Der lebende Ahnherr

Liodreds Leichnam war auf einer mit weißen Tüchern verhängten Kutsche aufgebahrt worden. Fünfzig Kentauren bildeten das Ehrengeleit für den gefallenen König von Firnstayn. An der Seite der raubeinigen Pferdemänner fühlte sich Mandred wohl, obwohl ihn die Nachrichten über sein Volk mit tiefster Trauer erfüllten. Nur wenige hatten freiwillig den alten Göttern abgeschworen, um den Glauben an Tjured anzunehmen. Darauf hatten die Ordensritter ganze Dörfer niedergemetzelt. Emerelle hatte allen Bewohnern des Fjordlands Zuflucht in Albenmark versprochen. Elfenreiter und Trolle waren ausgerückt, um die Flüchtlinge zu eskortieren, doch tausende waren in Schneestürmen oder durch Lawinen auf den Hochpässen ums Leben gekommen. Wer die Flucht überstanden hatte, war ins Lamiyal-Tal etwa zehn Meilen von Emerelles Burg entfernt geführt worden. Die Königin und auch Ollowain hatten Mandred gewarnt. Die Moral der Menschen war gebrochen; sie waren vollkommen ausgezehrt, und all das Leid der Vergangenheit hatte sie gezeichnet. Man rechnete nicht damit, dass mehr als vielleicht zweihundert an der bevorstehenden Schlacht teilnehmen würden.

Als der Jarl die Anhöhe über dem Tal erreichte, wurde ihm schwer ums Herz. Eine unübersehbare Zahl Flüchtlinge lagerte hier. Es gab noch kaum Zelte; die Menschen mussten unter freiem Himmel auf dem Erdboden schlafen. Der Holzrauch hunderter Lagerfeuer hing wie eine dunkle Glocke über den Wiesen.

Die Menschen starrten Mandred an, als er den Hang herunterkam. Sie erkannten ihn nicht. Woher auch? Niemand im Elfenlager hatte ihm sagen können oder wollen, wie viele Jahrhunderte sie durch die Falle des Devanthars verloren hatten. Es spielte auch keine Rolle. Das Einzige, was zählte, war, dass sie morgen den Angriff zurückschlugen. Doch wenn Mandred sich diese Schar Verzweifelter ansah, wusste er nicht, ob die Menschen noch an den Gefechten teilhaben sollten. Am meisten schmerzte ihn der Anblick der Kinder. Hohlwangig und mit eingesunkenen Augen, ausgezehrt von der Flucht, standen sie am Wegesrand und beobachteten, wie die Kentauren und der prächtige weiße Wagen näher kamen. Manche lachten und winkten sogar, obwohl sie sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnten. Was waren die Tjuredpriester nur für Ungeheuer, dass sie sogar Kinder zu Tode hetzten!

In der Mitte des Flüchtlingslagers stand ein Zelt aus verschossenem grünem Leinen. Vor dem Eingang stand breitbeinig ein Hüne von einem Krieger. Er trug eine geschwärzte Rüstung und stützte sich auf eine große Axt. Seine Miene wirkte mürrisch, und er musterte Mandred mit kalten, blauen Augen. »Dich haben die Elfen also geschickt, um uns den Ahnherrn vorzuspielen.«

Der Jarl schwang sich aus dem Sattel und unterdrückte den Drang, dem Wachposten die Faust in den Rachen zu schieben. »Wo finde ich den König? Ich bringe ihm seine Rüstung.«

»Deine Freunde haben dich schlecht unterrichtet. Der König liegt tot auf dem Habichtpass. Er hat sich dort mit hundert Mann gegen das Heer der Ordenspriester gestemmt, um unseren Frauen und Kindern ein paar Stunden mehr für die Flucht einzuhandeln.«

Mandreds Zorn auf den Krieger war verraucht. »Wer führt an seiner Stelle das Kommando?«

»Königin Gishild.«

»Darf ich sie sehen? Königin Emerelle schickt mich. Ich … Ich komme gerade erst von Firnstayn. Ich habe alles gesehen.«

Der Wächter strich sich über den Schnauzbart und runzelte die Stirn. »Seit Tagen kommt niemand mehr durch die Linien der Ordensritter. Wie hast du das geschafft?«

»Einer meiner Gefährten öffnete einen Albenpfad.«

Eine steile Falte zerfurchte die Stirn des Kriegers. Er blickte zu dem weißen Wagen. »Wozu bringst du diese Kutsche mit?«

»König Liodred liegt darauf aufgebahrt. Er starb an meiner Seite.«

Der Wächter riss erschrocken die Augen auf. Dann ging er in die Knie. »Verzeih, Ahnherr! Ich … Niemand hat mehr daran geglaubt, dass sich die alte Prophezeiung noch erfüllen würde. Wir haben so viele …«

Mandred packte den Krieger bei den Armen und zog ihn wieder hoch. »Ich mag es nicht, wenn Männer vor mir knien. Du hattest Recht mit deinem Misstrauen. Und ich bin stolz, dass es im Fjordland noch immer Männer wie dich gibt. Wie heißt du?«

»Ich bin Beorn Torbaldson, Ahnherr.«

»Ich würde mich freuen, dich morgen in der Schlacht an meiner Seite zu wissen, Beorn.« Mandred bemerkte, wie der Krieger die Lippen zusammenpresste, wie um einen plötzlichen Schmerz zu unterdrücken. »Der König hat dich auf dem Habichtpass fortgeschickt, nicht wahr?«

Ein Muskel in der Wange des Wächters zuckte leicht. »Ja«, stieß er gepresst hervor.

»Ich weiß nicht, was mein Nachfahr für ein Mann war, Beorn. Ich kann dir nur sagen, was ich an seiner Stelle getan hätte. Ich hätte meinen tapfersten und treuesten Krieger ausgesucht, um mein Weib in Sicherheit zu bringen. Und wenn ich jemals erleben sollte, dass dich jemand einen Feigling nennt, weil du nicht als Rabenfraß an der Seite deines Königs auf dem Habichtpass liegst, dann werde ich ihn so lange weich prügeln, bis er die Wahrheit erkennt. Reite morgen an meiner Linken. Du musst wissen, ich hasse es, einen Schild zu tragen. Sei du mein Schild!«

Die Augen des Kriegers strahlten. »Kein Schild könnte dich so schützen, wie ich es tun werde.«

»Ich weiß.« Mandred lächelte. »Darf ich nun zur Königin?«

Beorn verschwand kurz in dem Zelt, dann erklang eine helle Frauenstimme. »Tritt ein, Mandred Torgridson, Ahnherr meiner Sippe.«

Die Zeltwände dämpften den Sonnenschein zu grünem Zwielicht. Das Zelt war karg eingerichtet. Es gab eine schmale Bettstatt, einen kleinen Tisch, zwei eisenbeschlagene Kleidertruhen und als einzigen Luxus einen schön geschnitzten Lehnstuhl mit einem hohen Fußschemel. Gisheld war eine junge Frau. Mandred schätzte sie auf höchstens Mitte zwanzig. Ihr Gesicht war fein geschnitten, doch ungewöhnlich blass. Rotblondes Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Sie trug ein eng verschnürtes dunkelgrünes Wams und darunter ein weißes Hemd. Gishild saß auf dem Lehnstuhl, die Füße auf dem Schemel. Um ihre Beine hatte sie eine dünne Decke gewickelt. Auf dem Tisch an ihrer Seite lag griffbereit ein schlanker Dolch.

Die Königin machte keine Anstalten, sich zu erheben, als Mandred eintrat. Sie entließ Beorn mit einer flüchtigen Geste. »Nun kommst du also doch noch, Ahnherr«, sagte sie bitter. »Wir haben so sehr auf dich gehofft, als sie die erste Bresche in die Mauern Firnstayns schlugen. Oder in jener Nacht, als mein Mann im Schneesturm einen Ausfall gegen das Lager der Ordensritter führte, damit die Überlebenden der Stadt in die Berge fliehen können. Selbst auf dem Habichtpass habe ich noch zu Luth gebetet, dass du endlich kommen mögest. Nun ist es zu spät, Ahnherr. Es gibt kein Land mehr, für das dein Volk kämpfen könnte. Wir sind Flüchtlinge, Bettler in der Fremde, angewiesen auf die Almosen Emerelles. Und wie es scheint, vermögen nicht einmal die Elfen die Macht der Priester noch zu brechen. Die verbrannte Eiche wirft ihren Schatten selbst auf das Herzland.«

Mandred atmete tief ein. Was sollte er ihr sagen? Wie grausam es war, im Refugium des Devanthars zu stehen und hilflos zusehen zu müssen, wie das eigene Volk einen verzweifelten Krieg führte? »Ich kann nichts ungeschehen machen. Und es wird für uns auch keinen Weg zurück in die Heimat geben. Doch Emerelle hat mir versprochen, uns in Albenmark ein eigenes Königreich zu überlassen. Nur einmal werden wir noch kämpfen müssen, dann werden die Tjuredpriester für immer zurückgeschlagen sein. Emerelle wird die Tore Albenmarks verschließen, und nie mehr wird ein Priester kommen und einen Fjordländer foltern und morden, weil er treu zu den alten Göttern steht.«

Die Königin sah ihn müde an. »Ich habe von zu vielen letzten Schlachten reden hören, Ahnherr.« Sie deutete zum Eingang des Zeltes. »Du siehst, was aus deinem Volk geworden ist. Die Menschen haben alle Hoffnung verloren. All die Niederlagen haben ihren Stolz zerstört.«

»Wir werden ihnen wieder Mut machen! Heute Nachmittag will ich Liodred beerdigen. Und dann möchte ich zu ihnen sprechen. Bitte steh an meiner Seite. Ich bin mir sicher, sie verehren dich noch immer, Gishild.«

»Ich werde nie mehr an irgendjemandes Seite stehen!« Die Königin schlug die Decke zurück, und Mandred sah zwei rot entzündete, mit schwarzem Pech beschmierte Stümpfe. Man hatte ihr dicht über den Knöcheln die Füße amputiert.

»Ich will keine Worte des Mitleids. Dies ist nichts! Auf dem Habichtpass ist mir mein kleiner Sohn auf dem Arm erfroren. Ich konnte ihm nicht genug Wärme geben …« Sie stockte. »Ein Paar erfrorene Füße sind nichts gegen diesen Schmerz. Ich … Ich will in kein offenes Grab mehr blicken, Ahnherr. Ich selbst bin ein offenes Grab. Und damit bin ich ein Spiegel deines Volkes.«

Fassungslos starrte er auf die verstümmelten Beine. »Du hättest die Elfen um Hilfe bitten können. Ihre Zauber sind mächtig. Sie hätten …«

»Hätte ich einen ihrer Heiler vom Lager eines kranken Kindes fortrufen sollen? Wir haben mehr Elend mit nach Albenmark gebracht, als ihre Zauberkraft zu tilgen vermag.«

Mandred fühlte sich ohnmächtig. Was sollte er dieser verbitterten Frau noch sagen? Worte der Hoffnung mussten wie Hohn in ihren Ohren klingen. Wäre er doch nur früher zurückgekehrt! Er verneigte sich. »Mit deiner Erlaubnis werde ich mich zurückziehen und das Begräbnis König Liodreds vorbereiten.«

»Warte noch, Ahnherr!« Sie winkte ihm, näher zu treten. »Knie neben mir nieder.«

Verwundert gehorchte er.

Gishild senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe gehört, wie du zu Beorn gesprochen hast. Seit dem Tag auf dem Habichtpass war er ein gebrochener Mann. Du hast ihm seinen Mut zurückgegeben. Nimm die Rüstung des Alfadas und lege sie an, wenn du am Grab von Liodred zu deinem Volk sprichst. Vielleicht vermagst du in der Asche der Trauer noch einmal einen Funken der Hoffnung zu entzünden. Mir ist diese Kraft nicht gegeben, Mandred Torgridson. Doch ich weiß, dass manche selbst jetzt noch auf die Rückkehr des lebenden Ahnherrn hoffen. Sprich zu ihnen. Du hast Recht … Es darf nicht sein, dass nach all den Jahrhunderten der Freundschaft in der letzten Schlacht nicht mehr das Banner von Firnstayn an der Seite der Elfen weht. Behüte unser Volk vor dieser Schande.«

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