Schweigend ritten sie durch den nächtlichen Wald. Ein lauer Herbstwind pflückte die letzten Blätter von den Ästen. Nie zuvor hatte Mandred so deutlich die Magie Albenmarks gespürt. Der Mond stand tief am Himmel und war viel größer als in der Welt der Menschen. Er schimmerte rötlich in dieser Nacht. Es ist Blut auf dem Mond, hatte er die Elfen flüstern hören, und dass dies eine Warnung vor kommendem Unheil sei.
Das Unheimlichste in dieser Nacht jedoch war das Licht. Es ähnelte ein wenig dem Feenlicht, das er in klaren Winternächten manchmal über Firnstayn gesehen hatte. Dieses Licht aber war silbern. Und es zog nicht hoch über den Himmel, sondern es lag zwischen den Bäumen rings um sie herum, wie Schleier aus einem Stoff, den man aus Mondlicht gewoben hatte. Ab und an tanzten helle Funken zwischen dem Geäst. Sie waren wie Sterne, die vom Nachthimmel hinabgestiegen waren.
Diesmal hatte sie ihr Weg nicht zu Emerelles Burg geführt, und sie waren auch nicht über die Shalyn Falah, die Weiße Brücke, gegangen. Nuramon hatte ihm erklärt, dass die Elfen am letzten Herbstabend das Fest der Silbernacht feierten. Sie trafen sich auf einer Lichtung inmitten des Alten Waldes. Von diesem Ort aus hatten die Alben einst die Welt verlassen. In dieser einen Nacht vermochte Emerelle einen Zauber zu weben, der sie die Stimmen der Ahnen hören ließ – jener Elfen, die ins Mondlicht gegangen waren.
Die Gefährten waren schon Stunden durch den Wald geritten, und Mandred schätzte, dass Mitternacht nicht mehr fern sein konnte, als sie leise Musik vernahmen. Zunächst war es nur eine Ahnung, eine kaum wahrnehmbare Veränderung in den Klängen des Waldes. Der Ruf der Käuzchen und das Rascheln von Mäusen im trockenen Laub verblassten mehr und mehr, als in der Ferne das Lied einer Flöte erklang. Mandred meinte einen bocksbeinigen Kerl im Schatten der Bäume zu sehen, der auf einer Hirtenflöte spielte und dazu tanzte.
Dann mischten sich weitere Klänge zum Lied der Flöte. Klänge, denen der Menschensohn keine Instrumente zuzuordnen vermochte.
Die Elfen waren unruhig, fast wie Kinder, die auf die Leckereien warteten, die es im Fjordland zum Apfelfest gab.
Zwischen den Schattenrissen der Bäume leuchtete jetzt ein rotes Licht. Eine riesige Laterne … Nein, ein Zelt, in dem Licht brannte. Der Wald öffnete sich, und Mandred war wie gebannt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sie hatten eine weite Lichtung erreicht, in deren Mitte sich ein großer Hügel erhob, aus dem eine steile Felsnadel erwuchs. Von unten betrachtet schien es, als reichte sie bis zur Mondscheibe hinauf. Den Fuß des Felsens hätten wohl fünfzig Männer mit ausgebreiteten Armen nicht zu umspannen vermocht. Tausende Lichter umtanzten den zerklüfteten Stein zum Klang der Musik.
Um den Hügel herum standen dutzende Menhire, gleich kleineren Brüdern der Felsnadel. Überall zwischen ihnen bewegten sich Elfen, die einen ausgelassenen Reigen tanzten. Auf der ganzen Lichtung erstreckte sich ein Lager. Wie riesige, bunte Laternen leuchteten die Zelte in der Nacht. So viele waren es, dass nicht nur Emerelles Hofstaat zu diesem Fest gekommen sein konnte.
Plötzlich änderte sich der Rhythmus der Musik, und Mandred sah, wie sich eine einzelne Gestalt aus dem Reigen der tanzenden Elfen löste. In gleißendes Licht gehüllt, schwebte sie zur Spitze der Felsnadel und grüßte mit weit ausgebreiteten Armen den Mond.
Wie zur Antwort auf den Gruß quoll fließendes Licht aus der Felsnadel hervor, umhüllte bald den ganzen Hügel und ergoss sich schließlich über die Lichtung. Es griff auch nach den Gefährten. Mandred hielt erschrocken den Atem an. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er ein ähnliches Licht gesehen, als er an einem Sommernachmittag im klaren Wasser des Fjords getaucht war. Deutlich erinnerte er sich daran, wie er aus der Tiefe hinauf zur Sonne geblickt hatte und wie das Wasser ihre Strahlen verändert hatte.
Noch immer wagte er nicht zu atmen. Ein Schwindelgefühl ergriff ihn. Das Licht schien durch ihn hindurchzufließen und ihn mit sich zu tragen.
Mandred hörte Stimmen.
»Nein, es geht ihm gut.«
Blinzelnd sah sich der Menschensohn um. Er lag im hohen Gras. »Was ist mit mir?«
»Du bist plötzlich vom Pferd gefallen«, antwortete Nuramon. »Aber es scheint, als hättest du dich nicht verletzt.«
»Wo ist das Licht?« Mandred versuchte sich aufzurichten. Er lag neben einem roten Zelt; das wunderbare Licht aber, das aus dem Felsen geströmt war, war verschwunden.
Nuramon half ihm auf.
»Du bist der erste Menschensohn, der dem Fest der Silbernacht beiwohnt«, sagte Ollowain streng. »Ich hoffe, du weißt diese besondere Gunst zu schätzen.«
»Schwertmeister?« Zwei Elfen in schimmernder Rüstung traten an sie heran. »Die Königin wünscht dich allein zu sehen.«
Farodin und Nuramon sahen einander erstaunt an.
»Sind wir in Ungnade gefallen?«, fragte Mandred trocken.
»Es steht uns nicht zu, die Befehle der Königin zu deuten.« Ohne ein weiteres Wort entfernten sich die Elfenkrieger mit Ollowain.
»Wurde er eingeladen oder abgeführt?«, fragte Yilvina verwundert.
»Meinst du, Emerelle weiß, wie spät er uns in Aniscans zu Hilfe kam?«, fragte Mandred.
»Ich glaube, sie will sein Wort vor unserem hören«, erwiderte Farodin. Diesmal tauschte er mit Nuramon einen besorgten Blick.
Der Mond war zum Horizont gewandert, als die Wachen zurückkehrten. Über eine Stunde hatte man sie mit ihren Zweifeln allein gelassen, während die übrigen Albenkinder im Lager ein ausgelassenes Fest feierten. Sie folgten den beiden Kriegern zum safranfarbenen Zelt der Königin. Es war größer als ein Langhaus, dachte Mandred neidisch.
Als er nach seinen Gefährten eintreten wollte, kreuzten die Wachen vor ihm die Speere. »Verzeih uns, Menschensohn«, sagte einer von ihnen. »In dieser Nacht ist es dir nicht erlaubt, die Königin zu sehen. Allein diesem Fest beizuwohnen ist mehr Ehre, als je einem anderen Menschen zuteil wurde.«
Mandred wollte zu einer bissigen Antwort ansetzen, als er aus dem Zelt deutlich die Stimme der Königin vernahm. Ihr Schatten war durch das Zelttuch zu sehen. Sie schien ihm größer als im Thronsaal, doch das musste wohl am Licht liegen. »Ich freue mich, euch wohlbehalten zu sehen.«
»Meine Königin, dein Wunsch ist erfüllt. Der Sohn Noroelles ist tot.«
»Du weißt sehr wohl, was mein Wunsch war und dass er nicht erfüllt wurde. Guillaume starb nicht durch deine Hände und ebenso wenig durch die deiner Gefährten. Also sage mir nicht, mein Wunsch wäre erfüllt!« Die Stimme der Elfenkönigin war so kalt wie Mondlicht. Nie zuvor hatte Mandred sie so reden hören. »Ihr könnt weder ermessen, wie sehr ihr mich enttäuscht habt, noch wie groß der Schaden ist, der aus euren Taten erwachsen wird. Es ging nicht nur darum, _dass_ Guillaume stirbt, sondern auch darum, _wie_ er stirbt. Wage also nicht, mich nach Noroelle zu fragen! Euer Erfolg hätte Noroelles Schuld tilgen können, so aber hat sich nichts geändert.«
Mandred traute seinen Ohren kaum. Was wollte Emerelle? Guillaume war doch tot! Farodin und Nuramon hatten es nicht verdient, so behandelt zu werden. Am liebsten hätte er die beiden Wachen niedergeschlagen, um ins Zelt zu gehen und ihr eine Lektion in Gerechtigkeit zu erteilen.
»Herrin!«, entgegnete Nuramon trotzig. »Ich bedauere allein, dass ich Guillaumes Tod nicht verhindern konnte. Noroelles Sohn war nicht, was du in ihm sahst. Und wenn er eine Schuld trug, dann allein die, geboren zu sein.«
»Du hast gesehen, was seine Magie bewirken konnte, und wolltest ihn hierher bringen! Gleich, was du sagst, er bleibt der Sohn eines Devanthars. Und selbst im Tod ist er noch dessen Werkzeug. Du hattest eine ganze Nacht, unbemerkt meinen Befehl auszuführen. In dieser Nacht hast du das Geschick von Albenmark verändert. Dort draußen in der Anderen Welt geschieht etwas … Ich kann es nicht in meinem Wasserspiegel sehen, aber ich spüre es. Der Devanthar … Er nutzt die Art, auf die Noroelles Sohn gestorben ist, für seine Zwecke. Er hat seine Rache an uns nicht aufgegeben. Wir müssen von nun an auf der Hut sein. Niemand wird Albenmark mehr verlassen. Und niemand wird hierher zurückkehren. Ich habe Ollowain zum Wächter der Tore ernannt, denn er hat sich als mein treuester Recke erwiesen. Ihr habt nun die Erlaubnis zu gehen.«
Mandred war fassungslos. Wovor fürchtete die Königin sich? Kein Menschenherrscher war so mächtig wie sie, und doch ließ sie die Tore schließen, so als wäre Albenmark eine Burg, die darauf wartete, belagert zu werden.