Ein Traum

Es war ein klarer Traum, der Noroelle im Schlaf ereilte. Zunächst schweifte ihr Blick über die frühlingshafte Umgebung ihres Hauses und weiter über die Steilküste von Alvemer. Mit einem Mal aber sah sie eine unheimliche Winterlandschaft, schroffe Berge und dichte Wälder, die von Stimmen und Schreien durchdrungen wurden. Vor einem Eichenstamm lag ein toter Kentaur, so jämmerlich zugerichtet wie kein Wesen, das sie je gesehen hatte. Es war Aigilaos. Plötzlich hatte sie Lijema vor Augen, die regungslos im Schnee lag und eine riesige Wunde im Leib hatte. Aus Lijema wurde Brandan, der todesstarr neben einem Lagerfeuer ruhte, während aus dem Wald die Schreie leidender Wölfe drangen.

Noroelles Blick fand eine Höhle aus Eis, die von Kampflärm erfüllt wurde. Sie konnte nicht sehen, wer dort gegen wen kämpfte. Sie sah nur jene, die niedergestreckt wurden. Da war Vanna die Zauberin und dann ein Wolf. Mit einem Schlag verstummte der Kampflärm, und Noroelle sah Farodin am Boden. Eine Wunde klaffte in seiner Brust, und in seinen Augen war kein Leben.

Noroelle schrie und schrie, ohne Luft zu holen …

Auf einmal fand sie sich neben dem leeren Thron im Saal der Königin wieder. Sie schaute sich um, doch sie war allein. Das Wasser schwieg, die Wände waren trocken. Tageslicht fiel durch die Decke in den Saal. Noroelle sah an sich herab. Sie trug ihr weißes Nachthemd.

Langsam öffnete sich das Tor. Weiß gewandete Elfenfrauen, die ihre Gesichter hinter Schleiern verbargen, trugen zwei Bahren nebeneinander herein. Noroelle wusste, wen sie zu ihr brachten. Verzweifelt wandte sie sich ab. Den Anblick würde sie nicht ertragen.

Die Frauen kamen näher und näher. Schließlich verharrten sie vor der Treppe zum Thron. Noroelle betrachtete aus den Augenwinkeln die Bahrenträgerinnen, die stumm und starr dastanden, als wären sie Statuen. Sie wollte auf keinen Fall die toten Körper ihrer Liebsten sehen. Doch ihr Blick gehorchte ihr nicht, sondern wanderte zu den Leichnamen von Farodin und Nuramon. Sie schienen unversehrt zu sein, doch ihnen fehlte jedes Leben.

Noroelle schaute sich zitternd um, so als müsste doch irgendjemand da sein, der ihr beistünde. Doch da war niemand. Dann sah sie, wie von den Wänden Blut hinablief. Sie schaute auf und beobachtete, wie das Blut aus den Quellen drang.

Noroelle eilte davon. Durch die Seitentür, die der Königin vorbehalten war, verließ sie den Saal. Sie lief so schnell sie konnte und achtete nicht darauf, wohin sie ihre Füße trugen.

Unvermittelt fand sie sich an ihrem See wieder. Sie trat zur Quelle und war erleichtert, hier Wasser und kein Blut vorzufinden. Erschöpft lehnte sie sich an den Stamm einer der beiden Linden und fing an zu weinen. Sie wusste, dass es nur ein Traum war. Aber sie wusste auch, wie oft sie im Traum die Wahrheit gesehen hatte. Sie hatte Angst vor dem Erwachen.

Nach einer Weile kniete sie sich an den See und betrachtete ihr Antlitz auf der Wasseroberfläche. Nichts war von dem geblieben, was Farodin und Nuramon in ihr gesehen hatten. Ihre Tränen fielen ins Wasser und ließen ihr Spiegelbild verschwimmen.

»Noroelle!«, hörte sie eine vertraute Stimme sagen.

Sie stand auf und wandte sich um. Es war Nuramon. »Bist du es wirklich?« Er war in eine Hose und ein Hemd aus einfachem Leinen gekleidet. Seine Füße waren nackt.

»Ja«, sagte er lächelnd.

Noroelle setzte sich auf den Stein beim Wasser und bedeutete ihm, zu ihr zu kommen.

Er nahm neben ihr Platz und fasste ihre Hand. »Du hast geweint.«

»Ich hatte einen bösen Traum. Aber nun ist er vorüber. Du bist da.« Sie sah sich um. »Es ist merkwürdig. Es ist alles so klar. So, als wäre es gar kein Traum.«

»Du hast Macht über diese Traumwelt. Das spüre ich. Was du willst, das wird geschehen. Der Schmerz hat dir diese Kraft verliehen. Er hat Wünsche in dir geweckt.«

»Ich sehe dich nicht zum ersten Mal in meinen Träumen, Nuramon. Erinnerst du dich an das letzte Mal, da wir uns hier in meinem Schlaf trafen?«

»Nein. Denn ich bin nicht der Nuramon aus deinen Träumen. Ich bin kein Bild, das du dir von mir machst. Ich bin von außen in deinen Traum gekommen.«

»Aber warum?«

»Weil ich mich entschuldigen muss. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Wir werden nicht zurückkehren.« Er sagte es mit einer so sanften Stimme, dass sie ganz ruhig blieb.

»Dann war es die Wahrheit, die ich vorhin gesehen habe?«

Er nickte. »Die Elfenjagd ist gescheitert. Wir sind alle tot.«

»Aber du bist hier.«

»Ja, aber ich kann nicht lange bleiben. Ich bin nur ein Geist, den der Tod bald fortnimmt, auf dass ich einst wiedergeboren werde. Nun weißt du, was geschehen ist. Und du hast es nicht aus dem Munde irgendeines anderen erfahren.« Er erhob sich. »Es tut mir so Leid, Noroelle.« Nuramon schaute sie sehnsuchtsvoll an.

Sie stand auf. »Du hast gesagt, dass ich Macht über diesen Traum habe.«

Er nickte.

»Dann nimm meine Hand, Nuramon!«

Er gehorchte ihr.

»Schließ die Augen!«

Nuramon fügte sich ihrem Wunsch.

Noroelle dachte an ihre Kammer. Oft hatte sie sich den Tag ausgemalt, da sie Farodin oder Nuramon in ihr Gemach führen würde. Und da es in der Wachwelt nie mehr geschehen würde, beschloss sie, es hier im Traum geschehen zu lassen. Sie führte ihn einige Schritte über die Wiese und wünschte, sie wäre in ihrer Kammer. Plötzlich waren da Mauern um sie herum. Die Pflanzen verwandelten sich in Efeu, sie rankten sich an den Wänden hinauf und nahmen bald die ganze Decke ein. Der See schwand ebenso wie die Linden. Stattdessen wurde der Boden zu Stein, und Möbel aus lebendem Holzgeflecht stiegen aus ihm empor. Selten hatte sie solche Macht in ihren Träumen verspürt. »Öffne die Augen, mein Geliebter!«, sagte sie leise.

Nuramon tat es und schaute sich lächelnd um. »Ich hatte es mir anders vorgestellt.«

»Es ist nur im Traum so groß. Und dass hier überall Pflanzen wachsen, sollte dich nicht wundern.«

Er legte die Hände auf ihre Schultern. »Ich wünschte so sehr, ich hätte mein Versprechen halten können.«

»Und ich wünschte, das Schicksal hätte mir meine Entscheidung nicht abgenommen. Alles, was uns noch bleibt, ist dieser Traum.« Sie wartete darauf, dass er etwas sagte oder etwas tat, doch Nuramon zögerte. Sie wäre ihm längst entgegengekommen, wenn er es nicht all die Jahre vermieden hätte, sie zu berühren. Es war an ihm zu entscheiden, das würde sie ihm nicht abnehmen.

Als er die Bänder ihres Nachtgewands zwischen ihren Schultern löste, atmete Noroelle erleichtert aus. Endlich hatte er diesen Schritt gewagt! Er schaute ihr unverwandt in die Augen. Der Schrecken der Menschenwelt hatte Nuramon verändert, er machte einen ernsteren Eindruck.

Ihr Nachthemd glitt an ihrem Körper zu Boden.

Nuramon senkte den Blick.

Das hatte sie nicht erwartet. Gewiss, er mochte neugierig sein, wie ihr Körper, den er so oft besungen hatte, wirklich aussah, aber war der Blick nicht zu rasch gefallen? Dann dachte sie daran, was er gesagt hatte. Er musste bald fort. Ihnen blieb kaum Zeit. Und nichts wäre schlimmer, als im falschen Moment voneinander getrennt zu werden.

Er schloss sie in die Arme und flüsterte in ihr Ohr: »Verzeih mir. Ich bin nicht mehr der, den du gekannt hast. Es ist schwierig für mich, hier zu sein. Ich bin nur ein Schatten desjenigen, der ich einst war.«

Noroelle schwieg; sie wollte nichts darauf sagen. Auch wagte sie nicht, sich vorzustellen, was Nuramons Preis dafür sein mochte, dem Tod die wenigen Momente hier mit ihr abzuringen. Sie machte einige Schritte zurück und wartete.

Nuramon zog sich aus. Irgendetwas stimmte nicht … Sie musterte ihn. Es lag nicht an seinem Körper, dieser war makellos. Sie erinnerte sich, was die Frauen bei Hof gesagt hatten. Manche von ihnen hatten sich eine Liebesnacht mit ihm gewünscht. Jetzt, da er sich ganz vor ihr entblößte, konnte Noroelle mehr denn je verstehen, wieso diese Frauen all das vergaßen, was man sich über Nuramons Fluch erzählte. Nie hätte sie gedacht, dass Nuramon aussah wie einer der legendären Minnesänger, von deren Liebesabenteuern die Frauen so schwärmten. Wie hatte er diesen Körper nur verstecken können?

Als Noroelle Nuramon wieder ins Antlitz blickte, erkannte sie, was an ihrem Liebsten nicht stimmte. In seinen Zügen stand ein stummer Schmerz. Er hatte viel erleiden müssen.

Zaghaft kam Nuramon näher. Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte sie, als wollte er sichergehen, dass sie tatsächlich da war. Sanft streichelte er ihr über die Schulter.

Noroelle fuhr Nuramon mit den Händen durch das wilde Haar, dann den Hals entlang auf seine Brust. Seine Haut war weich. Sie nahm ihn in die Arme und küsste ihn. Dabei schloss sie die Augen und spürte, wie seine warmen Fingerspitzen ihren Rücken hinabstrichen und kühle Schauer nach sich zogen.

Gemeinsam ließen sie sich auf die Bettstatt sinken. Es war anders als in der Wachwelt. Das Holzgeflecht war ein wenig feiner, das weiche Blätterwerk schien dichter zu sein. Nuramon strich über die Blätter. Hatte er noch nie ein solches Bett gesehen? Oder wunderte es ihn nur, wie weich es war?

Sie verharrten und sahen einander lange an. Dies also war das Ende ihres langen Weges. So oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt. Und obwohl auch dies nur ein Traum war, spürte sie alles viel eindringlicher als je zuvor.

Nuramon berührte ihr Haar und rieb es sanft zwischen den Fingern, um es dann zu küssen. Mit den Handflächen strich er ihr über die Wangen, um sich dann einen Weg zu ihrem Hals und dem Brustansatz zu suchen. Dort hielt er inne. Noroelle blickte ihn liebevoll an. Er sollte an ihren Augen lesen, dass er alles wagen durfte.

Mit einem Mal spürte sie, wie seine Hand zwischen ihre Brüste fuhr und bis zum Bauchnabel hinabstrich. Ein Schauer durchfuhr sie. Es war nicht nur ein Schauer der Berührung, sondern auch der Magie. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es Nuramons heilende Hände waren oder aber ihre Zaubersinne. Vielleicht vermischte sich beides.

Er ließ die Hände über ihre Hüften auf ihren Rücken gleiten. Dann löste er sie von ihrem Körper, blieb aber so nahe, dass Noroelle die Wärme seiner Finger fühlen konnte. Sie schloss die Augen und ließ sich zurücksinken.

Sie spürte, wie er langsam über sie kam, wie seine Hände ihre Brüste streichelten und dann ihr Gesicht liebkosten. Sie konnte nicht fassen, wie warm sein Körper war. Es musste ein Zauber sein, der diese Wärme hervorbrachte.

Als sie spürte, wie sein Glied über ihre Schenkel streifte, umklammerte sie Nuramon mit ihren Beinen. Schauer um Schauer liefen ihr durch den Körper.

Als er in sie eindrang, stockte ihr der Atem. Sie hatte oft von Liebesnächten mit Farodin oder Nuramon geträumt, hatte Verlangen gespürt und Erfüllung gefunden, aber kein Traum war je so reich an Sinnesfreuden gewesen wie dieser. Diesmal waren all ihre Zaubersinne erwacht. So wie jetzt musste es auch in der Wachwelt sein. So wäre es gewesen, wenn …

Nuramon verharrte. Sie fragte sich, worauf er wartete. Sie öffnete die Augen und sah sein Gesicht über ihr. Beinahe schüchtern schaute er sie an. Hatte sie ihn verschreckt, weil ihr der Atem stockte? Noroelle strich ihm durchs Haar und dann über die Lippen. Ihr Lächeln sollte ihm alles sagen.

Vorsichtig begann er sich in ihr zu bewegen.

Im gleichen Moment verschwamm alles vor ihren Augen. Sie wusste nicht, ob es am Traum lag, ob ihre oder seine Magie ihre Empfindungen verstärkte und ihre Sinne berauschte.

Mit jeder Bewegung Nuramons schien eine neue Welt aufzubrechen. Überall waren Lichter und Farben. Dann war da sein Gesicht. Es kam und es ging, und es erschien ihr schön wie nie. Und sein Duft! Es kam ihr so vor, als nähme sie alle jene Düfte wahr, die sie mit Nuramon verband: den von Lindenblüten, den von Maulbeeren und den der alten Eiche, auf der Nuramons Haus stand. Ihr war, als holte ein Zauber diese Düfte aus ihrer Erinnerung in den Traum.

Ebenso verführerisch war Nuramons weiche Haut. Sie schien sie zu umfangen wie eine weiche Decke und hatte ihren kühlen Körper längst gewärmt. Noroelle konnte Nuramon gleichmäßig atmen fühlen. Es war ein langer Hauch, den sie gern einatmete und schmeckte.

Mit einem Mal hörte sie sich selbst. Sie hörte sich Nuramons Namen flüstern. Immer lauter wurde sie; so sehr, dass sie von sich selbst überrascht war. Und dann war da ein Schrei! Alle Sinneseindrücke vereinten sich im Rausch.

Noroelle erwachte schlagartig. All das, was sie vor einem Moment noch gespürt hatte, verblasste, floh mit einem Kribbeln aus ihrem Körper. Sie wagte nicht, die Augen zu öffnen, um das zu sehen, was sie längst spüren konnte: dass Nuramon fort war. Sie wollte nach ihm tasten, aber es ging nicht. Sie wollte seinen Namen sagen, aber ihre Lippen bewegten sich nicht. Und als sie nun doch die Augen öffnen wollte, musste sie feststellen, dass die Lider ihr nicht gehorchten. Sie war gefangen in ihrem Leib und fragte sich, ob sie wirklich aufgewacht war oder noch immer träumte.

Mit einem Mal spürte sie die Gegenwart eines anderen in ihrer Kammer. Ob es wirklich Nuramon war? Ob er auch in der Wachwelt zu ihr zurückgekehrt war?

Wer immer bei ihr war, er kam an ihr Bett heran. Deutlich hörte sie seine vorsichtigen Schritte. Er blieb bei ihr stehen und verharrte, bis sie nicht mehr zu sagen vermochte, ob er immer noch da war. Schließlich war sie sich sicher, allein zu sein.

Plötzlich erklangen Schritte vor ihrem Zimmer. Dann wurde die Tür geöffnet, und sie hörte Obilees Stimme ihren Namen rufen. Ihre Vertraute trat näher, setzte sich neben sie und berührte sie. »Noroelle!«

Verzweifelt versuchte Noroelle, die Macht über ihren Körper zurückzugewinnen.

Obilee stand auf und schloss die Fensterläden. Dann kehrte sie zu Noroelle zurück und deckte sie zu.

Mit einem Mal stockte Noroelle der Atem, sie wurde unruhig, und im nächsten Augenblick war sie wieder die Herrin über ihren Körper. Sie öffnete die Augen und richtete sich mit einem Ruck auf.

Obilee erschrak.

»Nuramon!«

Die junge Elfe musste schmunzeln.

»Ich habe geträumt, Obilee.« Noroelle sah ihr Nachthemd neben sich liegen. Und sie wusste, dass das Fenster offen gestanden hatte … »Es war mehr als ein Traum. Er war hier … Er war tatsächlich hier!« Sie stockte. »Aber wenn er hier war, dann …« Dann war die Elfenjagd gescheitert. Dann war alles so, wie Nuramon ihr im Traum gesagt hatte. Es war vorbei. Ihre Geliebten waren tot.

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