Der junge König von Firnstayn hatte sich als großzügig erwiesen. Er hatte Nuramons Schiff, die Albenstern, ausrüsten lassen, denn den Gefährten war von Anfang an klar gewesen, dass Farodins Boot zu klein und zerbrechlich für die Reise war, die vor ihnen lag. Auch König Neltor war sich dessen bewusst, dennoch bestand er darauf, dass seine Leibwache, die Mandriden, sie begleiteten. Und er gab ihnen eine schwere Truhe mit Silber mit auf den Weg, sodass sie in fernen Häfen ihre Vorräte ergänzen konnten.
Farodin hatte die Reise mit großen Zweifeln angetreten. Nuramon setzte große Hoffnungen in das Bild, das er gemalt hatte, und er wollte nichts davon hören, wie lange man suchen mochte, um die Insel zu finden. Wie reiste man zu einem Ort, von dem man nicht wusste, wo er lag? Vor der Mannschaft hatten sie ihre Ungewissheit verborgen. Was hätten die Menschen wohl dazu gesagt? Selbst Mandred, der sie nun seit so vielen Jahren kannte, war unruhig. Er sorgte sich um seine Mandriden und hatte Angst, sie könnten alte Männer sein, bevor die Suche zu Ende war.
Farodin hatte sich Nuramons Bild der Insel sehr genau eingeprägt. Täglich versuchte er mit seinem Zauber diesen Ort aufzuspüren. Doch es war anders als mit den Sandkörnern; diese fand er, oder fand sie nicht. Wenn er nach der Landschaft auf dem Bild suchte, überkam ihn das vage Gefühl, sie müssten sich nach Osten wenden. Aber reichte ein Gefühl, noch dazu ein so vages?
Sie mieden die Gewässer der Trolle und folgten wochenlang der zerklüfteten Küste von Skoltan.
Es war an einem Sommermorgen, und sie lagerten an einem Strand unterhalb von weißgrauen Kreidefelsen. Farodin hatte sich von den anderen abgesondert. Wie immer verwendete er den ersten Suchzauber darauf, einen Hinweis auf die Landschaft des Bildes zu finden. Er suchte nach mehr als einem vagen Gefühl. Er wollte _wissen_, in welche Himmelsrichtung sie sich wenden sollten, nicht nur _ahnen_.
Dann wirkte er den Suchzauber ein zweites Mal. Jetzt hielt er die Silberflasche mit dem Sand fest in Händen, und er suchte nach den Sandkörnern aus dem zerschlagenen Stundenglas. Ein Stück weit ins Land hinein erspürte er ein einzelnes Sandkorn. Er konzentrierte sich und ließ dann die Macht des Sandes fließen. Wie ein Magnet einen Eisenspan anzieht, so holte der Sand in der Flasche ein einzelnes Korn heran.
Farodin streckte die Hand aus, und bald fühlte er eine hauchzarte Berührung. Zufrieden fügte der Elf das Korn dem Sand in der Flasche hinzu. Es war nur ein winziger Schritt. Doch jeder dieser Schritte brachte ihn ein kleines Stück näher zu Noroelle.
Sorgfältig verschloss er die Silberflasche. Dann wirkte Farodin ein drittes Mal den Suchzauber. Er schloss die Augen und dachte an das Meer. Er konnte zwar auch Sandkörner aufspüren, die tief im Wasser lagen, doch fiel es ihm schwer, sie zu sich heranzuziehen. Die stetige Bewegung des Wassers hielt sie zurück. Ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit genügte, und er verlor die Verbindung zu ihnen. Am besten war es, sich ihnen so weit zu nähern wie möglich. In einem Boot hinauszufahren und sie zu erhaschen, sobald sie an die Oberfläche kamen.
Das Meer bereitete ihm Sorge. Wie viele Sandkörner mochte es verschlungen haben? Sandkörner, die er vielleicht niemals finden würde! Und wie viele Sandkörner durften im Stundenglas fehlen, wenn sie versuchten, den Zauber der Königin zu brechen?
Farodin verdrängte die Gedanken und konzentrierte sich wieder ganz auf seinen Zauber. Er fühlte einzelne Körner im Schlick des Ozeans und … Ein Schauer überlief ihn. Da war etwas Fremdes. Die Silberflasche in seiner Hand hatte sich bewegt. Es gab etwas, das sie anzog. Farodin war so überrascht, dass er den Faden verlor und den Zauber aufgeben musste. Was war geschehen?
Lange saß er am Strand und blickte hinaus aufs Meer. Was mochte die Ursache für das seltsame Phänomen gewesen sein? Gab es vielleicht einen Ort, an dem mehr Sandkörner beieinander waren, als er in all den Jahren gesammelt hatte? Kam dafür nicht einzig jener Fels in Frage, an dem Emerelle das Stundenglas zerschlagen hatte? Oder gab es noch jemanden, der die Sandkörner sammelte? Jemanden, der viel erfolgreicher war als er? Gab es eine Möglichkeit, diesen Verdacht auszuschließen? Vielleicht sollte er versuchen, Nuramons Gemälde in den Suchzauber nach den Sandkörnern mit einzubinden. Noch einmal schloss er die Augen und konzentrierte sich. Wieder spürte er den Sog nach Nordosten. Sogar deutlicher als zuvor. In seinen Gedanken formte sich ein Bild. Er sah den Stein, auf dem Emerelle das Stundenglas zerschlagen hatte. Und was bewies das? Konnte es nicht trotzdem sein, dass ein anderer Sammler existierte? Vielleicht war er an diesem Ort und wartete auf sie. Farodin wies den Gedanken von sich. Die unentwegte Suche ließ ihn wohl langsam verrückt werden. Es gab auch eine viel einfachere Erklärung. An welchem Ort sollten mehr Sandkörner sein als an jenem, an dem Emerelle das Stundenglas zerschlagen hatte? Er musste den Ort erspürt haben, an dem der Übergang zu Noroelles Gefängnis in der Zerbrochenen Welt lag. Er entschied, seinen Gefährten nicht alles zu sagen. Warum sollte er sie mit seinen womöglich unbegründeten Ängsten quälen? Er ging hinab ins Lager und berichtete, dass sie von nun an nach Nordosten segeln müssten, auf das offene Meer hinaus.
So tapfer die Mandriden auch waren, nachdem sie drei Wochen lang keine Küste mehr gesehen hatten, ergriff sie Unruhe. Selbst Mandred, dessen Mut außer Frage stand, offenbarte ihnen eines Morgens seine Sorge, man könne den Rand der Welt erreichen und in das Nichts stürzen, wenn man nicht bald den Kurs änderte.
Es war Nuramon mit seiner Seidenzunge, der immer wieder die Unruhe der Menschen zerstreute. Sie vertrauten ihm. So geschickt vermochte er seine Worte zu setzen, dass sie bald sogar mit ihm lachten, wenn er zu ihnen sprach. Doch er konnte nicht wegreden, dass das Wasser in ihren Fässern längst so schal war, dass es Überwindung kostete, davon zu trinken. Auch die übrigen Vorräte gingen zur Neige. Doch sie wären bald am Ziel. Farodin musste jetzt die Silberflasche fest umklammert halten, damit sie ihm nicht aus der Hand gezogen wurde, wenn er den Suchzauber wirkte.
Am siebenunddreißigsten Tag ihrer Reise erreichten sie Land. Sie mussten das Ufer anlaufen und verloren zwei Tage, denn die Mandriden hielt nichts mehr an Bord der _Albenstern_. Sie suchten nach Wasser und gingen auf die Jagd. Auch Farodin genoss es, endlich wieder frisches Quellwasser zu kosten. Doch es fiel ihm schwer, Ruhe zu bewahren, denn er wusste, wie nah sie ihrem Ziel waren.
Nachdem die Vorräte aufgefrischt waren und die Mandriden sich erholt hatten, führte Farodin sie nach Norden die Küste entlang. Die bedrückenden Tage auf hoher See waren vergessen. Fast herrschte wieder dieselbe euphorische Stimmung unter den Menschen, mit der sie die Reise an der Seite ihres berühmten Ahnherrn begonnen hatten. Selbst die Menschenkinder schienen zu spüren, wie nahe sie dem Ziel gekommen waren.
Am neununddreißigsten Tag ihrer Reise wich das Ufer weit nach Osten zurück, und sie erreichten eine weite Bucht. Frischer Wind füllte ihr Segel, und sie machten gute Fahrt, als Nuramon plötzlich einen schrillen Schrei ausstieß. »Die Berge! Siehst du die Berge!«
Auch Farodin erkannte einen der Berge von Nuramons Bild. Alles schien zu stimmen. Die Bäume, die an den Ufern wuchsen, die Farbe der Berge in der Ferne. Obwohl sie gute Fahrt machten, sprangen die Mandriden auf die Ruderbänke und legten sich nach Kräften in die Riemen, um das Schiff noch schneller voranzutreiben.
Farodin und Mandred standen aufgeregt am Bug. Frischer Wind spielte mit Farodins langem Haar. Tränen standen ihm in den Augen, und er schämte sich ihrer nicht.
»Spürst du das?«, fragte Nuramon. Er deutete über eine Landzunge hinaus, die sich weit in die Bucht schob. »Es gibt hier viele Albenpfade. Sie alle streben einem Punkt zu, der dort jenseits des Waldes liegen muss.«
Als sie endlich die Landzunge umschifften, stieß Nuramon einen weiteren Freudenschrei aus. Wie ein Besessener tanzte er auf dem Deck des Schiffes. Die Mandriden lachten und machten ein paar derbe Späße. Sie konnten nicht ermessen, was dieser Augenblick für die beiden Elfen bedeutete, dachte Farodin. Er konnte seiner Freude nicht so freien Lauf lassen wie sein Kamerad, sein Glück war stumm, und doch war er gewiss nicht weniger aufgewühlt. Vor ihnen lag eine kleine, waldbestandene Insel mit felsigem Ufer. Es war die Insel von Nuramons Bild.
Die Mandriden legten sich noch einmal mit aller Kraft in die Ruder. Wie ein Eistaucher schoss das Schiff mit dem großen blauen Segel über das Wasser dahin. Doch dann mussten sie den Kurs ändern. Graue Riffe wühlten das Wasser vor ihnen auf. Sie waren keine hundert Schritt mehr vom Ufer entfernt. Doch hier gab es keinen Landeplatz. Sie würden die Nordspitze des kleinen Eilands umrunden und auf der abgewandten Seite nach sicherem Fahrwasser suchen müssen.
Farodin blickte Nuramon an. Sein Gefährte verstand ihn, ohne dass sie ein Wort wechseln mussten, und grinste schelmisch. Dann sprangen sie gemeinsam über Bord. Das Wasser reichte ihnen bis zur Brust. Halb schwimmend, halb watend näherten sie sich dem Ufer, während das Schiff sich weiter nach Norden hielt, um die Insel zu umrunden.
Deutlich spürte nun auch Farodin die Kraftlinien der Albenpfade, die einem Stern entgegenstrebten. Sie bewegten sich nach Süden an der Insel entlang in das überflutete Watt hinein. Bald standen sie auf dem Knotenpunkt der Pfade. Bei Flut war er im Wasser verborgen, doch man musste ihn nicht sehen, um seine Kraft zu fühlen. Alles ringsherum stimmte mit Nuramons Bild überein. Es konnte keinen Zweifel geben. Sie hatten den Ort gefunden, an dem Emerelle ihre Liebste in die Zerbrochene Welt verbannt hatte.
Aufgewühlt von einem seltenen Glücksgefühl, schloss Farodin seinen Gefährten in die Arme. Ihre Suche war endlich zu Ende! Nun würde alles gut!