Die Nachtzinne

Da war es wieder, das metallische Scharren. Mandred musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, welchen Ursprung dieses Geräusch hatte. Farodin stand im Heck. Die Ruderpinne unter die rechte Achsel geklemmt, hatte er einen Dolch gezogen und schärfte die Klinge. Seitdem sie Firnstayn verlassen hatten, hatte er das wohl zwei Dutzend Mal getan. Das Geräusch zerrte an Mandreds Nerven. Es war ein knirschendes, anklagendes Geräusch. Eines, das den Tod versprach.

Ragna hatte Recht gehabt. Das Land im hohen Norden war nicht für Menschen gemacht. Hier gehörten Elfen, Trolle und Geister her, aber er war hier fehl am Platz!

Die Leinen ihres kleinen Bootes waren von Eis überkrustet. Das steif gefrorene Segel knarrte, wenn sich der Wind darin verfing. Sieben Tage waren sie dem Verlauf der Küste nach Norden gefolgt. Sehnsüchtig dachte Mandred an die Tage auf der _Purpurwind_ in der Aegilischen See. An die Wärme und daran, wie er sich mittags unter dem Sonnensegel ausgestreckt hatte, um zu dösen.

Er blickte voraus in das Zwielicht der Winternacht und hielt Ausschau nach Eisbergen. Stumm und drohend zogen die weißen Giganten nach Süden. Farodin hatte ihn vor allem vor den kleineren Eisbrocken gewarnt, die fast ganz im Wasser verborgen den Rumpf des kleinen Schiffes beschädigen mochten. Mandreds Gedanken schweiften ab. Er war müde und dachte an Firnstayn. Dort hatten die Frauen sicher schon mit den Vorbereitungen für das Mittwinterfest begonnen. Gänse wurden gemästet, damit sie auf die letzten Tage noch etwas Fett zulegten. Met wurde in großen Wannen angesetzt, und der Duft von Honigküchlein hing gewiss über der ganzen Stadt.

Der Jarl streifte einen seiner Fäustlinge ab und griff in das Fass mit dem Pottwaltran. Ganz zäh war er in der Kälte geworden. Er klaubte einen Klumpen heraus und hielt ihn eine Weile in der Hand, damit er schmolz. Dann trug er den Tran auf sein Gesicht auf und wischte sich die Finger an der schweren Robbenfelljacke ab. Verfluchte Kälte!

Erbarmungslos trieb Farodin das Boot voran. Nur selten ankerten sie im Windschatten von Klippen oder einer geschützten Bucht, um ein paar Stunden zu schlafen. Der Elf schien eins mit dem Eis geworden zu sein, das sie umgab. Wie erstarrt stand er an der Ruderpinne, den Blick in die Ferne gerichtet. Den Dolch hatte er wohl in dem Bündel verstaut, das hinter ihm im Heck lag. Manchmal fragte sich Mandred, ob es tatsächlich dieselbe Waffe war, die Farodin schärfte. Es passte nicht zu dem Elfen, sinnlos immer wieder dasselbe zu tun. Vielleicht spiegelte sich darin aber auch seine Unruhe, die er sonst sehr wohl zu verbergen verstand.

Mandred blickte auf und betrachtete den Himmel, um sich vom fruchtlosen Grübeln zu befreien. Sie waren so weit im Norden, dass die Sonne sich nicht mehr zeigte. Dafür zog grünes Feenlicht von Horizont zu Horizont. Wie Bahnen gefalteten Stoffs wogte es zu ihren Häuptern. Mandred hatte nicht viel zu tun. Farodin hätte das Boot auch allein steuern können.

Oft saß der Jarl stundenlang im Bug und sah dem Licht am Himmel zu. Es tröstete ihn in dieser Einöde aus aufgewühlter See und schwarzen Klippen. Der Wind biss ihm bis in die Knochen, wenn er so dasaß und träumte.

Turmhohe Gletscher erhoben sich über die Küste. Einmal sah Mandred von fern, wie eine Lawine von Eis in die See stürzte und das Wasser aufwühlte. Ein andermal glaubte er eine Seeschlange zu sehen.

Am neunten Tag ihrer Reise wurde Farodin unruhig. Sie waren in einen Fjord eingelaufen. Graue Nebelfinger krochen ihnen über das Wasser entgegen. Mandred stand am Bug und sollte nach verborgenen Riffen Ausschau halten. Das Wasser war ruhig. Bald hatte der Nebel sie verschlungen. Ganz nah war das leise Geräusch der Brandung zu hören.

Farodin schien schon einmal hier gewesen zu sein. Er wusste um die Untiefen, noch bevor Mandred ihm eine Warnung zurief.

Ein riesiger Schatten ragte vor ihnen aus dem Dunst. Erst hielt Mandred es für eine Klippe, dann sah er ein mattes Licht. Ranziger Geruch hing in der Luft. Der Nebel war jetzt ganz warm. Er kondensierte auf Mandreds Bart.

Plötzlich zerriss eine heisere Stimme die Stille. Sie war tief, wie das Brummen eines zornigen Bären. Farodin gab ihm ein Zeichen, sich nicht zu bewegen, und legte einen Finger auf die Lippen. Dann antwortete er im selben Tonfall in einer kehligen Sprache, wie Mandred sie noch nie gehört hatte.

Ein knapper Gruß wurde zurückgerufen. Dann verschwand der Schatten. Farodin verharrte in angespanntem Schweigen. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Der Nebel nahm Mandred jedes Zeitgefühl. Endlich nickte der Elf ihm zu. »Bald erreichen wir die Nachtzinne. Es gibt warme Quellen hier im Fjord. Sie halten ihn den ganzen Winter über eisfrei. Sie sind auch schuld am Nebel, der die Trollburg verbirgt. Du weißt, wie du dich zu verhalten hast?«

Mandred nickte. Das, was auf der Nachtzinne geschehen sollte, war das einzige Gesprächsthema gewesen, das Farodin während der Reise geduldet hatte. Was allerdings nicht hieß, dass sie über die Pläne des Elfen diskutiert hätten. Doch er traute seinem Gefährten. Farodin wusste schon, was er tat!

Unwillkürlich hatte der Jarl eine Hand auf die Axt in seinem Gürtel gelegt. Er dachte an Farodins Ratschläge für den Kampf gegen Trolle und an die Geschichten, die er in seiner Kindheit gehört hatte. Trolle jagte man in Gruppen, so wie Höhlenbären. Ein Mann allein konnte nicht gegen sie bestehen. Doch dann dachte er an seinen Sohn. Alfadas war den Elfen im dritten Trollkrieg zu Hilfe geeilt. In vielen blutigen Schlachten hatte er gegen diese Ungeheuer gesiegt. Aber zuletzt war er doch von ihnen getötet worden, ermahnte sich Mandred. Er strich über sein Axtblatt. Ein Grund mehr, hierher zu kommen!

Der Nebel teilte sich. Vor ihnen erhoben sich zerklüftete Klippen. Farodin deutete auf einen Felsen, der vage an einen Wolfskopf erinnerte. »Dort gibt es eine Höhle, die man vom Fjord her nicht einsehen kann. Das letzte Mal habe ich dort mein Boot versteckt.«

»Du warst also schon einmal hier.«

Der Elf nickte. »Vor mehr als vierhundert Jahren habe ich schon einmal die Nachtzinne besucht. Damals habe ich den Herzog der Trolle getötet, ihren Kriegsherrn, der die Heere der Trolle bei den Feldzügen in Albenmark anführte.«

Das war Farodin! Sein Wissen erst im letzten Augenblick weitergeben! »Das hättest du mir wirklich früher sagen können!«, brummte Mandred.

»Warum? Hätte es etwas an deiner Entscheidung geändert?«

»Nein, aber ich …«

»Dann war es also unnötig, dass du es wusstest. Es gibt übrigens doch eine Änderung in unserem Plan. Du wirst allein zur Nachtzinne gehen.«

Mandred klappte der Kiefer herunter. »Was!«

»Mich würden sie niemals in ihre Feste lassen. Weißt du, wie sie mich nennen? Tod in der Nacht. Sie werden mich umbringen, sobald sie mich sehen. Du siehst also, es ist unumgänglich, dass du allein losziehst. Ich werde einen anderen Weg in die Burg finden. Als vermeintlicher Gesandter stehst du hingegen unter Gastrecht. Sie können dir nichts tun, solange du das Gastrecht nicht verletzt. Sie werden allerdings versuchen, dich dazu zu verleiten. Dem musst du widerstehen, ganz gleich, was sie tun!«

»Und warum sollten sie mich als Gesandten empfangen? Einen Menschen! Sie fressen meinesgleichen!«

Farodin kniete nieder und öffnete das Bündel, das er im Heck verwahrt hatte. Er zeigte Mandred einen Eichenzweig, der in feines Leinen eingeschlagen war. »Deshalb werden sie dich empfangen. Dies ist der Zweig eines Seelenbaumes. Nur Boten der Königin tragen dieses Zeichen. Sie sind unberührbar.«

Verwundert nahm Mandred den Zweig entgegen und schlug ihn wieder in das Tuch ein. »Der ist doch echt, oder? Woher hast du ihn?«

Farodin war die Frage offensichtlich unangenehm. »Er ist aus einer Eichel Atta Aikhjartos erwachsen. Ich hoffe, du verzeihst mir meine Tat. Wir brauchen ihn.«

»Du hast ihn von der Eiche über Freyas Grab geschnitten?«

»Sie hat es mir erlaubt. Sie weiß, wofür wir den Ast brauchen.«

Mandred fragte sich, ob Farodin die Eiche oder Freyas Geist meinte. Seine Hände fingen an zu zittern. Er klemmte sie unter die Achseln. Farodin musste das Zittern bemerkt haben. »Verdammt kalt«, murrte der Jarl. Er wollte nicht wie ein Feigling dastehen.

»Ja.« Farodin nickte. »Sogar mir ist es kalt. Denk an Yilvina. Sie und die anderen sind es wert, was wir wagen.«

Das Boot umrundete einen Felsen, der hoch wie ein Turm aus dem Fjord ragte. Sie steuerten jetzt geradewegs dem Steilufer entgegen. Der Elf manövrierte geschickt zwischen den Klippen hindurch. Dann legten sie den Mast nieder. Mandred griff nach den Rudern und stemmte sich gegen die Kraft der Gezeiten. Dicht vor ihnen, zwischen den Felsen verborgen, öffnete sich ein flacher Höhleneingang.

»Man kann die Höhle nur bei Ebbe finden!«, rief Farodin gegen das Fauchen der Gischt an. »Schon bei mittlerer Flut liegt der Eingang unter dem Wasser verborgen.«

Bei dem Gedanken, sich in eine Höhle zu begeben, die bei Flut offenbar unter Wasser stand, zog sich Mandred der Magen zusammen. Farodin weiß schon, was er tut, ermahnte er sich erneut in Gedanken. Doch diesmal half es nicht, seine Unruhe zu besiegen.

Sie mussten die Köpfe einziehen, so niedrig war der Höhleneingang. Ein Sog packte das Boot und zerrte es voran. Augenblicklich befanden sie sich in völliger Finsternis. Die Bordwand schrammte an unsichtbaren Felsen vorbei. Mandred schrie auf.

Endlich kamen sie in ruhigeres Fahrwasser. Farodin entzündete eine Laterne und hielt sie hoch über den Kopf. Umgeben von einer kleinen Insel von Licht glitten sie voran. Mandred stemmte sich in die Riemen und blickte ab und an über die Schulter. Ein Stück voraus kam ein breiter Kiesstreifen in Sicht. Knirschend schob sich das Boot auf das Ufer.

Sie sprangen von Bord und zogen ihren zerbrechlichen Segler bis weit über die Flutmarke das Ufer hinauf. Staunend sah Mandred sich um. Die Höhle war viel größer, als er zunächst angenommen hatte.

Farodin trat an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. Wohlige Wärme durchrieselte ihn. »Ich danke dir dafür, dass du mit mir gekommen bist, Menschensohn. Allein würde ich diesmal nicht bestehen können.«

Mandred zweifelte daran, dass er eine große Hilfe sein würde. Es kostete ihn all seine Kraft, die Angst in seinem Innern zu beherrschen. Das war Farodin gewiss nicht verborgen geblieben.

Der Elf führte ihn über ein Felssims am Wasser entlang zu einem versteckten Ausgang. Sie balancierten über glatte, eisverkrustete Felsen, bis sie schließlich einen Strand erreichten. Nun war die Zeit des Abschieds gekommen. Einen Moment standen sie einander stumm gegenüber. Dann packte Farodin Mandreds Handgelenk im Kriegergruß. Es war das erste Mal, dass sein Gefährte sich auf diese Weise von ihm verabschiedete. Die Geste sagte mehr als alle Worte.

Mit federnden Schritten eilte Farodin über den Strand davon und verschwand im Nebel. Er hinterließ nur flache Spuren im Schnee, die der Wind bald verwehte. Mandred wandte sich ab und hielt sich dicht am Wasser. Die vereisten Steine knirschten unter seinen Schritten. Dort, wo die Brandung über den grauen Kies spülte, lag kein Schnee. Hier würde auch er keine verräterischen Spuren hinterlassen.

Wohl eine Stunde lief er den Strand entlang, bis der Nebel von einem Augenblick zum anderen verschwand. Ohne Deckung konnte ihn keine Wache übersehen. Er hatte auch das Gefühl, beobachtet zu werden, doch niemand zeigte sich. Mandred wich einen Schritt zurück und drehte sich um. Ihm war, als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten. Hinter ihm griffen lange Nebelfinger von der See her über den Kies. Vor ihm aber war die Nacht klar.

Das Feenlicht glitt ungewöhnlich tief über den Himmel. Vor Mandred erhob sich eine schroffe Felszinne, aus der ein riesiger Turm wuchs. Matt schimmerte gelbes Licht hinter trüben Fenstern. Die Nachtzinne sah ganz anders aus, als er sich ein Bauwerk von Trollen vorgestellt hatte, fast wie eine etwas gröbere, dunkle Variante von Emerelles Elfenburg. Flankiert von Pfeilern und Stützbogen, ragte der Turm weit hinauf in den Himmel und berührte das Feenlicht. Das Bauwerk musste hunderte Fenster haben. An einigen Stellen wuchsen Pfeiler wie riesige Dornen aus dem Mauerwerk. Ohne Zweifel war die Nachtzinne ein meisterliches Bauwerk, doch hatte der Baumeister seine ganze Kunstfertigkeit darauf verwendet, sie düster und bedrohlich wirken zu lassen.

Mandred schlug den Eichenzweig aus dem Leintuch und hielt ihn wie einen Schild vor der Brust. Er dachte an Luth, den Schicksalsgott, und daran, dass es niemanden geben würde, der sein Heldenlied sang, wenn er in dieser Nacht starb. Hätte er auf Ragna hören sollen? Die Nacht mit ihr war ganz anders gewesen als all die Abenteuer in den Hurenhäusern. Sie liebte ihn wirklich. Ihn, ihren Urahnen! Nein, aus dieser Liebe könnte niemals etwas werden. Obwohl zwischen ihm und ihr so viele Generationen lagen, fühlte er sich beim Gedanken an jene Nacht unwohl. Es war gut, dass er mit Farodin gezogen war.

»Was macht ein Menschensohn im Schatten der Nachtzinne?«, erklang plötzlich eine tiefe Stimme. Unter einem Felsüberhang vielleicht zwanzig Schritt entfernt trat eine hünenhafte Gestalt hervor. Sie maß mehr als eineinhalb Mannlängen und hatte ein Ehrfurcht gebietend breites Kreuz. Selbst die Unterarme des Trolls, der trotz der Kälte nur ein Fell um die Lenden trug, waren mächtiger als Mandreds Oberschenkel. Das Gesicht seines Gegenübers konnte Mandred in dem kalten Feenlicht nicht deutlich erkennen. Überhaupt haftete der ganzen Gestalt etwas Unbeständiges, Schattenhaftes an. »Was willst du hier?«, fragte der Wächter mit schwerem Akzent in der Sprache der Fjordlande.

»Ich bin ein Gesandter von Emerelle, der Königin der Elfen.« Der Jarl hielt den Eichenzweig hoch. »Und ich fordere die Gastfreundschaft von Orgrim, dem Herzog der Nachtzinne.«

Ein glucksender Laut erklang. »Du forderst?« Der Troll beugte sich vor und nahm den Zweig. Einen Moment verharrte er und schnupperte. »Du riechst tatsächlich nach Elf, Menschlein.« Vorsichtig strichen die knotigen Hände über den Zweig. Er blickte hinaus auf die dunkle See. »Wie bist du hierher gelangt?«

Mandred blickte auf. Noch immer konnte er das Gesicht seines Gegenübers nicht deutlich erkennen. Der Jarl wünschte sich, er wüsste mehr über die Trolle. In den Geschichten, die er in seiner Kindheit über sie gehört hatte, galten sie nicht gerade als klug. Ob er eine Lüge durchschauen würde? »Weißt du, was die Albenpfade sind?«

Der Troll nickte.

»Ich bin über die Albenpfade gewandert. Ein Elf hat mir ein niederes Tor geöffnet, nicht weit von hier am Strand. So bin ich ins Herz des Trollreichs gelangt.« Mandred war zufrieden mit seiner Lüge. Sie erklärte, warum Späher ihn nicht schon früher entdeckt hatten.

»So«, war alles, was der Troll dazu sagte. Unvermittelt drehte er sich um. »Folge mir!«

Der Troll brachte Mandred zu einem felsumsäumten Hafen am Fuß der Nachtzinne. Dort lagen riesige dunkle Schiffe vertäut. Sie sahen aus wie Festungen, die man das Schwimmen gelehrt hatte. Von der Hafenmole führte ein Weg die Klippe hinauf. Er mündete in einem weiten Tunnel, den Barinsteine spärlich beleuchteten.

Immer wieder passierten sie Wächter – finstere Gestalten, die sich auf schwere Knüppel und manngroße Steinäxte stützten. Keiner richtete eine Frage an sie. Mandred hatte das Gefühl, dass sein Führer großes Ansehen genoss. Jetzt im Licht der Barinsteine konnte er ihn besser erkennen. Seine Haut war von einem dunklen Grau mit hellen Einsprengseln, was sie ein wenig wie Granit aussehen ließ. Der Troll hatte eine fliehende Stirn, und sein Unterkiefer war vorgeschoben. Merkwürdig waren seine Augen. Sie glühten bernsteinfarben, so wie bei Xern, dem ersten Albenkind, dem er begegnet war. Die Arme des Trolls passten nicht zu den Maßen des Körpers, sie erschienen Mandred zu lang. Knotige Muskelstränge legten Zeugnis von ihrer Stärke ab. Im Kampf musste ein Troll ein schrecklicher Gegner sein.

Endlich erreichten die beiden eine weite Halle. Hier waren wohl an die hundert Trolle versammelt. Manche tranken oder spielten mit Knochenwürfeln, andere hatten sich an Feuerstellen ausgestreckt und schliefen. Es stank bestialisch nach altem Fett, säuerlichem Erbrochenen und vergossenem Bier. Der Ort war mehr eine Höhle denn eine Festhalle, dachte Mandred. Entlang der Wände standen grob gezimmerte Tische und Bänke, doch die meisten Trolle schienen lieber auf dem Boden zu hocken. Sie alle waren erschreckend groß. Sein Führer vom Strand war keinesfalls ein Hüne unter seinesgleichen. Mandred schätzte, dass die Größten hier im Saal fast vier Schritt vom Scheitel bis zur Sohle maßen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er, dass keiner von ihnen Haare hatte. Viele schmückten ihre grobschlächtigen Gesichter und kahlen Schädel mit verschlungenen Mustern aus Ziernarben.

Unruhe erhob sich, als die Hünen Mandred gewahrten. Bellende Rufe erklangen. Sein Wächter hielt den Zweig hoch und brüllte auf; seine Stimme übertönte alle anderen. Daraufhin wurde es ein wenig ruhiger. Doch in den bernsteinfarbenen Augen der Trolle las Mandred unverhohlenen Hass.

In der Ferne erklang der Ruf eines Horns. Der Jarl musste an Farodin denken. Hatten die Trolle ihn am Ende aufgespürt?

Breitbeinig ließ sich sein Führer auf einer der Bänke nieder und grinste ihn frech an. »Sag, was du uns zu sagen hast, Menschlein.«

»Verzeih, aber ich werde nur mit Herzog Orgrim sprechen«, beharrte der Jarl und sah sich um in der Hoffnung, vielleicht irgendwo einen Troll mit goldenen Armreifen und schweren Silberketten zu sehen. Daran erkannten die Sagenhelden stets die Fürsten des großen Volkes. Doch hier trug keiner solchen Schmuck.

Sein Führer rief etwas in den Saal. Darauf erhob sich ringsherum lautes Grunzen. Mandred brauchte einige Augenblicke, bis er begriff, dass dies Gelächter sein musste.

»Was ist so komisch?«, fragte er kühl.

Sein Führer zupfte an seiner Unterlippe und sah ihn eindringlich an. »Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr?«, fragte er schließlich mit seinem schweren Akzent.

»Was?«

»Ich bin Orgrim, der Herzog der Nachtzinne.«

Mandred sah sein Gegenüber skeptisch an. Trieb der Kerl Scherze mit ihm? Er unterschied sich durch nichts von den anderen Trollen rings herum. Wenn er allerdings tatsächlich der Herzog war und er ihm nun nicht antwortete, dann beleidigte er ihn. Gab er hingegen nur vor, der Anführer der Trolle zu sein, und Mandred enthüllte ihm die falsche Botschaft, dann konnte man ihm – zumindest nach menschlichen Maßstäben – nicht vorwerfen, sich gegenüber seinem Gastgeber unhöflich verhalten zu haben.

»Königin Emerelle wünscht Auskunft darüber zu erhalten, ob sich noch Elfen in Gefangenschaft befinden.«

Orgrim rief etwas in die Runde. Es kam Mandred so vor, als grinsten einige der Trolle gehässig. Dann klatschte der Herzog in die Hände und gab einen Befehl.

»Man wird uns Speis und Trank bringen«, sagte Orgrim förmlich. »Es soll nicht heißen, ich hätte einem Gast nicht das Beste aufgetischt, was die Vorratskammern der Nachtzinne zu bieten haben.«

Zwei armlange Trinkhörner wurden herangeschafft. Orgrim setzte seines an die Lippen und leerte es in einem Zug. Dann blickte er erwartungsvoll zu Mandred.

Der Jarl hatte schon Mühe, sein Horn nur zu heben. Er durfte sich auf keinen Fall betrinken! Nicht in dieser Nacht! Doch wenn er gar nichts trank, dann beleidigte er seinen Gastgeber. So nahm er einen Schluck und ließ einen guten Teil des klebrigen Mets in seinen Bart laufen.

Orgrim lachte laut. »Bei uns trinken ja selbst Kinder mehr als du, Menschlein.«

Mandred setzte sein Horn ab. »Wenn ich mich hier so umsehe, dann kommt es mir so vor, dass bei euch die Kinder vielleicht schon mit meiner Statur auf die Welt kommen.«

Der Herzog schlug ihm auf die Schulter, worauf Mandred fast von der Bank gestürzt wäre. »Gut gesprochen, Menschlein. Unsere Neugeborenen sind wahrlich nicht solche zarten rosa Würmchen wie eure Kinder.«

»Um noch einmal auf die Frage der Elfenkönigin zu kommen …«

»Es gibt hier keine Elfen in Gefangenschaft.« Wieder zupfte der Herzog an seiner Unterlippe. »Wer behauptet so etwas denn?«

»Eine Elfe, die hier in Gefangenschaft war«, entgegnete Mandred knapp.

Der Trollfürst stützte das Kinn auf beide Hände und sah ihn nachdenklich an. »Welch ein verwirrtes Wesen muss das nur sein? Der Krieg ist lange vorbei. Alle Gefangenen sind ausgetauscht.« Wäre nicht der wuchtige Unterkiefer mit den vorstehenden Hauern gewesen, wäre Orgrim wohl ein gewinnendes Lächeln geglückt. So aber schnitt er eine Furcht einflößende Grimasse. »Ich hoffe doch sehr, dass Emerelle das Gerede nicht ernst genommen hat.«

Mandred war zutiefst verunsichert. Hätte ihm ein anderer als Farodin von Shalawyns Gefangenschaft berichtet, er hätte Orgrim wohl geglaubt. Der Herzog war völlig anders, als er sich einen Troll vorgestellt hatte. In den Geschichten waren sie dumme, grobschlächtige Menschenfresser, die man leicht an der Nase herumführen konnte. Auf Orgrim traf nichts von alledem zu. Im Gegenteil! Mandred hatte das Gefühl, dass der Herzog mit ihm sein Spiel trieb.

Ein altes Trollweib ließ sich am anderen Ende der Tafel nieder. Sie hatte eine flache Holzschale mit Suppe mitgebracht und einen großen, krumm geschnittenen Löffel. Ihr derbes Kleid war mit hunderten von Flicken besetzt, von denen keine zwei aus dem gleichen Stoff waren. Ein milchiger Film überzog ihre Augen. Sie blinzelte angestrengt, wann immer sie von ihrer Schüssel aufblickte. Um den faltigen Hals hatte sie etliche Lederriemen mit Glücksbringern gehängt: kleine Figuren, die aus Knochen geschnitzt waren, steinerne Ringe, Federn, einen vertrockneten Vogelkopf und etwas, das aussah wie ein halber Rabenflügel.

»Wer ist das?«, fragte Mandred flüsternd seinen Gastgeber.

»Sie heißt Skanga und ist so alt wie unser Volk.« In Orgrims Stimme lag Respekt, ja vielleicht sogar ein wenig Angst. Er sprach sehr leise. »Sie ist eine machtvolle Schamanin, die mit den Geistern spricht und Stürme besänftigen oder herbeirufen kann.«

Verstohlen blickte Mandred zu dem alten Weib. Ob sie in seinen Gedanken lesen konnte? Dann war es besser, an harmlose Dinge zu denken! »Nach dem langen Weg durch die Wildnis bin ich halb verhungert. Ich könnte glatt der Alten ihre Schüssel klauen!«

Wortreich entschuldigte sich der Herzog dafür, dass es mit dem Essen etwas länger dauerte. Es sollte erst noch geschlachtet werden, damit das Fleisch ganz frisch auf die Tafel kam. Orgrim erzählte, dass Schwein viel zarter schmeckte, wenn man die Tiere vor dem Schlachten ein wenig weich klopfte. Das Geheimnis war angeblich, das Tier niederzuschlagen, bevor es ahnte, dass es getötet werden sollte. Orgrim behauptete, dass Angst üble Säfte hervorrief, die das Fleisch verdarben. Mandred hatte von derlei Dingen noch nie gehört, doch der Herzog klang recht überzeugend.

Während sie warteten, verkürzte Orgrim ihm die Zeit, indem er von der Jagd auf Pottwale erzählte. Er schmeichelte Mandred auch, indem er die Kühnheit der Menschen lobte, die im letzten Krieg an der Seite der Elfen gestritten hatten. Besonders hob er die Taten des Heldenkönigs Alfadas hervor.

Mandred lächelte still in sich hinein. Was Orgrim wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass er neben dem Vater von Alfadas saß? Nun, er würde es ihm nicht verraten. Schwermütiger Stolz ergriff ihn, als der Herzog von den Schlachten erzählte, in denen sein Sohn gekämpft hatte.

Endlich wurde den beiden aufgetragen. Ein aufgedunsener, speckwangiger Troll brachte zwei große Holzplatten herein. Auf ihnen lag duftender Braten, garniert mit goldbraunen Zwiebelringen. Das größere der beiden Bratenstücke hätte ohne Mühe ausgereicht, drei ausgehungerte Männer satt zu machen. Der kleinere Braten mochte vielleicht zwei Pfund wiegen, schätzte Mandred.

»Als Gast steht dir die Wahl zu.« Orgrim wies auf die Holzbretter. »Welchen der beiden Braten möchtest du?«

Der Jarl dachte an Farodins warnende Worte. Wenn er das größere Stück nahm und nur einen kleinen Teil davon aß, mochten die Trolle das als Beleidigung auffassen. »In Anbetracht meiner Statur wäre es mehr als vermessen, nach dem größeren Stück zu fragen«, sagte Mandred gestelzt. Der Bratenduft ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. »Ich wähle deshalb das kleinere Stück.«

»So sei es.« Der Trollfürst nickte dem fetten Koch zu, und dieser setzte die schweren Holzplatten vor ihnen auf den Tisch.

Orgrim aß mit den Fingern. Ohne Mühe zerrupfte er das Fleisch und schob es sich in großen Stücken in den Schlund. Dazu wurde ihnen frisch gebackenes Brot aufgetragen, das sie in die Soße tunkten.

Mandred zog das Messer aus seinem Gürtel und zerteilte den Braten in sechs dicke Scheiben. Als er das Fleisch anschnitt, quoll dunkles Blut in die schwere Zwiebelsoße. Der Braten war köstlich. Er hatte eine gute Kruste, war im Innern aber noch zart und blutig. Begierig aß Mandred. In den langen Tagen auf dem Boot hatte es nichts Warmes mehr zu essen gegeben. Der Bratensaft troff ihm von den Mundwinkeln, während er kaute. Genüsslich tupfte er mit dem frischen Brot Soße und Zwiebeln auf. Dazu trank er den schweren Met. Orgrim verstand sich wahrlich darauf, seine Gäste zu verwöhnen.

Die übrigen Trolle verhielten sich allerdings merkwürdig. Im Laufe des Festmahls wurden sie immer stiller. Einige brieten ihrerseits Fleisch auf langen hölzernen Spießen. Die meisten jedoch starrten einfach nur zu Mandred. Ob sie ihn wohl um sein köstliches Mahl beneideten? Langsam fühlte er sich unter ihren drängenden Blicken unwohl.

Mit einem stattlichen Rülpser beendete Mandred sein Mahl. Er hatte nicht alles Fleisch essen können. Er saß vornübergebeugt auf der Holzbank und stöhnte leise.

»Darf ich dir noch etwas anbieten?«, fragte Orgrim höflich. »In Honig eingelegte Apfelstücke vielleicht? Köstlich, sage ich dir. Wirklich köstlich! Scandrag, mein Koch, ist ein wahrer Künstler.«

Mandred strich sich über den Bauch. »Bitte verzeih mir. Wie sagtest du gleich? Ich bin nur ein Menschlein. Ich kann nicht mehr.«

Orgrim klatschte in die Hände. Wenig später erschien der Troll, der ihnen aufgetragen hatte, mit einer zweiten, großen Holzplatte. Darauf ruhten zwei umgestülpte Körbe. Die Platte war dunkel von geronnenem Blut.

»Bei uns ist es Sitte, dem, was man gegessen hat, ins Auge zu blicken. Ein Brauch der Jäger, wenn du so willst.« Orgrim schnippte mit den Fingern, und der Troll stellte die Platte auf einen benachbarten Tisch. Dann hob er den größeren der beiden Körbe. Darunter lag ein Wildschweinkopf mit weit klaffendem Maul. Seine Hauer waren lang wie Dolche, so wie beim Manneber. Es musste ein außergewöhnlich großes Tier gewesen sein.

Der Herzog beglückwünschte seinen Koch zu dem vorzüglich zubereiteten Mahl. Dann hob dieser den zweiten Korb. Darunter lag der Kopf einer Frau mit kurzem blondem Haar.

Ihre Stirn war aufgeplatzt, die linke Augenbraue völlig zerschunden. Spitze Ohren stachen durch das kurze Haar. Ihre Haut war so blass, wie Mandred es noch nie bei einer Elfe gesehen hatte. Fast sah sie aus wie frisch gefallener Schnee.

Ungläubig starrte Mandred in das Gesicht. Die Verletzungen waren offenbar durch einen Knüppelhieb hervorgerufen worden. Der Jarl kannte diese Elfe so gut wie seinen eigenen Sohn. Drei Jahre waren sie Seite an Seite geritten. Yilvina! Sein Magen zog sich zusammen und bäumte sich ruckartig auf.

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