Eichentrunk

Der Frühling war ins Land gezogen, und die Fauneneiche hatte sich in frisches Grün gekleidet. »Ich habe euch alles gelehrt, was ihr von mir zu lernen vermögt.« Farodin vernahm ihre Stimme in seinen Gedanken. Trotz all der Übungsstunden hatte er sich nie daran gewöhnen können, etwas Fremdes in sich zu spüren.

Die Bedeutung, die hinter ihren Worten lag, war ihm keinesfalls entgangen. So sehr er den Zauber des Suchens über die Jahrhunderte vervollkommnet hatte, so bescheiden waren seine Fähigkeiten, wenn es um andere Magie ging. Er hatte zwar gelernt, wie auf einem Albenstern ein Tor zu öffnen war und auch, wie man die verborgenen Pfade beschreiten konnte, doch Nuramon übertraf ihn mit seinen Fertigkeiten bei weitem.

Nun war die Zeit gekommen, Abschied von der Eiche zu nehmen. An seiner Seite standen Nuramon und Ejedin, der sie, wann immer es ihm möglich gewesen war, zur Fauneneiche begleitet hatte.

»Seid vorsichtig und erinnert euch daran, was ich euch gesagt habe!«, ermahnte sie der Baum. »Öffnet kein Tor ohne Not, durchbrecht verschlossene Tore und Barrieren nur, wenn ihr euch sicher seid, dass sich jenseits davon etwas befindet. Wenn ihr beim Zaubern einen Fehler macht, dann werdet ihr aus dem Gefüge der Zeit gerückt, sobald ihr ein Tor durchschreitet. Je weniger Pfade sich in einem Stern treffen, desto schwieriger ist der Zauber zu wirken. Und was den Menschensohn angeht, so überlegt euch gut, ob ihr ihm die Gefahr zumuten wollt. Nicht einmal ich kann sagen, wie die Magie der Albensterne sich auf ihn auswirken wird. Für euch geht es um Noroelle. Doch ist er wirklich bereit, das gleiche Wagnis einzugehen? Manchmal ist es besser, einen Freund zurückzulassen, um ihn zu schützen.«

»Nein, alles, nur das nicht!«, stöhnte Ejedin. »Wenn er länger bei Hof bleibt, dann kehre ich nach Dailos zurück.«

»Was hat er angestellt?«, fragte Farodin überrascht. Mandred hatte sich den Winter über zurückgezogen, da die Fauneneiche ihn nicht in ihrer Nähe duldete. Der Jarl war viel herumgereist, und sie beide hatten kaum Gelegenheit gehabt, sich um ihn zu kümmern.

»Fragt lieber, was er nicht angestellt hat. Seit er die beiden Kentauren kennen gelernt hat, ist es zum Verzweifeln. Vorgestern erst sind seine Freunde mitten in der Nacht sturzbetrunken in die Ställe gekommen und haben versucht, unaussprechliche Dinge mit den Stuten zu treiben. Mandred hat sie dabei noch angefeuert.«

Farodin und Nuramon sahen einander betroffen an. »Und dann?«

»Es gab eine gewaltige Schlägerei mit den Palastwachen. Mandred hat eine Nacht im Kerker verbracht, und die beiden Kentauren wurden aus dem Herzland verwiesen. Gestern früh musste ich miterleben, wie er seine Stute vor einen Karren voller Amphoren mit Wein aus Alvemer spannte. Eine Stute aus den Ställen der Königin als Karrenpferd! Man stelle sich das vor!«

»Weißt du, wohin er wollte?«, fragte Farodin.

»Ich glaube, er hatte vor, das Herzland zu verlassen.« Der Faun schnaubte verächtlich. »Aber vermutlich wird er zurückkommen, wenn ihm der Wein ausgeht.«

Die Fauneneiche ergriff noch einmal das Wort. »Die Menschen sind ein eigenartiges Volk. Doch nun zu euch. Bevor ihr geht, möchte ich die Steine sehen, die Noroelle euch hinterlassen hat. Ich spüre ihre Präsenz seit dem Tag, da ich euch als meine Schüler annahm.«

Farodin holte den Smaragd aus einem Lederbeutel an seinem Gürtel. Er sah, wie Nuramon eine Kette vom Hals nahm, deren Anhänger ein Almandin war. Beide hielten sie ihren Edelstein der Eiche entgegen.

»Behütet diese Schätze gut. Sie mögen euch eines Tages von Nutzen sein. Ich kann euch nichts lehren, was euch helfen könnte, ihre Magie zu enträtseln, doch bedenkt immer, dass in ihnen die Macht Noroelles wohnt. Es mag sein, dass ihr euch einst der Kraft dieser Edelsteine bedienen werdet … Und nun, meine Schüler, geht! Denn der Frühling ist da, und ich will meine Entscheidung treffen. Die Bohrkäfer müssen meine Rinde verlassen. Noch heute Nacht, wenn die Faune und Silene um mich herumtanzen und vielleicht auch die Auenfeen singen, werde ich sie fortschicken. Ihr aber solltet nicht länger meine Nähe suchen …« Mit diesen Worten hüllte sich die Fauneneiche in Schweigen.

Farodin und Nuramon verabschiedeten sich von Ejedin und machten sich auf die Suche nach Mandred. Nach Ejedins Bericht hatten sie eine Vorstellung, wo sie ihn finden würden.

Sie überquerten die Shalyn Falah, und am frühen Abend erreichten sie den Steinkreis, in dessen Nähe Atta Aikhjarto stand. Schon von weitem hatten sie den Karren gesehen. Mandreds Stute weidete friedlich bei dem zerstörten Wachturm. Dort lagerte auch eine Gruppe junger Krieger, die Nuramon und Farodin aufmerksam beobachteten.

Die beiden stiegen ab und gingen Atta Aikhjarto entgegen. Auf der Wiese roch es nach Wein und feuchtem Lehm. Immer wieder schaute Farodin zurück. Er bildete sich ein, die Blicke der Wachen zu spüren.

»Siehst du das da vorne?«, fragte Nuramon. Das Wurzelwerk der Eiche wand sich wie hölzerne Schlangen durch das Gras. In einer Mulde im lehmigen Boden hatte sich eine dunkelrote Pfütze gesammelt.

Farodin kniete nieder, tauchte einen Finger in das Nass und roch daran. »Wein! Er muss völlig betrunken sein, um so etwas zu tun.«

Nuramon grinste breit. »Nur ein Mensch kann wohl auf die Idee kommen, einen Baum mit Wein zu begießen. Was Atta Aikhjarto wohl dazu sagt?«

Farodin erwartete nicht, die mächtige, beseelte Eiche überhaupt sprechen zu hören. Das einzige Geräusch, das den Frieden des Frühlingsabends störte, war ein sägendes Schnarchen. Nach all den Jahren an der Seite des Menschensohns war es Farodin nur allzu vertraut.

Die Elfen stiegen über die Scherben von Amphoren hinweg und über Weinpfützen auf dem glitschigen Boden. Die Zweige der Eiche hingen ungewöhnlich tief und formten eine weite Laube um den Stamm. Farodin bog das Geäst auseinander und hielt mitten in der Bewegung inne. Die Adern auf den zarten, hellgrünen Blättern hoben sich dunkel hervor.

Nuramon, der seine Verwunderung bemerkt hatte, zog einen Ast zu sich und hielt die Blätter gegen das Licht der schwindenden Sonne. »Der Wein … Es sieht aus, als wäre er bis in die Adern der Blätter gezogen.«

Ob Mandred wohl sein Ziel erreicht hatte? So oft hatte er davon gesprochen, dass er sich mit Atta Aikhjarto betrinken wollte, um gebührend zu feiern, dass die alte Eiche ihm das Leben gerettet hatte. Konnte man etwa eine Eiche betrunken machen? Zweifelnd sah Farodin zu den Blättern auf.

»Spürst du das?« Nuramon sah sich verwundert um.

Farodin hörte ein Wispern in den Blättern, so als striche ein leichter Wind durch das Geäst. Sonst war da nichts.

»Der Baum. Atta Aikhjarto singt. Es ist in mir.« Nuramon blieb stehen und griff sich ans Herz. »Es ist … außergewöhnlich! Noch nie habe ich so etwas gehört.«

Farodin schob die Äste auseinander. Er hörte nichts dergleichen, nur Mandreds Schnarchen. Der Menschensohn lag an den Stamm gelehnt. Sein Bart war von Erbrochenem besudelt. Rings um ihn lagen noch mehr Scherben. Er schien jede Amphore zerschlagen zu haben, nachdem er sie geleert hatte. Welch sinnlose Zerstörung!

Nuramon kniete neben Mandred nieder und schüttelte ihn sacht an der Schulter. Ihr Gefährte gurgelte im Schlaf, lallte etwas, war aber nicht zu wecken.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir ihn hier zurücklassen«, sagte Farodin. »Für ihn und für uns.«

»Das ist nicht dein Ernst!«, entgegnete Nuramon scharf.

»Bist du blind? Er tut das hier aus Verzweiflung. Er kommt in dieser Welt nicht zurecht. Wir müssen ihn mitnehmen. Albenmark ist nicht für ihn geschaffen.«

»Jawoll, ich komme mit …«, lallte Mandred. Der Menschensohn versuchte sich aufzurichten, sackte aber sofort wieder in sich zusammen. »Ich komme mit.« Er rülpste. »Bringt mir ein Pferd!«

»Ihr alle kommt mit!«, erklang eine Frauenstimme. Die Zweige wurden auseinander gebogen, und eine Kriegerin im langen Kettenhemd trat in die Laube. Sie hatte zwei Kurzschwerter um die Hüften geschnallt. Yilvina!

»Versucht nicht zu fliehen!«, sagte die junge Elfe entschieden und ließ ihre Rechte auf einen der Schwertgriffe sinken. »Ihr seid umstellt. Ich befehlige die Wache hier am Tor. Soeben erhielt ich den Befehl, euch zur Königin zu bringen. Sie ist zur Jagd im Alten Wald und wünscht, dass ihr sie begleitet.«

Farodin spannte sich. »Und du würdest dein Schwert gegen uns ziehen, obwohl wir drei Jahre miteinander geritten sind?«

Yilvina hielt seinem Blick stand. »Zwinge mich nicht dazu. Der Befehl der Königin ist eindeutig. Und ich erhielt die Warnung, dass ihr versuchen würdet, durch das Tor zu entkommen.«

Farodin griff nach seinem Waffengurt. »Ich soll also mein Schwert niederlegen.«

»Nein, du Dickkopf. Ich soll euch nicht in einen Kerker bringen, sondern nur zur Königin eskortieren. Glaubst du, ich fühle mich wohl dabei?«

Nuramon legte Farodin sanft die Hand auf den Arm. »Lass es gut sein. Wir fügen uns.«

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