Die Kinder der Dunkelalben

Nuramon holte tief Luft. Der steile Weg auf den Pass war anstrengend gewesen. Felbion war ihm mit einigem Abstand gefolgt und schritt nun dicht an seiner Seite.

Sie befanden sich zwischen der Baum- und der Schneegrenze. Vor ihnen ging es steil in ein weites Tal hinab. Die Berge ringsum gaben Nuramon ein vertrautes Gefühl. Es mochte sein, dass sie jenen aus seiner Heimat ähnelten, auch wenn er keine offensichtlichen Gemeinsamkeiten erkennen konnte. Vielleicht war sein Gespür feiner als das Auge.

Auf seiner Suche nach den Kindern der Dunkelalben hatte er sich in die Städte der Menschen gewagt und ihre Gesellschaft gesucht, um ihren Geschichten zu lauschen. Die Ohren hatte er stets gut verborgen, sodass ihn jeder für einen Krieger aus dem fernen Westen gehalten hatte. Die Menschen hatten andere Namen für die Dunkelalben und erzählten sich, dass sie sich ihre Opfer unter den Bewohnern des Gebirges suchten und sie in finstere Täler und Höhlen rissen, um dort ihr Fleisch zu fressen.

Nuramon war den Albenpfaden ins Gebirge gefolgt. Die Umgebung hier wirkte alles andere als finster, und in diesen Höhen wirkte die Luft fast so klar wie in Albenmark.

Während des Abstiegs hinab in das weite Tal dachte Nuramon an Noroelle. Während seiner Reise war er an zwei Albensternen vorübergekommen, deren Pfade versiegelt waren. Er hatte seine Kräfte an ihnen versucht, doch es war ihm nicht gelungen, die magischen Barrieren zu durchbrechen. Vielleicht war er bereits an Noroelles Pforte gewesen! Er fragte sich, wie er das Tor erkennen sollte, das zu seiner Liebsten führte. Er wusste keine Antwort. Nur die Hoffnung auf das Orakel bewahrte ihn davor zu verzweifeln.

Bald verbreiterte sich der Pfad und war auch weniger steil, sodass der Elf wieder auf Felbion reiten konnte. Während sie durch die Wälder trabten, dachte er an die Zeit, die er mit Noroelle hatte verbringen dürfen. Die Erinnerung war so machtvoll, dass sie jeden Zweifel tilgte, den er in seinem Innern hegte. Er würde sie eines Tages finden und sie befreien, mit oder ohne Farodin.

Plötzlich blieb Felbion stehen.

Nuramon schaute sich um. Da raschelte es im Gebüsch zu seiner Linken, und zu seiner Rechten regte sich etwas im Schatten der Bäume.

»Wer bist du?«, rief eine Männerstimme in seiner Sprache, jedoch mit einem ungewöhnlich rauen Akzent.

Nuramon wandte nicht einmal den Kopf zur Seite, sondern legte nur die Hand an sein Schwert. »Das werde ich dir und deinen Gefährten gern sagen, wenn ihr mir wie aufrechte Albenkinder begegnet und nicht wie gemeine Strauchdiebe.«

»Das sind große Worte für jemanden, der die Ruhe dieses Tales stört«, entgegnete die Stimme. »Du bist ein Elf.«

»Und da ihr immer noch im Schatten der Bäume steht und offenbar die Strahlen der Sonne scheut, gehe ich davon aus, dass ihr Kinder der Dunkelalben seid.« Nuramon wusste, dass dies eine gewagte Annahme war. Doch entweder hatte er Recht, oder die Nennung dieses Namens würde die feindseligen Albenkinder zumindest einschüchtern.

Es kam keine Antwort. Lange geschah nichts. Mit einem Mal raschelte es wieder. Nuramon umfasste sein Schwert fester. Als er aber die Gestalten erblickte, die aus dem Dickicht und dem Schatten der Bäume traten, löste er erstaunt die Finger von der Waffe.

Es waren acht kleine Männer. Sie hatten lange Bärte und mochten ihm allenfalls bis zur Brust gehen, waren dafür allerdings recht kräftig gebaut. Fünf von ihnen trugen Äxte in ihren Händen, zwei Breitschwerter und einer eine Armbrust. Waren das die Kinder der Dunkelalben?

Jeder der stämmigen, kleinen Männer trug eine schwere Metallrüstung und einen Gürtel, in dem weitere Waffen wie Dolche, Kurzschwerter und Langmesser steckten. Diese Gemeinschaft war zweifellos auf einen Kampf vorbereitet.

Einer der Männer trat näher. Er schien der Jüngste unter ihnen zu sein. »Woher kennst du die Dunkelalben? Und wer hat dir von deren Kindern erzählt?«, fragte der Mann, der vorgetreten war. Nuramon erkannte die Stimme als die, die aus dem Wald zu ihm gesprochen hatte.

»Ich hörte von ihnen im Angesicht der Ioliden.«

Die kleinen Gestalten tauschten verwunderte Blicke. »Du hast die Ioliden gesehen?«, fragte der Anführer.

»Mit meinen eigenen Augen.« Der Elf musste an all die Stunden denken, die er in seinem Haus am Fenster gesessen hatte und auf die blaugrauen Berge geblickt hatte.

»Du darfst ihm nicht glauben«, sagte der Schütze. »Der lügt doch! Der will nur Zeit gewinnen, um uns zu verzaubern.« Nuramon merkte, dass der Schütze auf seinen Kopf zielte, und versuchte, sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen. »Komm, lass mich ihn niederschießen!«

»Still!«, rief der Anführer und hob die Hand. Dann wandte er sich wieder an Nuramon. »Sei willkommen in Aelburin. Mein Name ist Alwerich, und dies sind meine Gefährten.« Er stellte jeden Einzelnen vor.

»Mein Name ist Nuramon.«

»Was führt dich in unser Tal?«, fragte Alwerich.

»Ich suche die Kinder der Dunkelalben … und Wissen über das Orakel Dareen.«

»Die Kinder der Dunkelalben hast du gefunden. Was das Wissen über das Orakel angeht, so wirst du in unserem Reich gewiss alle Antworten finden, die wir dir bieten können.«

»Das klingt sehr gastfreundlich.«

»Gewiss. Wir sind für unsere Gastfreundschaft bekannt.«

Nuramon lag eine Erwiderung auf der Zunge, doch er verkniff sich jedes spitze Wort.

»Nun folge uns«, sagte Alwerich.

»Nur noch eine Frage, bitte.«

»Nur zu, Elf!«

»Wenn ihr die Kinder der Dunkelalben seid, dann sagt mir, wieso ihr im Sonnenlicht wandelt. Heißt es nicht, dass ihr in der Finsternis lebt?«

Alwerich grinste. »Und ihr Elfen lebt im Licht des Tages, und doch sah ich dich auch bei Nacht wandern.«

Nuramon fühlte sich doppelt beschämt. Er hatte Alwerich in der Nacht nicht bemerkt. Zudem hätte er mit dessen Antwort rechnen müssen. Er hatte sich eine Blöße gegeben.

»Wir wären dir übrigens dankbar, wenn du uns _Zwerge_ nennen würdest«, setzte Alwerich nach.

Zwerge! Die alten Märchen erzählten von Wesen, die _Twerge_ oder _Getwerg_ genannt wurden. Sie waren Meister des Bergbaus und lebten einst in Albenmark unter der Erde oder im Fels. Dass die Zwerge die Kinder der Dunkelalben waren, hätte Nuramon nicht gedacht.

Der Schütze senkte nun endlich die Waffe und ging mit seinen Gefährten voran. Nuramon folgte ihnen auf Felbion im ruhigen Schritt. Wie er so eine Weile hinter ihnen her ritt, bemerkte er, dass die Zwerge immer wieder misstrauisch zurückblickten und dass der Abstand, den sie hielten, nicht etwa ihm galt, sondern Felbion. Mochte es sein, dass die Zwerge sich vor einem Pferd fürchteten?

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