Der Heilzauber

Nuramon stand wie betäubt vor dem toten Devanthar. Irgendetwas hatte der Dämon getan, bevor Mandred ihn erschlagen hatte. Ein Hauch von Magie hatte ihn wie ein Schatten umgeben. Doch nun lag die Bestie reglos da. Das Blatt von Mandreds Saufeder ragte aus ihrer Augenhöhle. Der Menschensohn kniete am Boden und atmete schwer.

Nuramon schüttelte sich. Endlich konnte er wieder klar denken. Er wandte sich um und sah die toten Körper von Vanna und dem Wolf. Farodin lag auf dem Rücken; eine tiefe Wunde klaffte in seiner Brust.

Sofort war Nuramon bei ihm. »Farodin!«, rief er, doch sein Gefährte hatte das Bewusstsein verloren. Er atmete nur flach, und sein Puls war kaum noch zu spüren. Trotz der blutigen Striemen auf der Wange erinnerte sein Gesicht Nuramon an das eines schlafenden Kindes.

Der Elf hatte Noroelle versprochen, dass sie beide zu ihr zurückkehren würden. Und nun verging Farodins Leben vor seinen Augen. Mit dem blassen Atemdunst verblasste auch jede Hoffnung. Denn ein Toter war nicht zu heilen.

Nuramon fasste die Hand seines Gefährten. Sie war noch nicht ganz kalt. Da war immer noch ein wenig Wärme zu spüren. Seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, es gebe eine Schwelle, von der man einem Albenkind nur mehr beim Sterben zusehen könne. Als er die tiefe Wunde betrachtete, wusste er, dass Farodin nicht zu helfen war.

Sein Gefährte hatte das Unmögliche gewagt, um sie zu retten. Nuramon war es ihm schuldig, alles zu versuchen, so wie er es Noroelle schuldig war. Nun war es an ihm, das Unmögliche zu wagen. Wenn dies das Ende war und es nichts mehr zu gewinnen gab, dann würde er wenigstens bei dem Versuch sterben, Farodin zu retten.

Er schloss die Augen und dachte noch einmal an Noroelle. Er sah ihr Gesicht vor sich – und begann mit seinem Zauber.

Der Schmerz kam sogleich und drang tief in seinen Kopf vor. Es schien, als verwandelte sich jede Ader in seinem Leib in einen glühenden Faden.

Nuramon hörte sich schreien. Irgendetwas griff nach seiner Kehle. Er musste um jeden Atemzug kämpfen. Würde er den Atem verlieren, damit Farodin den seinen wieder erlangte? Dann fasste etwas nach seinem Herzen und presste es erbarmungslos zusammen. Der Schmerz überwältigte ihn. Er wollte Farodin loslassen, spürte aber nicht, was er tat. Es kam ihm so vor, als hätte er keinen Körper mehr. Er dachte an Noroelle. Daraufhin wollte er Farodin um jeden Preis festhalten und diese Qualen über sich ergehen lassen. Er wusste nicht, ob er selbst noch lebte, und wusste nicht, wie es um Farodin stand. Und er wusste ebenso wenig, wie viel Zeit vergangen war. Es gab nur das Leid, das all seine Sinne ausfüllte. Alles, was ihm blieb, war ein Gedanke: Nicht loslassen!

Plötzlich schreckte Nuramon auf. Der Schmerz zog sich fließend in seine Hände zurück. Ihm war schwindelig, und seine Sinne waren verwirrt. Er hörte eine Stimme seinen Namen sagen. Als er aufblickte, sah er einen Schatten, der mit ihm sprach.

Es dauerte lange, bis er Mandreds Stimme erkannte. »Verdammt! Sag endlich was!«

»Noroelle!« Seine Stimme klang fremd, so als käme sie aus weiter Ferne.

»Komm schon, tu mir das nicht an! Bleib wach!«

Nuramon sah sich neben Farodin kauern. Er berührte ihn immer noch auf der Brust und hielt seine Hand umfangen. Bald spürte er seinen Herzschlag. Sein Atem war zurückgekehrt. Blasser Dunst stand in der eisigen Luft vor seinem Mund.

Nuramon war kalt. Seine Adern schienen zu Eis gefroren zu sein. Würde er sterben, oder kehrte das Leben in ihn zurück? Er wusste es nicht zu sagen.

Schließlich sah er Mandred ins Gesicht. Der Menschensohn betrachtete ihn voller Ehrfurcht. »Du bist ein großer Zaubermeister! Du hast ihn gerettet.« Mandred legte ihm die Hand auf die Schulter.

Nuramon löste die Hände von Farodin und ließ sich zurückfallen. Erschöpft schaute er zur Decke und betrachtete das magische Glitzern hinter dem Eis. Nur langsam fand er zu innerer Ruhe.

Plötzlich merkte Mandred auf. »Hörst du das?«

Nuramon horchte. Am Rande vernahm er ein summendes Geräusch. »Was ist das?«

»Ich weiß nicht.« Der Menschensohn zog die Saufeder aus der Augenhöhle des Devanthars. Der Schaft der Waffe war zersplittert und maß gerade noch eine Armeslänge. »Ich werde nachsehen.«

Nuramon wusste, dass es noch nicht ganz vorüber war. Er musste prüfen, ob Farodin tatsächlich geheilt war. Müde richtete er sich auf und untersuchte ihn. Sein Gefährte schlief ruhig. Die Wunde hatte sich völlig geschlossen. Nuramon konnte spüren, wie Farodins Kraft mit jedem Atemzug wuchs. Es war vollbracht! Er hatte sein Versprechen nicht gebrochen!

Vom Ausgang der Höhle erklang ein schrilles Kreischen, das nicht abreißen wollte. Erschrocken griff Nuramon nach seinem Schwert. Als Mandred herbeigelaufen kam, senkte er die Waffe wieder.

Der Menschensohn schien beunruhigt. »Irgendetwas ist da faul!«

Nuramon stand auf. Ihm war schwindelig. »Was ist?«

»Komm, schau es dir selbst an!«

Er folgte Mandred einige Schritte, dann blickte er zu Farodin zurück. Nur ungern ließ er ihn in der Nähe des toten Devanthars zurück. Doch Mandred war sehr aufgewühlt. So eilte er ihm schließlich nach.

Als er den Ausgang der Höhle erreichte, glaubte Nuramon seinen Augen nicht zu trauen. Da war eine dicke Eiswand, die den Weg aus der Höhle versperrte und den Blick hinaus trübte. Jenseits davon schwoll ein Licht langsam an, dann wieder ab.

»Was ist das, Nuramon?«, fragte Mandred.

»Ich kann es dir nicht sagen.«

»Ich habe versucht, mit der Saufeder ein Loch durch das Eis zu stoßen. Aber da ist nichts zu machen.« Der Menschensohn riss den Speer hoch und stieß die Spitze mit aller Kraft gegen das Eis, an dem sie kreischend abglitt. Mandred fuhr mit der Handfläche über die Wand. »Nicht einmal ein Kratzer.« Er sah Nuramon erwartungsvoll an. »Vielleicht könntest du deine Hände benutzen und …«

»Ich bin ein Heiler, Mandred. Nicht mehr, nicht weniger.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe. Du hast Farodin vom Tod zurückgeholt. Versuch es!«

Nuramon nickte widerstrebend. »Aber nicht jetzt. Ich brauche Ruhe.« Der Elf konnte den Zauber deutlich spüren, der in der Eiswand wirkte. War das die Rache des Devanthars? »Lass uns zurückgehen.«

Mandred fügte sich unwillig. Nuramon folgte ihm und dachte an den Kampf gegen den Devanthar. Sie hatten sich gut geschlagen; der Menschensohn hatte seinem Volk alle Ehre gemacht und die Elfen und Wölfe den Albenkindern. Und doch hätten sie nicht so leicht gewinnen dürfen. Oder waren sie in ihrem Zorn so sehr über sich hinausgewachsen, dass ihre Kraft den Alben gleichgekommen war?

Als sie zum Kampfplatz zurückgekehrt waren, musterte Nuramon den toten Devanthar. Mandred bemerkte es. »Wir haben diese Bestie besiegt. Und die Eismauer werden wir auch durchbrechen!«

Der Menschensohn irrte sich. Doch woher sollte er es auch besser wissen? Der Devanthar war ein Albenfeind. Wenn sie ihren Sieg richtig einschätzen wollten, dann mussten sie sich an den Alben messen und sich fragen, wie ein Alb diese Lage einschätzen würde. Und genau dies machte Nuramon zu schaffen. Ein Alb konnte nur eines annehmen …

»Wir werden erfrieren!«, sagte Mandred und riss Nuramon aus seinen Gedanken. Der Menschensohn saß mit seiner Saufeder bei Farodin. »Du wirst hier keine Ruhe finden, Nuramon.

Wir müssen versuchen, durch diese Eiswand hindurchzukommen, solange du überhaupt noch Kraft hast.«

»Beruhige dich, Mandred! Ich werde mich hier erholen, ebenso wie Farodin. Und dennoch werden wir nicht erfrieren.«

Der Menschensohn machte ein besorgtes Gesicht.

»Das gilt auch für Menschen.« Er setzte sich zu dem Krieger, löste Noroelles Beutel von seinem Gürtel und öffnete ihn. »Hier, nimm eine!« Er hielt Mandred die Maulbeeren hin.

Der Jarl zögerte. »Du willst mit mir teilen, was deine Liebste dir gab?«

Nuramon nickte. Die Beeren besaßen Zaubermacht. Wenn sie einen Elfen sättigten und ihm ein wohliges Gefühl gaben, dann würden sie bei einem Menschen gewiss wahre Wunder wirken. »Wir haben Seite an Seite gekämpft. Betrachte diese Beere als ein erstes Geschenk von Noroelle. Wenn du mit uns zurückkehrst, wird sie dich mit Reichtümern überhäufen. Sie ist sehr freigebig.«

Sie beide nahmen eine Maulbeere. Mandred betrachtete schwermütig Vanna und den toten Wolf. »Gibt es wirklich einen Grund, dies als einen glorreichen Sieg zu betrachten?«

Nuramon senkte den Blick. »Wir haben den Kampf gegen einen Devanthar überlebt. Wer kann das schon von sich behaupten!«

Der Menschensohn machte ein ernstes Gesicht. »Ich! Denn ich habe schon einmal gegen ihn gekämpft. Und ich bin ihm schon einmal entkommen. Aber nicht weil ich so großartig war, sondern weil er es so wollte. Und wenn ich jetzt diesen Kadaver dort sehe, dann kann ich kaum fassen, dass uns das gelungen ist, was sonst nur Alben bestimmt war.«

Nuramon schaute zu dem Devanthar hinüber. »Ich weiß, was du meinst.«

»Die Alben! Für euch sind sie die Väter und Mütter eures Volkes, aber für uns sind sie wie Götter. Nicht unsere Götter, aber ihnen gleich an Macht. Wir nennen sie in einem Atemzug: Götter und Alben!«

»Das verstehe ich.«

»Dann sage mir, wie wir diese Bestie besiegen konnten!«

Nuramon senkte den Blick. »Vielleicht haben wir das nicht. Vielleicht hat er mit uns das getan, was er bereits mit dir getan hat.«

»Aber da liegt er. Wir haben ihn erschlagen!«

»Und doch mag es sein, dass er genau das erreicht hat, was er wollte. Was, wenn meine Kraft nicht ausreicht, um die Mauer zu durchbrechen? Dann müssen wir hier sterben.«

»Aber er hätte uns schon früher erledigen können.«

»Du hast Recht, Mandred. Es geht auch nicht um dich, denn er hätte dich leicht töten können. Es geht um Vanna, Farodin oder mich. Einer von uns soll hier gefangen gehalten werden.«

»Aber du hast mir gesagt, dass die Seelen der Albenkinder zurück in deren Gefilde wandern. Wenn ihr hier sterbt, dann werdet ihr wiedergeboren.«

Nuramon deutete zur Decke. »Schau dir diese Lichter an. Dies ist ein Ort der Macht, den der Devanthar nicht ohne Absicht als Kampfplatz gewählt hat. Es mag sein, dass unsere Seelen niemals einen Ausweg finden. Es mag sein, dass sie hier auf ewig gefangen sind.«

»Aber hatte Vanna nicht von einem Tor gesprochen?«

»Ja. Sie meinte, dass dies ein Ort ähnlich dem Steinkreis bei deinem Dorf ist. Nur ist das Tor hier geschlossen. Und Vanna sagte, dass wir es nicht öffnen können. Vielleicht hat es der Manneber auf immer versiegelt, um uns hier festzuhalten.«

Mandred nickte. »Dann habe ich euch in diese Lage gebracht. Wäre ich nicht in eure Welt gekommen, dann …«

»Nein, Mandred. Wir können unserem Schicksal nicht entkommen.«

»O Luth, wieso musste es hier in deiner Höhle geschehen? Warum webst du deine Fäden zu unserem Leichentuch?«

»Sag das nicht! Nicht einmal zu Wesen, die ich nicht kenne.« Er schaute Farodin an. »Es ist heute nicht das erste Mal, dass wir beide unmögliche Taten vollbracht haben. Wer weiß, vielleicht bezwingen wir diese Wand da draußen ja doch.«

Mandred hielt ihm seine Hand hin. »Freunde?«

Nuramon war erstaunt. Noch nie in seinem Leben hatte jemand um seine Freundschaft gebeten. Er fasste Mandreds Hand und auch die des schlafenden Farodin. Sie beide fühlten sich kalt an. Er würde ihnen Wärme schenken. »Nimm du seine andere Hand«, forderte er Mandred auf.

Der Menschensohn machte ein verwundertes Gesicht. »Ein Zauber?«

»Ja.«

Sie saßen da, und Nuramon tauschte seine Wärme gegen ihre Kälte. Und weil stets neue Wärme in ihm entstand, doch immer weniger Kälte von den beiden Gefährten zu ihm gelangte, kam es bald, dass die Kälte aus den Körpern Mandreds und Farodins schwand.

Der Menschensohn brach nach einer Weile das Schweigen. »Sag, Nuramon, was glaubst du? Auf wen von euch hatte es der Devanthar abgesehen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte der Devanthar Visionen von Dingen, die einst geschehen mögen. Vielleicht wäre aus Vanna eine der großen Zauberinnen geworden. Und Farodin ist ein Held, über den schon manches Epos gedichtet wurde. Wer weiß, was aus ihm werden wird?«

»Hat er wirklich sieben Trolle erschlagen?«

Nuramon zuckte mit den Schultern. »Manche sagen, es wären mehr gewesen.«

»Mehr als sieben!« Ungläubig blickte er zu dem Schlafenden.

»Er ist niemand, der um seine Taten große Worte macht. Und weil er so bescheiden ist, reist er oft als Gesandter in Diensten der Königin.« Nuramon hatte ihn im Stillen darum beneidet, und er hatte nie verstanden, warum es Noroelle nichts zu bedeuten schien.

»Und welchen Grund hätte dieses Vieh gehabt, dich zu töten?«, setzte Mandred nach.

»Wer weiß schon, worin seine Bestimmung lag? Aber jetzt lass uns schweigen und ruhig atmen. Am Ende erfrieren wir doch noch.«

»Gut. Aber zuerst musst du mir noch eins versprechen.«

»Was wäre das?«

»Zu keinem ein Wort davon, dass ich hier mit euch Händchen gehalten habe.«

Nuramon hätte beinahe lauthals gelacht. Menschen waren schon seltsam. »Versprochen.«

»Und ich verspreche dir, dass du immer auf Mandred zählen kannst«, sagte der Menschensohn feierlich.

Sein Gebaren rührte Nuramon. »Danke, Mandred.« Andere Elfen hätten sich wohl nichts aus der Freundschaft eines Menschen gemacht, aber Nuramon bedeutete sie viel. Er überlegte lange und sagte dann: »Ab heute bist du ein Elfenfreund, Mandred Aikhjarto.«

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