Der Preis des Wortes

Der Frühlingshimmel war von so klarem Blau, dass Mandred Tränen in den Augen standen, als er emporblickte. Endlich wieder frei! Ohne ein Gefühl für Tag und Nacht war es schwer zu sagen, wie lange sie in der Höhle gewesen waren. Doch es konnten nur wenige Tage vergangen sein. Allerdings musste irgendein Zauber am Werk gewesen sein, denn wie sonst war zu erklären, dass sie die Höhle im Winter betreten hatten und sie nun im Frühling verließen?

Mandreds Blick folgte einem Adler, der mit majestätisch ausgebreiteten Schwingen in weiten Kreisen hoch über dem Gletscher dahinzog.

Hier oben in den Bergen wich der Winter nie. Und doch wärmte die Sonne das Gesicht, während sie durch verharschten Schnee hinab zum Fjord wanderten.

Seine Gefährten waren still. Am Morgen hatten sie Vanna und den toten Wolf in einer kleinen Höhle abseits von Luths Tal beigesetzt. Die Elfen hingen stumm ihren Gedanken nach. Und Svanlaib … Der Bootsbauer hatte etwas Seltsames an sich. Gewiss, ein Stück weit ließ sich sein Verhalten durch die Ehrfurcht erklären, die er vor den Elfen empfinden musste. Welchem Sterblichen war es schon vergönnt, leibhaftig den Gestalten aus den Sagas der Skalden zu begegnen? Aber da war noch etwas anderes in Svanlaibs Verhalten. Etwas Lauerndes. Mandred spürte förmlich die Augen des Mannes in seinem Rücken. Svanlaib hatte ihm ein paar seltsame Fragen gestellt. Der Bootsbauer schien ihn zu kennen.

Mandred grinste zufrieden. Das war nicht verwunderlich! Schließlich hatte er sieben Männer allein im Namen des Königs erschlagen, und er hatte den unüberwindlichen Manneber hoch in die Berge gelockt und mit seiner Saufeder durchbohrt. Er blickte auf den gesplitterten Schaft der Waffe, die er in der Rechten hielt. Ein schwerer, blutiger Beutel hing unter dem langen Speerblatt. Er war aus einem Stück vom Fell der Bestie geschnitten. Darin war die Leber des Devanthars. Ich werde Wort halten, dachte Mandred grimmig.

Drei Tage dauerte der Abstieg von den Bergen zum Fjord. Tage, an denen jeder Schritt sie weiter in den Frühling brachte. Frisches helles Grün schmückte die Äste der Eichen. Geradezu berauschend war der Duft der Wälder, auch wenn die Nächte noch sehr kalt waren. Svanlaib hatte Farodin und Nuramon unzählige Fragen über die Albenmark gestellt. Mandred war froh, dass er von dem Geplapper des Bootsbauers verschont blieb. Dennoch verfolgte ihn der Mann mit seinem Blick. Wann immer er glaubte, dass Mandred es nicht bemerkte, musterte er ihn eindringlich. Hätte der Kerl uns nicht aus der Höhle geholt, hätte er längst Bekanntschaft mit meinen Fäusten gemacht, dachte Mandred so manches Mal.

Als sie endlich aus den Wäldern traten und sie nur mehr eine weite Hochweide vom ersten Blick auf Firnstayn trennte, begann Mandred zu laufen. Sein Herz schlug wild wie eine Trommel, als er den Höhengrat erreichte und auf den Fjord und sein Dorf hinabblicken konnte. Hoch über ihm lag die Klippe mit dem Steinkreis. Dort würde er den Göttern opfern! Doch erst, nachdem er Freya in den Armen gehalten hatte …

Und seinen Sohn! Er hatte in Luths Höhle von ihm geträumt. Er war ein junger Mann gewesen in einem langen Kettenhemd. Ein Schwertkämpfer, dessen Namen man überall im Fjordland kannte. Mandred lächelte. Das mit dem Schwert war sicherlich ein Irrtum. Ein wahrer Krieger kämpfte mit einer Axt! Er würde es seinem Sohn schon beibringen.

Mandred war verwundert darüber, wie fleißig man im Dorf gearbeitet hatte. Drei neue Langhäuser waren hinzugekommen, und der Landungssteg war ein Stück in den Fjord hinein verlängert. Es gab auch mehr als ein Dutzend kleinerer Hütten. Die Palisade war niedergerissen und durch einen viel weiter gefassten Erdwall ersetzt.

Es mussten im Winter etliche neue Familien ins Dorf gekommen sein. Vielleicht hatte der Hunger sie aus ihren Heimen vertrieben. Mandreds Faust schloss sich fester um den Schaft der Saufeder. Wahrscheinlich würde es Kämpfe geben. Ein Jarl war man nicht vom Blute her. Diesen Titel musste man sich verdienen, und es waren sicherlich etliche heißblütige junge Männer im Dorf, die ihm seinen Rang streitig machen wollten. Mandred sah zu seinen Gefährten, die inzwischen die Hochweide überquert hatten. Wenn er mit zwei Elfen an seiner Seite heimkehrte, würde es sich mancher vielleicht überlegen, mit ihm Streit anzufangen. Nuramon und Farodin mussten mit ihm in seine Halle einkehren, wenigstens für eine Nacht. Möglichst viele Männer sollten die beiden Elfen sehen. Dann würde sich die Geschichte von der Jagd auf den Manneber bis zum Ende des Sommers selbst in den entferntesten Tälern des Fjordlandes verbreiten.

Nuramon sah sehnsüchtig zum Steinkreis hinauf. Mandred aber sagte: »Seid für eine Nacht meine Gäste, Kameraden, und lasst uns an meinem Herdstein auf das Andenken unserer toten Freunde trinken.« Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: »Ihr würdet mir einen großen Dienst erweisen. Ich möchte, dass alle Männer und Frauen des Dorfes euch sehen.«

Die beiden Elfen tauschten einen Blick. Es war Farodin, der nickte. Gemeinsam begannen sie den Abstieg zum Fjord.

Seit er das Dorf wiedergesehen hatte, hatte eine Unruhe Mandred ergriffen, die einfach nicht weichen wollte. War Emerelle schon gekommen? Nein, das konnte nicht sein! Ein Jahr, hatte sie gesagt. Ihm blieb noch Zeit. Er würde einen Weg finden, seinen Erstgeborenen zu retten.

Es war das Dorf … Etwas stimmte nicht mit Firnstayn. Es war zu schnell gewachsen. Obwohl sie reichlich Wintervorräte angelegt hatten, hätte es niemals ausgereicht, so viele Menschen zu ernähren. Und die Dächer der neuen Häuser … Ihr Holz war nachgedunkelt, und von den Dachfirsten zogen sich weiße Bahnen aus Möwenkot hinab. Die Holzschindeln sahen aus, als hätten sie schon mehr als einen Winter kommen und wieder gehen sehen.

Mandred dachte an seine Träume in Luths Höhle. Sie waren düster gewesen und erfüllt von Waffenklirren. Er war Trollen und mächtigen Kriegern begegnet, und zuletzt hatte er sich unter einem prächtigen weißen Banner reiten sehen, auf dem eine grüne Eiche als Wappen geprangt hatte. Die Männer, die ihm gefolgt waren, waren auf seltsame Weise gewappnet gewesen. Sie hatten Rüstungen getragen, die ganz aus eisernen Platten bestanden hatten, und ihre Gesichter waren unter schweren Helmen verborgen gewesen. Wie eine Mauer aus Stahl waren sie Mandred vorgekommen. Selbst ihre Pferde waren in Stahl gekleidet gewesen. Auch Mandred hatte eine solche Rüstung getragen. Der Krieger lächelte und versuchte trotzig seine düstere Stimmung zu verdrängen. Das mit der Rüstung war ein gutes Omen! Er würde einmal sehr reich sein, wenn er sich so viel Stahl leisten konnte. Die Zukunft verhieß also Gutes. Und bald schon würde er Freya in die Arme schließen!

Als er das Ufer des Fjordes erreichte, winkte Mandred mit den Armen und rief mit lauter, unbändiger Stimme, um auf sich aufmerksam zu machen. »Heho, holt über! Hier stehen drei Recken und ein Pilger mit durstigen Kehlen.«

Der Fjord war hier immer noch mehr als hundert Schritt breit. Jemand auf dem Landungssteg bemerkte sie und winkte zurück. Dann wurde eines der runden Lederboote bereitgemacht, auf denen die Fischer ausfuhren. Zwei Männer paddelten es über den Fjord, doch ein gutes Stück vom Ufer entfernt machten sie Halt. Mandred hatte keinen der beiden je gesehen.

»Wer seid ihr? Und was wollt ihr in Firnstayn?«, rief der Jüngere der beiden misstrauisch.

Mandred hatte damit gerechnet, dass die beiden Elfen ihnen Angst machten. Hoch gewachsen und wohl bewaffnet sahen sie nicht gerade aus wie die üblichen Reisenden. Doch dass sie nicht einmal Menschen waren, würde auf den ersten Blick wohl niemandem auffallen.

»Hier steht Mandred Torgridson, und dies sind meine Gefährten Nuramon, Farodin und Svanlaib Hrafinson.«

»Du trägst den Namen eines Toten, Mandred!«, schallte es über das Wasser. »Falls dies ein Spaß sein soll, so ist Firnstayn nicht der rechte Ort für solche Scherze!«

Mandred lachte schallend. »Nicht die Bestie hat Mandred erschlagen, ich habe den Manneber erlegt.« Er hob die Saufeder hoch über den Kopf, sodass man gut den Beutel daran sehen konnte. »Und hier bringe ich meine Trophäe. Ihr beide müsst fremd sein! Holt Hrolf Schwarzzahn oder den alten Olav. Sie kennen mich gut. Oder bringt mir Freya, mein Weib. Sie wird euch mit ihrer großen Kesselkelle den Schädel einschlagen, wenn ihr mich noch länger warten lasst.«

Die beiden Männer beratschlagten kurz, dann brachten sie das Lederboot ans Ufer. Beide starrten ihn seltsam an. »Du bist wirklich Mandred Torgridson«, sagte der Ältere von beiden ehrfürchtig. »Ich erkenne dich, auch wenn du keinen Tag gealtert scheinst, seit ich dich das letzte Mal sah.«

Mandred musterte den Mann; er hatte ihn noch nie gesehen. »Wer bist du?«

»Ich bin Erek Ragnarson.«

Mandred runzelte die Stirn. Er kannte ein Kind mit diesem Namen. Einen frechen rothaarigen Bengel. Den Sohn seines Freundes Ragnar, den der Manneber zerrissen hatte.

»Setzt uns über«, mischte sich jetzt Svanlaib ein. »Und lasst uns bei einem guten Krug Met weiterreden. Meine Kehle ist wie ein vertrocknetes Bachbett, und dies ist kein guter Platz, um müde Reisende zu empfangen. Zumindest an mich erinnert ihr euch doch noch, oder? Ich war erst vor ein paar Tagen im Dorf.«

Der ältere Fischer nickte. Dann gab er ihnen ein Zeichen, in sein Boot zu kommen. Als Nuramon und Farodin einstiegen, sah Mandred, wie Erek verstohlen das Zeichen des schützenden Auges schlug. Hatte er erkannt, was sie waren?

Die Fahrt über den Fjord verlief in aller Stille. Immer wieder blickte Erek über seine Schulter. Einmal schien es, als wollte er etwas sagen, dann schüttelte er nur den Kopf und wandte sich wieder ab.

Es dämmerte, als sie das Boot am Landungssteg vertäuten.

Unter den Dachfirsten der Langhäuser quoll Rauch hervor. Es roch nach gebratenem Fleisch und frischem Brot. Mandred lief das Wasser im Munde zusammen. Endlich wieder richtig essen! Braten und Met statt Maulbeeren und Quellwasser!

Mit festem Schritt ging Mandred den Steg entlang. Ihm war, als säße eine große, wild mit den Flügeln schlagende Möwe in seinem Bauch. Hoffentlich konnte er sich die Tränen verkneifen, wenn Freya kam.

Ein großer Hund versperrte ihm am Ende des Stegs den Weg. Er knurrte warnend. Noch andere Hunde kamen vom Dorf. Ihnen folgten Männer mit Speeren.

Mandred knüpfte den Fellbeutel an seiner Saufeder auf und warf den Hunden blutige Fleischklumpen hin. »Hier, meine Feinen. Ich habe euch etwas mitgebracht.« Dann blickte er auf. Er kannte keinen der Männer.

»Mandred Torgridson ist zurückgekehrt«, verkündete der alte Fischer mit feierlicher Stimme. »Es war eine lange Jagd.« Mit einer herrischen Geste scheuchte er die bewaffneten Dorfbewohner zu Seite. »Macht Platz für Jarl Mandred.«

Guter Mann, dachte Mandred stumm. Er kannte ihn zwar nicht, aber mit Erek ließ sich etwas anfangen.

Immer mehr Menschen liefen zusammen, um die Fremden zu begaffen. Mandred warf den Hunden, die um seine Beine tollten, Leberstücke zu und zuletzt auch das Stück Fell, das ihm als Beutel gedient hatte.

Dass Freya nicht kam, wunderte ihn schon ein wenig. Aber gewiss hatte sie eine dringende Arbeit zu erledigen. Wenn sie Brot buk und kochte, dann brachte sie nichts von ihrem Herd fort.

Sein Langhaus hatte den Winter gut überstanden. Aber irgendjemand hatte die beiden geschnitzten Pferdeköpfe am Giebel gegen zwei Eberköpfe ausgetauscht.

Mandred öffnete die schwere Tür aus Eichenholz, schlug den wollenen Vorhang zur Seite und winkte seinen Gefährten einzutreten. In der fensterlosen Halle des Langhauses herrschte trübes Zwielicht. Glut flackerte in der langen Feuergrube in der Mitte der Halle. Eine junge Frau drehte einen Bratspieß, auf dem eine Gans steckte. Sie blickte überrascht auf.

»Mandred Torgridson ist zurückgekehrt«, verkündete Erek, der sich an Nuramon und Farodin vorbei durch die Tür drängte.

»Schäm dich, schon vor Sonnenuntergang betrunken zu sein, Erek«, keifte die Frau. »Und nimm deine Saufkumpanen mit. Für sie ist kein Platz in meiner Halle.«

Mandred sah sich verwundert um. Freya konnte er nirgends entdecken. »Wo ist mein Weib?«

Der Fischer senkte den Kopf. »Bring uns Met, Gunhild«, zischte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und dann ruf die Alten zusammen. Hol den lahmen Beorn herbei und Gudrun und Snorri. Und bring allen Met, verdammt noch mal! Dies ist ein Tag, von dem unsere Urenkel noch erzählen werden.«

Mandred eilte an der Wand mit den Schlafnischen vorbei und schlug den letzten Vorhang zurück. Auch hier war Freya nicht. Neben ihrer Schlafstatt hing die Wiege von der Decke, die er am Anfang des Winters gezimmert hatte. Sie war leer.

»Setz dich, Jarl.« Der Fischer nahm ihn behutsam beim Arm und führte ihn zur Feuergrube.

Mandred ließ sich im Grätschsitz auf einer der Bänke nieder. Was war hier los? Ihm wurde schwindelig.

»Erinnerst du dich, wie du dem kleinen Erek Ragnarson einmal ein altes Messer geschenkt hast und ihm dann einen Nachmittag lang gezeigt hast, wie man Hasen ausweidet?« Die Stimme des Fischers ging stockend. Seine Augen schimmerten feucht.

Gunhild stellte einen Metkrug zwischen sie auf die Bank und legte einen köstlich duftenden Brotlaib dazu. Mandred riss ein Stück vom Brot ab und stopfte es sich in den Mund. Es war noch warm. Dann nahm er einen tiefen Schluck Met.

»Erinnerst du dich?«, beharrte der alte Fischer.

Mandred nickte. »Ja, warum?«

»Der Junge … Das … das war ich, Jarl.«

Mandred setzte den Krug ab.

»Wir alle haben dich für tot gehalten«, brach es nun aus Erek hervor. »Wir haben sie gefunden … meinen Vater und die anderen. Nur dich nicht … Und das Ungeheuer nicht. Es gibt viele Geschichten darüber, was in diesem Winter geschah … Manche glauben, du hättest den Manneber aufs Eis gelockt und seiest mit ihm in der kalten Tiefe des Fjords versunken. Andere dachten, du wärst in die Berge gegangen. Und es hieß, Luth habe in der Trauer um dich einen eisigen Vorhang vor seine Höhle gezogen. Freya hat nie glauben wollen, dass du tot bist. Den ganzen nächsten Frühling hat sie die Männer immer wieder hinausgetrieben, um nach dir zu suchen. Und sie ist mitgegangen, bis das Kind kam. Ein kräftiger Junge. Er hat ihr Frieden gegeben. Oleif hieß er.«

Mandred atmete tief aus. Es war Zeit vergangen, das wusste er. Und es war Frühling, obwohl es noch hätte Winter sein sollen. In der Höhle war es immer hell gewesen. Nur das Licht hinter dem Eis war in stetem Flackern aufgeglüht und vergangen. Er zwang sich zur Ruhe.

»Wo ist mein Weib? Und mein Sohn …« Der Krieger blickte auf. Die Männer mit den Speeren waren in die Halle gekommen und starrten ihn an. Immer neue Fremde traten durch die niedrige Eichentür. Nur Nuramon und Farodin wichen seinen Blicken aus. Und Svanlaib. Was wussten sie, das ihm verborgen blieb?

Erek legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mandred, ich bin der Junge, dem du das Messer geschenkt hast. Du warst fast dreißig Winter lang verschollen. Erinnerst du dich … Als ich noch ein kleines Kind war, das kaum laufen konnte, hat mich einer von Torklaifs Hunden angefallen.« Erek streifte den linken Ärmel seines groben Hemdes zurück. Sein Unterarm war zerfurcht von tiefen Narben. »Ich bin der Junge. Und nun sag du mir, warum du kein Greis bist, Mandred. Du warst mehr als doppelt so alt wie ich. Und doch sehe ich kein Silber in deinem Bart und keine Müdigkeit in deinen Augen.« Er deutete zur Tür des Langhauses. »Du bist noch immer der Mann, der vor fast dreißig Jahren dieses Langhaus verlassen hat, um gegen den Manneber zu ziehen. War dies das Geschenk, für das du mit deinem Sohn bezahlt hast?«

Kalte Wut packte den Krieger. »Was sagst du da? Was ist mit meinem Sohn?« Er sprang auf und stieß dabei den Metkrug von der Bank. Die Schaulustigen wichen vor ihm zurück. Farodins Rechte ruhte auf dem Knauf seines Schwertes. Er beobachtete aufmerksam die Speerträger.

»Was ist mit Freya und meinem Sohn geschehen?«, schrie Mandred mit sich überschlagender Stimme. »Was ist hier los? Ist denn das ganze Dorf verhext? Warum seid ihr alle so anders?«

»Du bist anders, Mandred Torgridson«, keifte ein altes Weib. »Sieh mich nicht so an! Bevor du Freya erwähltest, hast du mich gern auf deinen Schoß gezogen. Ich bin es, Gudrun.«

Mandred starrte in das verwitterte Gesicht. »Gudrun?« Sie war einst schön wie ein Sommertag gewesen. Konnte das sein? Diese Augen … Ja, sie war es.

»Der Winter, nachdem das Ungeheuer aufgetaucht war, wurde noch härter. Der Fjord war zugefroren, und eines Nachts kamen sie. Zuerst hörten wir nur ihre Hörner in der Ferne, und dann sahen wir die Kette der Lichter. Reiter. Hunderte! Sie kamen vom Hartungskliff auf der anderen Seite des Fjords. Vom Steinkreis. Und sie ritten über das Eis. Niemand, der dabei war, wird diese Nacht je vergessen. Wie Geister waren sie und doch lebendig. Das Feenlicht wogte am Himmel und tauchte das Dorf in grünes Licht. Die Hufe ihrer Pferde wühlten kaum den Schnee auf. Und doch waren sie von Fleisch und Blut, die kalte Elfenkönigin Emergrid und ihr Hofstaat. Schön waren sie anzusehen und zugleich schrecklich, denn in ihren Augen spiegelten sich ihre kalten Herzen. Das prächtigste Pferd ritt eine zierliche Frau, die mit einem Kleid wie von Schmetterlingsflügeln angetan war. Trotz des bitteren Frostes schien sie die Kälte nicht zu spüren. An ihrer Seite ritten ein Mann ganz in Schwarz und ein Krieger in weißem Umhang. Falkner begleiteten sie und Lautenspieler, Krieger in schimmernder Wehr und Frauen, gekleidet wie für ein Sommerfest. Und Wölfe, so groß wie Hochlandpferde. Sie hielten vor deinem Langhaus, Mandred. Vor dieser Halle hier!«

Ein Holzscheit zerbarst in der Feuergrube, und Funken stiegen zur rußschwarzen Decke empor, als Gudrun fortfuhr. »Dein Weib öffnete der Königin Emergrid. Freya empfing sie mit Met und Brot, wie es das Gesetz der Gastfreundschaft gebietet. Doch die Elfenkönigin nahm nichts an. Sie forderte allein das Pfand, das du ihr versprochen hattest, Mandred. Deinen Sohn! Den Preis dafür, dass dieses Dorf leben durfte und die Bestie von uns genommen wurde.«

Mandred verbarg das Gesicht in Händen. Sie war gekommen! Wie hatte er ihr nur dieses Versprechen geben können! »Was … was ist mit Freya?«, stammelte er hilflos. »Ist sie …«

»Mit deinem Sohn haben ihr die Elfen den Willen zum Leben genommen. Sie schrie und bettelte um Gnade für ihr Kind. Sie bot ihr Leben als Pfand, doch Königin Emergrid ließ sich nicht erbarmen. Mit bloßen Füßen lief Freya durch den Schnee und folgte den Elfen hinauf auf das Hartungskliff. Dort fanden wir sie am nächsten Morgen inmitten des Steinkreises. Sie hatte sich die Kleider zerrissen und weinte und weinte … Wir haben sie ins Dorf geholt, doch Freya wollte nicht mehr mit uns unter einem Dach sein. Sie ist auf den Grabhügel deines Großvaters gestiegen und hat dort die Götter und die finstersten Geister der Nacht um Rache angerufen. Mehr und mehr hat sich ihr Geist verwirrt. Man sah sie immer mit einem Bündel Lumpen im Arm, so wie man ein Kind in seinen Armen hält. Wir haben ihr Essen gebracht, Jarl. Wir haben alles versucht … Am ersten Frühlingsmorgen nach der Tagundnachtgleiche haben wir sie tot auf dem Grabhügel deines Großvaters gefunden. Sie starb mit einem Lächeln auf den Lippen. Wir haben sie noch am selben Tag im Hügel bestattet. Ein weißer Stein ruht auf ihrem Grab.«

Mandred hatte das Gefühl, sein Herz müsse aufhören zu schlagen. Sein wilder Zorn war dahin. Tränen rannen über seine Wangen, ohne dass er sich dessen schämte. Er ging zur Tür. Niemand folgte ihm.

Der Grabhügel seines Großvaters lag ein Stück außerhalb des neuen Erdwalls, der Firnstayn schützte, ganz nah bei dem großen, weißen Felsbrocken am Ufer des Fjords. Hier hatte sein Großvater angelegt und war an Land gegangen. Er hatte das Dorf gegründet und es nach dem Stein, so weiß wie Mittwinterschnee, benannt. Firnstayn.

Mandred fand den weißen Grabstein an der Flanke des niedrigen Grabhügels. Lange kniete er dort nieder. Zärtlich strichen seine Hände über den rauen Stein.

Es war in der dunkelsten Stunde der Nacht, dass Mandred glaubte, einen Schatten in zerrissenen Kleidern auf der Hügelkuppe zu sehen.

»Ich bringe ihn zurück, Freya, und wenn es mich mein Leben kostet«, flüsterte er leise. »Ich bringe ihn zurück. Ich schwöre das bei der Eiche, die mir mein Leben gegeben hat. Stark wie ein Eichenstamm sei mein Eid!« Mandred suchte nach Atta Aikhjartos Geschenk, und als er es fand, versenkte er die Eichel in der schwarzen Graberde. »Ich werde ihn dir zurückbringen.«

Der Mond trat zwischen den Wolken hervor. Der Schatten auf der Hügelkuppe war verschwunden.

Загрузка...