehen. Die Ankunft von Boten bedeutet Krieg, und _eure_ Ankunft mag den Zorn der Königin erwecken.«

Nuramon dachte an das letzte Mal, dass er in diesen Hallen gewesen war. Damals hatte ihn die Königin auf die Suche nach Guillaume geschickt, und alles hatte seinen bedauerlichen Lauf genommen. »Wird uns die Königin empfangen?«, fragte er.

»Sie wird die Boten von Firnstayn gewiss zu sich vorlassen, doch es mag sein, dass sie die beiden Elfen, die einst ihren Zorn erweckten, abweist.« Er schaute noch einmal an ihnen herab. »Wartet hier! Ich werde euch der Königin ankündigen.«

Alvias öffnete das Tor ein Stück weit. Nuramon konnte zwar nicht hineinblicken, doch er hörte, dass dort viele Albenkinder versammelt waren. Der Meister trat ein und schloss das Tor hinter sich.

»Was ist los, Nuramon?«, fragte Farodin. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Ich habe nur ungeheure Angst. Der Zorn der Königin! Ich möchte ihn lieber nicht kennen lernen.«

Farodin lächelte kühl. »Nun, es gibt kein Zurück mehr.«

Yulivee schüttelte Nuramons Arm. »Habt ihr beiden etwas ausgefressen?«

»Ja«, antwortete Nuramon und nickte dabei. Er hatte der Kleinen nur in groben Zügen von ihrer bisherigen Suche nach Noroelle erzählt und dabei ausgelassen, dass Yulivees geliebte Emerelle ihnen übel mitgespielt hatte. »Wir haben uns gegen ihren Willen davongemacht. So wie du dich nachts auf den Weg machst.«

»Sie wird euch bestimmt vergeben. Sie ist sehr gütig«, erklärte Yulivee.

Die Königin ließ sie lange warten. Besonders Yulivee wurde unruhig und vertrieb sich die Zeit damit, dass sie nahe an die Wachen heranging und diesen Fragen stellte, welche die beiden Männer nur kühl und abweisend beantworteten. Sie fragte nach den Rüstungen und den Waffen. Außerdem wollte sie wissen, wie man zu einer Wache der Königin wurde. Nuramon lauschte dem Gespräch nur halbherzig und ging unruhig auf und ab.

Farodin stand ruhig da und behielt ihn im Blick. »Hast du in Firnstayn deine Geduld verloren?«, fragte er schließlich. »Oder hast du dir das bei Mandred abgeschaut?«

Nuramon blieb stehen. »Wenn du wüsstest, wie sehr ich um uns und unsere Suche fürchte!« Je länger die Königin sie warten ließ, desto größer schien ihm die Gefahr. Womöglich legte sich Emerelle gerade ein Urteil für sie zurecht!

Vom Thronsaal her kam ein Geräusch. Rasch war Yulivee wieder bei Nuramon und fasste seine Hand. Dann öffnete sich das Tor, und er konnte an Alvias vorbei und zwischen den Reihen der versammelten Elfen hindurch zu Emerelle blicken. Sie saß reglos auf ihrem Thron.

»Die Königin wird euch empfangen«, sagte Meister Alvias und schritt voran.

Die Gefährten folgten ihm. Nuramon war erstaunt, dass der Saal so voll war wie damals bei dem Auszug der Elfenjagd. Die Albenkinder links und rechts wirkten erstaunt. Nuramon kannte einige Gesichter, doch die meisten waren ihm fremd. Mit einem Mal flüsterte irgendwo jemand: »Farodin und Nuramon!« Und beide Namen suchten im Geflüster ihren Weg durch den Saal. Weit vorn erhob sich lautes Gerede. Die Königin hob die Hand, und es wurde sofort wieder still.

»Willkommen, Nuramon!«, flüsterte ihm jemand von links zu. Es war ein junger Elf, ein Krieger in weißer Tuchrüstung. Nuramon kannte ihn nicht, doch hinter ihm sah er Elemon, seinen Onkel, und andere aus seiner Sippe. Außer Elemon stand den meisten Freude, ja sogar Stolz ins Gesicht geschrieben. »Sei gegrüßt, Cousin«, sagte eine junge Frau leise, die er noch nie gesehen hatte, die aber seiner Tante Ulema ähnlich sah.

Nuramon begegnete ihnen allen mit freundlichen Gesten, doch er hielt weiter auf den Thron zu.

Einige von Farodins Sippe waren ebenfalls gekommen. Sie grüßten den Verwandten mit Zurückhaltung, doch zugleich auch mit einem Ausdruck größter Ehrerbietung.

Schließlich waren sie so nahe an den Thron herangetreten, dass sie im Gesicht der Königin lesen konnten. Was Nuramon dort fand, war Kälte.

Um den Thron herum sah Nuramon viele bekannte Gesichter. Da waren Ollowain, Dijelon, Pelveric und auch Obilee. Nuramon war froh, die Vertraute Noroelles zu erblicken. Sie sah würdevoller aus denn je und vermochte ihre Freude nicht zu verbergen. Ihr blondes Haar war zu dicken Zöpfen geflochten, die ihr bis über die Schultern fielen. Sie trug einen rotbraunen Harnisch, auf den Runen gemalt waren. Offenbar war es die Rüstung einer kämpfenden Zauberin.

Vor der Königin beugten Nuramon und Farodin das Haupt. Die kleine Yulivee machte einen Knicks. Bevor sie irgendetwas sagen konnten, sprach Emerelle: »Der Tag ist also gekommen! Der Tag, da Alfadas’ Kinder unsere Schuld einfordern. Der Tag, da Farodin und Nuramon zurückkehren! Was ist geschehen, dass ihr es wagt, vor mich zu treten?«

Sie blickte Farodin an. Und so war er es, der antwortete. »Aus Freundschaft zu Mandred, Alfadas’ Vater, sind wir gekommen. Firnstayn ist in großer Gefahr. Die Tjuredanbeter unterjochten Volk um Volk und bereiten nun einen Angriff auf Firnstayn vor. Die Flotte der Ordenspriester wird bald auslaufen.« Stimmen erhoben sich im Saal, doch Farodin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er sprach einfach weiter. »Im Namen Liodreds aus dem Geschlechte des Alfadas Mandredson kommen wir, die Hilfe der Albenkinder zu erbitten.«

»Die Königin von Albenmark wird ihr Versprechen halten und die Vorbereitungen treffen«, erklärte Emerelle.

Farodin verbeugte sich. »Wir danken dir im Namen des Liodred.«

»Damit ist euer Dienst getan. Euer Herr wird mit euch zufrieden sein. Doch nun lasst uns die Boten verabschieden und Farodin und Nuramon anhören, deren Namen in diesen Hallen lange nicht mehr gesprochen wurden, aber draußen in den Wäldern schon längst zur Legende wurden. Farodin und Nuramon! Die Elfen, die sich der Königin widersetzten, um nach ihrer Liebsten zu suchen! Ihr könnt nicht ermessen, wie groß mein Zorn war, als ihr gegen mein Gebot verstoßen habt. Ihr habt großen Mut, nach all dem vor mir zu erscheinen. Ihr kommt, obwohl ihr wisst, dass dies das Ende eurer Suche sein könnte. Du, Farodin, führst sogar den Sand mit dir, den ich einst in der Menschenwelt verstreute. Und du, Nuramon, hast es gewagt, ein Menschenleben lang in Firnstayn zu bleiben, direkt vor meinen Augen.«

Nuramon setzte zum Sprechen an, doch ein ernster Seitenblick Farodins ließ ihn schweigen.

»Du wolltest etwas sagen, Nuramon?«, sprach die Königin mit ironisch liebenswürdiger Stimme.

»Ich wollte dich nicht verärgern«, begann er stockend. »Als ich in Firnstayn war, wusste ich, dass du mich jeden Tag hättest holen können, doch du hast es nicht getan. Du hattest gewiss deine Gründe.«

Die Königin legte den Kopf schief. »Glaube nicht, ich hätte meine Ansicht über Noroelle geändert. Doch ich sehe, dass ich euch nicht halten kann. Eure Liebe ist zu stark. Ihr könnt versuchen, Noroelle zu retten, doch wisset, dass ihr es ohne meine Gunst tut. Es ist Zeit vergangen, seit ihr gegen mein Gebot verstoßen habt. Und manches Mal habe ich euch von hier aus gesehen. Einige Dinge, die ich sah, gefielen mir, andere nicht. Du, Nuramon, warst bei den Abtrünnigen. Im Grunde sollte es einer Königin missfallen, wenn einer der Ihren bei Abtrünnigen Zuflucht sucht. Doch niemand wird dich wohl dafür verachten, dass du bei den Kindern der Dunkelalben gewesen bist.« Geflüster verbreitete sich im Saal. Gewiss fragten die Anwesenden sich, welches Geheimnis die Kinder der Dunkelalben umgab. Und sie hätten bestimmt viel dafür geboten, zu erfahren, was Nuramon bei ihnen erlebt hatte. Die Königin schaute sich im Saal um, vollzog aber keine Geste, die für Ruhe sorgte, sondern sprach einfach weiter. »Und das Gleiche gilt für deine Zeit in Firnstayn. Niemandem steht Firnstayn näher als du. Und deshalb werde ich dich in die Pflicht nehmen. Du sollst auf meinem Schiff in die Schlacht fahren.«

»Ich danke dir, Emerelle«, entgegnete Nuramon und wusste nicht, ob dies nun eine Strafe oder eine Ehre sein sollte.

»Nun zu dir, Farodin! Du hast Mandred dazu verleitet, sich bei den Trollen als mein Gesandter auszugeben. Du hast in Friedenszeiten bei den Trollen gewütet … und letztlich das Richtige getan. Es schmerzte zu erfahren, was die Trolle mit Yilvina und den anderen gemacht haben. Unsere toten Körper sind vergänglich, unsere Seelen aber leben fort. Eines musst du verstehen, Farodin: Wir brauchen die Trolle im Kampf gegen unsere Feinde. Und wir müssen sichergehen, dass sie an unsere guten Absichten glauben.« Das Gesicht der Königin wurde das einer gütigen Freundin und passte nicht so recht zu den Worten, die sie sprach. »Was würde Orgrim, der Herzog der Trolle, wohl dazu sagen, wenn du auf seinem Schiff in die Schlacht führest?«

Farodin schluckte kaum merklich. »Er würde es gewiss als eine Ehre betrachten«, war alles, was er darauf antwortete.

Nuramon konnte nicht fassen, dass die Königin Farodin tatsächlich als Geisel an die Trolle geben wollte. Zwar waren mehr als zwei Jahrhunderte seit Farodins Tat vergangen, aber die Trolle waren alles andere als vergesslich. Sie würden ihn gewiss aus einem zweifelhaften Versehen töten. Wollte die Königin Farodin und ihn trennen, seinen Gefährten gar in den Tod schicken, damit die Suche nach Noroelle erfolglos blieb? Er musste etwas unternehmen. So löste er sich von Yulivee und trat einen Schritt vor. Farodin streifte noch seine Hand; offenbar hatte er ihn zurückhalten wollen. Doch nun war der Schritt getan, und die Königin sah es mit Überraschung.

»Ja, Nuramon, was möchtest du sagen?«

»Die Trolle werden Farodin erschlagen. Jeder andere Elf aber würde gewiss mit dem Leben davonkommen. Und deswegen flehe ich dich an, schicke mich zu ihnen und halte Farodin an deiner Seite.«

Farodin trat neben Nuramon. »Bitte, Emerelle, hör nicht auf ihn. Ich werde mich deinem Willen beugen.«

Yulivee folgte den beiden Gefährten und umfasste Nuramons Hand.

»Ich bin beeindruckt, wie sehr ihr füreinander eintretet. Aber an meiner Entscheidung wird sich nichts ändern. Farodin, ich werde dich Herzog Orgrim als Geisel geben … Nur so kann ich die Trolle an uns binden. Es ist keine Rache, die ich hege, sondern ein Beweis meines Vertrauens. Ich habe es dir ausgesprochen, zuletzt bei der Elfenjagd. Erinnere dich an die Worte, mit denen ich dich aussandte. Ich möchte nicht nur, dass du eine Geisel bist, sondern ein Vorbild für alle Elfen. Du sollst das Leben des Herzogs schützen, wie du auf der Elfenjagd das Leben Mandreds schützen solltest. Wirst du es tun?«

Farodin zögerte lange. Schließlich hoben sich seine Mundwinkel zu einem kaum merklichen Schmunzeln. »Ich werde es tun, meine Königin.«

Irgendetwas war zwischen Farodin und Emerelle geschehen. Im Saal schien es kaum jemand zu bemerken. Sie glaubten offenbar, einer Versöhnung beizuwohnen, die zuerst als eine Strafe erschienen war. Aber was meinte Emerelle damit, dass Farodin Mandred schützen sollte? Die Königin sprach so, als hätte sein Gefährte versagt und als bekäme er nun die Gelegenheit, dieses Versagen wieder auszugleichen. Nach all den gemeinsamen Jahren gab es immer noch viel in Farodin, das Nuramon verborgen war.

Die Königin lächelte mit einem Mal. »Ich habe nur noch eine Frage.« Sie schaute zu Yulivee. »Wer ist das Mädchen, das sich an deiner Hand festhält, Nuramon?«

»Dies ist die Zauberin Yulivee, Tochter der Hildachi aus der Sippe des Diliskar. Sie ist vielleicht die Letzte der Freien von Valemas.«

Ein Raunen im Saal verriet Nuramon, dass Valemas und die Sippe des Diliskar nicht vergessen waren.

»Yulivee! Welch ein Name!«, sprach die Königin und starrte das Mädchen an, als wäre es eine Albe. »Komm her zu mir, Yulivee!«

Das Kind ließ Nuramons Hand nicht los, sondern schaute zweifelnd zu ihm auf.

»Geh nur! Das ist Emerelle, von der du so viel gehört hast.«

Yulivee löste sich langsam von Nuramon und trat mit vorsichtigen Schritten vor die Königin. Alle im Saal waren still. Es war nur das Rauschen des Wassers an den Wänden zu hören. Emerelle musterte Yulivee lange, als wollte sie sich jede Einzelheit einprägen. Dann sprach sie: »Yulivee, ich habe lange auf die Rückkehr der Sippe von Diliskar und der anderen Sippen von Valemas gewartet. Das macht diesen Tag noch wichtiger, denn dir ist eine große Zukunft vorherbestimmt. Wie bist du Nuramon und Farodin begegnet?«

Yulivee erzählte mit leiser Stimme von dem Tag, da sie Nuramon zum ersten Mal gesehen hatte. Das Gespräch mit ihm gab sie ausführlich wieder. »Und dann erzählte er mir, dass du ihm gesagt habest, er solle sich seine Verwandtschaft selbst wählen. Und da wusste ich, dass ich nicht allein bin.«

»Es war weise von Nuramon, dir dies zu sagen. So habt ihr euch gegenseitig als Verwandte gewählt?«

»Ja, er ist jetzt mein Bruder.«

Obwohl Nuramon beobachten konnte, dass manche im Saal die Worte der kleinen Zauberin mit einem verächtlichen Schmunzeln abtaten, fühlte er sich nicht verlegen. Er war stolz auf Yulivee und wie offen sie der Königin gegenüber war.

»Stell dich an die Seite meines Thrones. Du musst dich an den Platz gewöhnen.«

Yulivee tat, was die Königin von ihr verlangte. Im Gesicht der kleinen Zauberin war zu erkennen, wie sehr sie der Anblick all der Albenkinder beeindruckte. Als die Königin ihre Hand fasste, staunte die Kleine. Sie musste sich fühlen wie in einem der Märchen um Emerelle.

Die Königin wandte sich an Nuramon. »Du hast gut daran getan, dich dieses Kindes anzunehmen. Sie ist mächtiger, als du glaubst. Da ihr euch zu Geschwistern gewählt habt, möchte ich dich fragen, ob ich sie in der Kunst der Magie unterweisen darf.«

»Wer würde dieses Angebot ablehnen? Doch es liegt nicht an mir, zuzustimmen oder abzulehnen. Yulivee selbst soll entscheiden. Ich wäre glücklich, wenn du sie unterweisen würdest, denn ich kann sie nur wenig lehren.«

»Nun, Yulivee? Möchtest du meine Schülerin sein?«

»Ja, Emerelle. Ich möchte es … Aber ich möchte auch bei Nuramon bleiben.«

»Ich werde dir Bedenkzeit geben. Es ist keine leichte Wahl.

Doch wofür du dich auch entscheiden magst, du wirst mich nicht enttäuschen.« Emerelle erhob sich nun. »Und nun, ihr Albenkinder, rüstet euch zum Kampf! Alvias!« Der Meister trat an sie heran. Die Königin flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann nahm sie Yulivee bei der Hand und verließ den Saal durch eine Seitentür. Die Krieger um ihren Thron folgten ihr, nur Obilee blieb zurück und schaute Farodin und Nuramon an, als wären sie ein Gemälde, das sie an schöne Tage erinnerte.

Farodin begann ein Gespräch mit seinen Verwandten, und auch Nuramons Sippe war rasch herbei und bestürmte ihn mit Fragen. Die meisten seiner Verwandtschaft waren ihm fremd. Nur Elemons Gesicht, in dem nach all den Jahren immer noch Argwohn lag, war ihm vertraut. Die Cousine, die ihn angesprochen hatte, hieß Diama. Sie fragte ihn, was bei den Kindern der Dunkelalben geschehen war. Nuramon gab eine ausweichende Antwort und suchte bei jeder Gelegenheit den Blickkontakt zu Obilee. Diese bewegte sich nicht von der Stelle, sondern schien Freude daran zu haben, ihn von seiner Sippe umringt zu sehen.

Als Elemon an Nuramon herantrat, dachte Nuramon, dass es nun mit all der Freude vorbei wäre. Sein Onkel hatte noch nie ein freundliches Wort für ihn gefunden. Die übrigen Elfen warteten schweigend auf das, was der alte Elf sagen würde. »Nuramon, wir alle stammen aus der Sippe des Weldaron«, begann er. »Und du weißt, dass ich und die anderen meines Alters dich stets verachtet haben. Wir haben in der Zeit, da du hier warst und Albenmark nicht verlassen durftest, Kinder gezeugt. Und nachdem du weg warst, wurden sie geboren, in der Sicherheit, dass sie nicht deine Seele trugen. Doch diese Kinder und deren Nachkommen sahen dich mit anderen Augen. Sie hörten die Geschichte von Nuramon dem Minnekrieger, von Nuramon dem Suchenden, dem ewigen Wanderer. In den Trollkriegen erfuhren sie, dass du einst ein Gefährte des Alfadas warst.« Er hielt inne und starrte Nuramon an, als wartete er auf eine Regung seinerseits. Dann fuhr er fort: »Uns Alten brauchst du nicht zu verzeihen. Viele von uns haben ihre Ansicht nicht geändert, doch diese Elfen hier verehren dich als einen Großen unserer Sippe. Lass sie deine Verachtung für uns nicht spüren.«

Nuramon hatte Elemon nie gemocht, doch diese Worte waren ein Entgegenkommen, das er nie und nimmer erwartet hätte. Und als er in die Mienen der jungen Elfen blickte, die ihn umringten, erkannte er, dass sein Onkel Recht hatte. »Wenn die Königin mich nicht an ihrer Seite wünschte, ich würde mit meiner Sippe in diese Schlacht ziehen. Ich danke dir, Elemon.«

»Und ich hoffe, du kannst mir verzeihen.« Die Augen Elemons glänzten.

»Ja, das kann ich. Im Namen Weldarons!« Nuramon erinnerte sich an all die Jahre, da er den Spott der Sippe hatte ertragen müssen. Hätte er Elemon nicht vor sich gehabt und gesehen, dass der Alte den Tränen nahe war, er hätte geglaubt, seine Verwandten würden ihn aus selbstsüchtigen Gründen in ihre Mitte zurückholen wollen. Doch Elemons Worte waren ernst gemeint, daran zweifelte Nuramon ebenso wenig wie an den Absichten der jungen Männer und Frauen, von denen manche wie er ein Kurzschwert trugen, so als wären sie darauf bedacht, ihm nachzustreben. Seine Cousine Diama war eine von ihnen. Sie trug sogar eine Rüstung, die der Gaomees ähnelte, allerdings aus Metallplättchen und nicht aus Drachenleder gefertigt war. In diesem Augenblick begriff Nuramon, wie lange er fort gewesen war. Er war zweimal ein Opfer der Zeit geworden. Und jedes Mal waren mehr als zweihundert Jahre vergangen. In dieser Zeit war aus dem Spott der Sippe Anerkennung geworden, wenn nicht sogar Bewunderung.

Alvias trat mit Farodin näher. Der Meister nickte höflich. »Nuramon, die Königin wünscht dich und Farodin in der Seitenkammer zu sehen. Bitte folge mir!«

»Danke, dass ihr gekommen seid«, grüßte Nuramon seine Sippe unsicher. Er würde Zeit brauchen, um sich an die Veränderung zu gewöhnen.

Kaum hatten sie den Kreis der Verwandten verlassen, da flüsterte Farodin: »Es scheint, als wäre deine Sippe tüchtig gewachsen … Offensichtlich sehen sie mehr in dir als einen Wiedergeborenen.« Es hörte sich ganz so an, als freute sich Farodin auf seine Weise mit ihm.

Nuramon wollte antworten, doch da kamen sie an Obilee vorbei und hielten inne.

Alvias wirkte ungeduldig. »Ich werde vorgehen und der Königin melden, dass ihr unterwegs seid.«

Keiner von ihnen sagte etwas darauf. Nuramon musste an das letzte Mal denken, da er die Vertraute Noroelles gesehen hatte. Es war an dem ersten Tor gewesen, das er mit seiner Magie geöffnet hatte. Sie hatte ihm vom Hügel aus zugewunken. Damals schien sie mehr eine Zauberin gewesen zu sein als eine Kämpferin, nun jedoch trug sie ein Kriegergewand aus weichem Gelgerokleder, auf dem am Torso, auf den Ärmeln und an den Beinen Platten aus Hartholz befestigt waren. Die Runen, die auf das Holz gemalt waren, leisteten Obilee gewiss im Kampf Beistand. Um ihren Hals trug sie eine Kette, an der sie wie Nuramon den Edelstein Noroelles befestigt hatte. Es war ein Diamant.

Endlich brach Nuramon das Schweigen. »Xern hat mir erzählt, dass du in den Trollkriegen eine Heldin geworden seist.«

»Ja«, entgegnete Obilee, als bedauerte sie es.

»Noroelle wird stolz auf dich sein, wenn sie es erfährt«, sagte Farodin.

»Ich habe Noroelle nie vergessen. Es vergeht kein Tag, da ich nicht an sie oder an euch denke.« Sie schaute Nuramon in die Augen. »Ich wünschte, ich könnte euch begleiten.« Ihre Stimme klang so schwermütig wie ihre Worte. Sie lächelte gequält. »Lasst euch nicht von meinen Launen täuschen. Ich bin froh, euch zu sehen.« Mit diesen Worten umarmte sie Farodin und küsste ihn auf die Wange. »Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für euch tun.« Sie schloss nun auch Nuramon in die Arme, küsste ihn aber nicht. »Ich bin so froh für dich. Noroelle hatte Recht. Deine Sippe hat dein Wesen erkannt.«

Noch ehe Nuramon etwas erwidern konnte, sagte Obilee: »Kommt! Lassen wir die Königin nicht länger warten! Sie will gewiss erfahren, was ihr erlebt habt. Auch ich bin neugierig.«

Sie folgten Obilee in die Seitenkammer. Nuramon konnte sich kaum vom Blick der Kriegerin lösen. Es war so viel Schmerz und Sehnsucht darin gefangen.

Als sie in die Seitenkammer eintraten, traute Nuramon seinen Ohren kaum. Die kleine Yulivee stand neben der Königin, von Kriegern umgeben, und erzählte die Geschichte ihrer Reise durch Fargon. »Und als ich schon glaubte, mein Leben eingebüßt zu haben, da erreichte mich Nuramon und hob mich zu sich in den Sattel. Doch hört, was nun geschah! Na, was hättest du in dieser Lage getan?« Sie wandte sich an Ollowain.

»Ich hätte so schnell wie möglich kehrtgemacht, um dich in Sicherheit zu bringen«, antwortete der Krieger. »Dann wäre ich zurückgeritten und hätte mich der Menschen angenommen.«

Yulivee grinste frech. »Eine weise Antwort. Doch keines von beiden machte Nuramon. Denn es hätte unseren Tod bedeutet. Er riss sein Pferd nicht herum, denn die Gegner waren zu nahe.« Das sagte sie Ollowain reichlich spät, doch der Krieger von der Shalyn Falah lachte über Yulivees Worte. »Stattdessen stieß er durch deren Mitte, entging Hieben und Stichen und …« Die kleine Zauberin erblickte Nuramon und stockte. Dann aber sprach sie schnell weiter: »Und rettete die kleine Yulivee vor den bösen Menschen. Und wenn die kleine Yulivee sich vorsieht, wird sie auch morgen noch leben.«

Die Krieger lachten, und selbst der Königin lag ein Lächeln auf den Lippen. »Kommt näher!«, sagte sie. Und als Farodin und Nuramon vor ihr standen, erklärte sie: »Ich möchte euch beiden noch einmal danken, dass ihr Yulivee beschützt habt.« Sie fasste die Hand der Kleinen. »Ihr wisst nicht, wie sehr ihr mir und ganz Albenmark damit geholfen habt.«

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