Noroelle lief mit dem Kind im Arm durch den Wald. Es war Nacht, und ein leiser Wind wehte zwischen den Bäumen. Ihr Sohn umklammerte ihren kleinen Finger. Er schwieg, als spürte er die Gegenwart der Krieger, die ganz in der Nähe waren und nach ihnen suchten.
Da! Ein junger, rothaariger Elfenkrieger kam direkt auf sie zu. Er trug ein langes Kettenhemd. Der Wind zerrte an seinem grauen Kapuzenmantel. Der Kämpfer sah genau in ihre Richtung. Er hatte schöne, grüne Augen. Verwirrt runzelte er die Stirn. Vielleicht spürte er etwas, doch Noroelle war sich sicher, dass er ihren Blendzauber nicht durchschauen würde. Schließlich ging er weiter, nur um sich nach wenigen Schritten noch einmal abrupt umzudrehen. Er war ihr jetzt so nahe, dass er sie fast mit ausgestrecktem Arm berühren könnte. Und doch sah er sie nicht. Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin. Dann ging er weiter.
Es war leicht für Noroelle, den Bewaffneten auszuweichen. Sie ging mitten durch ihre Reihen, ohne gesehen zu werden. Sie mochten gute Kämpfer und auch Fährtenleser sein, doch Zauberer waren sie nicht. So war es leicht, sie zu täuschen.
Als Noroelle dem Anführer der Schar begegnete, hielt sie inne und musterte ihn. Er trug wie die anderen einen grauen Kapuzenmantel, der sein Gesicht verbarg, aber einen Blick auf die glänzende Rüstung erlaubte.
»Bist du sicher, dass du die Königin richtig verstanden hast?«, fragte der rothaarige Krieger. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
Der Anführer stand reglos und scheinbar unbeeindruckt da. »Wenn du sie in ihrem Zorn gesehen hättest, dann würdest du diese Frage nicht stellen.« Die Stimme kam ihr bekannt vor.
»Aber wieso hat sie uns geschickt? Noroelle ist eine Zauberin, der kaum jemand gleichkommt. Und unter uns ist niemand, der sie hier aufspüren könnte. Wieso hat uns die Königin nicht einen Zauberer mitgegeben?«
»Weil sie wohl nicht damit gerechnet hat, dass Noroelle sich ihrem Willen widersetzen würde. Und das, ohne zu wissen, was unser Auftrag ist.«
»Ich weiß nicht, ob ich diesen Auftrag ausführen kann.«
»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du der Königin den Schwur geleistet hast.«
»Aber ein Kind zu töten!«
Noroelle wich vor den Kriegern zurück. Sie wollte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Hatte sie Emerelle all die Jahre über falsch eingeschätzt? Sie hätte nicht einmal zu denken gewagt, dass die Königin ihre Krieger ausschickte, um ein hilfloses Kind zu töten. Eine Gefangennahme war das Äußerste, womit Noroelle gerechnet hatte. Was war geschehen, dass Emerelle solche Befehle gab? Oder war sie immer schon so gewesen, und sie hatte es nicht gemerkt?
Die Königin hatte nicht nur diesen unerhörten Mordauftrag erteilt, sondern auch ihr Vertrauen in sie verloren. Sie hätte warten können, bis Noroelle mit ihrem Kind im Thronsaal erschien. So hatte Emerelle es gefordert. Noroelle hätte sich auch daran gehalten, wenn die Königin ihr nicht die Krieger ins Haus geschickt hätte.
Nur eines verstand Noroelle nicht: Warum hatte sie nur Schwertträger geschickt? Die Antwort des Anführers war nicht ausreichend. Denn wenn sich Emerelle nicht vorstellen konnte, dass Noroelle sich ihrem Befehl widersetzte, wieso hatte sie dann die Krieger ausgeschickt? Da steckte mehr dahinter. Was es auch war, Noroelle wusste nun, was sie zu tun hatte.
Niemals würde sie ihren Sohn der Königin und ihren Häschern überlassen. Sie würde das Kind in Sicherheit bringen. Es gab nur einen Ort, an dem Emerelle das Kind nicht ohne weiteres aufspüren konnte: die Menschenwelt.
Noroelle verließ den Wald und ging langsam über die weiten Wiesen. Sie dachte an Farodin und Nuramon. Seit die beiden vor einem Jahr ausgezogen waren, um in der Menschenwelt eine Bestie zu jagen, war ihr Leben nicht mehr das gleiche gewesen. Ein Wolf der Gemeinschaft war verletzt an den Hof der Königin gekommen, ein stummer Bote eines grausigen Schicksals. Kurz darauf waren auch die Pferde ihrer Liebsten zurückgekehrt.
Damals hatte Noroelle an ihren Traum denken müssen. Die Körper ihrer Liebsten waren nie gefunden worden. Jene, die nach ihnen gesucht hatten, wussten zu berichten, dass das Dorf des Menschensohns Mandred unversehrt war. Hätte sie nicht diesen Traum von Nuramon geträumt und ihren Sohn bekommen, sie hätte nicht geglaubt, dass ihre Liebsten tot waren.
Noroelle ging die ganze Nacht über das Land und wurde von niemandem gesehen. Als die Morgensonne über den Bergen aufging, erreichte sie ein einsames Tal. Sie trug ihren Sohn in einem über Kreuz geschlagenen Tuch eng an den Leib gewickelt. Er hatte sich die ganze Zeit über ruhig verhalten und sogar ein wenig geschlafen. »Du bist ein gutes Kind«, sagte sie leise und strich ihm über den Kopf. Dann setzte sie sich ins Gras und gab dem Kind die Brust. Als es gesättigt war, legte sie es neben sich und betrachtete es. Es würde ein schmerzvoller Abschied werden. Aber es war der einzige Weg, ihren Sohn zu retten.
Noroelle erhob sich. Die Andere Welt! Sie würde die Grenzen überschreiten. Sie wusste zwar viel von den Albenpfaden, die durch die drei Welten führten und sie miteinander verbanden, aber sie hatte dieses Wissen nie angewendet. Die festen Tore, wie jenes, durch das ihre Liebsten gegangen waren, waren kein Weg für sie. Dort hatte Emerelle sicher längst Wachen stehen, und es wäre auch zu leicht, dem Weg zu folgen, den sie genommen hatte, wenn sie ein solches Tor für ihre Flucht wählte. An Orten großer Macht, so wie bei dem Steinkreis Atta Aikhjartos, kreuzten sich bis zu sieben jener unsichtbaren Wege, die alle Welten durch magische Bande miteinander verwoben. Durchschritt man ein solches Tor von großer Macht, so gelangte man stets zum gleichen Ort. Je weniger Albenpfade sich aber kreuzten, desto wandelbarer wurde das Tor in die Andere Welt. Wenn man an solchen kleinen Albensternen den Übergang wagte, konnte niemand sagen, wohin es ihn in der Menschenwelt verschlagen mochte. Und jene, die über keine große Zauberkraft verfügten, mochten sogar ein Opfer der Zeit werden. Noroelle wusste, dass sie sich hüten musste, damit es nicht auch ihr so erging. Ein Fehler, und mit dem Schritt durch ein Tor konnten zugleich hundert Jahre vergehen.
Zudem musste sie darauf achten, dass sie einen Pfad nahm, der in die Menschenwelt führte. Die Zerbrochene Welt war nicht ihr Ziel, denn diese war nichts weiter als die Ruine einer Welt, Reste des Schlachtfeldes, auf dem die Alben gegen ihre Feinde gekämpft hatten. Dieser trostlose Ort zwischen Albenmark und der Anderen Welt bestand nur mehr aus öden Inseln, umgeben von Leere. Diese Inseln dienten heute als Verbannungsorte, oder sie waren Heimstätten für Einsiedler und Eigenbrötler. In ein solches Gefängnis würde sie ihren Sohn nicht bringen. Deshalb war sie in dieses Tal gekommen.
Noroelle spürte einen Albenstern aus zwei sich kreuzenden Pfaden. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Kraft. Falls es Emerelle gelingen sollte, ihrer Fährte bis an diesen Ort zu folgen, so war es unmöglich, sie in der Anderen Welt aufzuspüren, dachte Noroelle. Sie könnte hundert Mal durch diesen Stern gehen und würde hundert Mal an einem anderen Ort in die Menschenwelt eintreten, denn das Band zwischen den Welten war hier nur schwach. Die Fauneneiche hatte ihr erzählt, dass das Band mit jedem Herzschlag einmal zerriss, um sich dann aufs Neue mit einem anderen Ort zu verbinden. Ihrer Ansicht nach wies dieser Umstand darauf hin, dass das Gefüge zwischen der Welt der Menschen und Albenmark vor langer Zeit einmal so sehr erschüttert worden war, dass die beiden Welten sich beinahe voneinander getrennt hätten.
Noroelle schaute in die Sonne. Sie würde ihr die Kraft spenden. Es würde nicht die Magie des Wassers, die Magie ihres Sees sein, sondern die des Lichtes, die ihr half, das Tor zu öffnen. Sie dachte an das Licht, das bis auf den Grund ihres Sees drang. Sie dachte an den Zauber, und die Veränderung nahm ihren Lauf. Es gab kein Zurück mehr.
Die Sonne schrumpfte und schrumpfte. Noroelle sah sich um. Alles veränderte sich. Die Farben wurden trüber, alles erschien rau und unscharf. Bäume verblassten und wurden durch neue, schattenhafte Stämme ersetzt. Aus Frühling wurde Winter, aus einer Herbstwiese ein verschneites Feld. Die Berge wichen sanften Hügeln. Bald war jede Ähnlichkeit verschwunden.
Dies also war die Andere Welt!
Es war ein unheimlicher Ort. Noroelle fragte sich, wie Nuramon diese Gefilde wohl wahrgenommen hatte, als er sie zum ersten Mal betreten hatte. Gewiss war er so erstaunt gewesen, wie sie es nun war.
Es war zwar Winter, aber ihre Magie spendete Noroelle Wärme. Sie konnte barfuß über den Schnee gehen, ohne dass ihr kalt wurde. Ihr Sohn aber würde hier ohne ihre Wärme nach kurzer Zeit erfrieren. So suchte sie nach Menschen.
Auf ihrem Weg sah sie nicht ein einziges Tier. Der Winter hier schien kein Leben zuzulassen. Lange irrte sie durch die verschneite Ödnis, bis sie Hasenfährten fand. Der Anblick beruhigte sie, und sie setzte ihren Weg fort. Denn wo es Leben gab, da gab es Hoffnung für ihren Sohn.
Sie suchte lange nach den Menschen und sah schließlich eine dünne Rauchsäule hinter einem Hügelkamm aufsteigen. Sie folgte diesem Zeichen und fand ein Haus, wie es schlichter nicht sein konnte. Zumindest erschien es ihr so. Sie musste sich eingestehen, keine Erfahrung mit Menschenhäusern zu haben. Das Gebäude war klein und aus Holz. Seine Balken hatten sich verzogen, und es hatte ein windschiefes Dach.
Langsam näherte sich Noroelle der Hütte. Mit jedem Schritt fürchtete sie, dass plötzlich ein Mensch die Tür öffnen und heraustreten könnte. Sie wusste nicht, ob der Zauber, der sie auch jetzt noch unsichtbar machte, Menschenaugen zu täuschen vermochte. Sie musste hier auf alles gefasst sein.
Als sie an der Tür angekommen war, lauschte sie und hörte, wie Möbel über hölzerne Dielen bewegt wurden. Eine helle Stimme sang eine fröhliche Weise. Der Gesang klang fremd, aber der Ton gefiel ihr.
Noroelle küsste ihren Sohn und flüsterte leise: »Nuramon … Ich hoffe, ich tue das Richtige. Es ist die einzige Möglichkeit. Lebe wohl, mein Sohn.« Sie löste den Säugling aus der Unsichtbarkeit und legte ihn vor der Tür ab. Das Kind blieb ruhig und schaute sie mit seinen großen Augen unentwegt an.
Erst als Noroelle sich abwandte und die ersten Schritte von ihm fort machte, begann es zu schreien. Ihr kamen die Tränen. Aber sie musste gehen! Es war zu seinem Wohl.
Noroelle versteckte sich hinter einem nahen Baum. Das Kind schrie so herzerweichend, dass sie für einen Moment überlegte, es zu holen und für immer mit ihm in dieser Welt zu bleiben. Aber die Königin würde sie aufspüren. Noroelle wusste, dass sie Magie wirken müsste, wenn sie in der Welt der Menschen bestehen wollte. Doch jeder Zauber ließ die Albenpfade schwingen. Und so würde sie die Häscher der Königin schon bald auf sich aufmerksam machen. Ihr Sohn hingegen war noch zu klein, um jene Macht zu nutzen, die Noroelle in ihm gespürt hatte. Und da es in der Menschenwelt keinen Lehrmeister für ihn gäbe, würde seine Gabe wahrscheinlich niemals erwachen. So würde er vor dem Zorn der Königin bewahrt bleiben.
Aus ihrem Versteck heraus sah Noroelle, wie die Tür des Hauses geöffnet wurde und jemand heraustrat. Es war eine Menschenfrau. Neugierig und zugleich beklommen betrachtete die Elfe jenes Weib, das dem kleinen Nuramon zu einer neuen Mutter werden mochte. Die Frau trug zwar dicke Kleidung, aber dennoch machte sie den Eindruck, als hätte sie selbst nackt noch sehr breite Hüften und Schultern. Noroelle musste an Mandred denken. Offenbar war es eine Eigenart der Menschen, von stämmiger Gestalt zu sein.
Die Menschentochter machte ein verwundertes Gesicht und blickte sich misstrauisch um. Gewiss fragte sie sich, wer ihr ein Kind vor die Türe legte und dann spurlos verschwand. Zögernd beugte sie sich über Noroelles Sohn. Das Gesicht der Frau wirkte herb. Sie hatte eine Knollennase und kleine Augen. Doch als sie sich zu dem Kind beugte, lächelte sie, und man sah, wie sich die Wärme ihres Herzens in ihrem Antlitz spiegelte. Die Menschentochter tröstete das Kind in einer Sprache, die Noroelle nicht beherrschte. Aber die Worte klangen so liebevoll, dass sie das Kind beruhigten. Die Frau schaute sich noch einmal suchend um, dann brachte sie den Jungen ins Haus.
Kaum hatte sich die Tür geschlossen, huschte Noroelle zum Haus zurück und lauschte. Sie wollte sicher sein, sich in der Frau nicht geirrt zu haben, auch wenn ihr bewusst war, dass sie nicht lange genug bleiben konnte, um wirklich Gewissheit zu erlangen.
Noroelle hörte die Frau in heller Freude sprechen.
Es gab auch einen Mann. Er schien weniger erfreut zu sein. Seine Stimme war voller Zweifel. Aber nach einer Weile schien er seine Meinung zu ändern. Auch wenn die Worte der Menschen in Noroelles Ohren grobschlächtig klangen, hatte sie das Gefühl, dass ihr Kind hier sicher war. Nun musste sie nur noch dafür sorgen, dass die Königin ihren Sohn nicht fand.
Sie zog sich in den Schutz der Bäume zurück. Eigentlich hatte sie vorgehabt, zu jenem Ort zurückzukehren, an dem sie in die Andere Welt gekommen war. Nun aber entschied sie sich dagegen. Sie wollte es der Königin so schwer wie möglich machen. Sie würde einen Tag und eine Nacht lang so weit wie möglich von dieser windschiefen Hütte fortgehen und erst dann mit Hilfe ihres Sonnenzaubers nach Albenmark hinübertreten. Dort würde sie auf den Albenpfaden den kürzesten Weg ins Herzland nehmen und sich der Königin stellen.