Sie hatten sich über die Mitte der Brücke zurückziehen müssen. Langsam verloschen die Flammen von Balbars Feuer. Auf dem Klippenweg standen hunderte von Ordenssoldaten, bereit für den letzten Angriff. Sobald das Feuer herabgebrannt war, würde der letzte Sturmlauf beginnen.
An Farodins Seite standen nur noch Orgrim und Giliath. Alle anderen Kämpfer der zusammengeschmolzenen Schar der Verteidiger hatten sich zur Festungsmauer jenseits der Brücke zurückgezogen.
Farodin sah verzweifelt zum Himmel hinauf. Bis zur Dämmerung würde es noch mindestens zwei Stunden dauern. So lange konnten sie die Brücke nicht halten. Eine Brise benetzte sein Gesicht mit Gischtwasser. Das Donnern der Wasserfälle hatte etwas Beruhigendes. Wie weiße Adern zogen sie sich die Felsen hinab. Das Sprühwasser ließ die Oberfläche der Brücke spiegelglatt werden. Die Shalyn Falah war gerade einmal zwei Schritt breit und sie hatte kein Geländer. An diesem Tag war Farodin den längst vergessenen Baumeistern dankbar für ihre seltsame Brücke. Mehr als drei Mann konnten hier nicht nebeneinander stehen. Und wer die Brücke betreten wollte, der musste schwindelfrei sein, oder er würde dem Ruf des Abgrunds nicht widerstehen.
»Heißt es nicht, man dürfte auf der Shalyn Falah kein Blut vergießen?«, fragte Orgrim. Der Troll musste schreien, um das Tosen des Wasserfalls zu übertönen.
Farodin blickte auf die blassrosa Flecken, die langsam vom Sprühwasser weggewaschen wurden. »Dieselbe Frage habe ich gestern Nacht Ollowain gestellt. Er meinte, der Stein der Brücke werde so schlüpfrig, dass man sie nicht mehr überqueren könne, wenn sie mit Blut benetzt sei. Ich habe aber auch von einer Prophezeiung gehört, in der es heißt, dass an dem Tag, an dem der weiße Stein der Shalyn Falah mit Blut besudelt werde, sich ewige Finsternis auf die Brücke senken werde.«
»Ich glaube, mir liegt eher die erste Geschichte«, murmelte der Trollfürst. Blut troff von seinem Verband am Arm. Dennoch hielt er den schweren Schild hoch, den er von einem Sterbenden genommen hatte.
Die Flammen des Feuers am Brückenaufgang schlugen nicht einmal mehr einen Schritt hoch. In die Truppen auf dem Steilweg kam Bewegung.
Ein Schuss krachte. Einige Schritt vor ihnen schlug eine Bleikugel auf den weißen Stein.
»Diese Idioten wollen einfach nicht wahrhaben, dass wir außerhalb der Reichweite ihrer Waffen stehen«, murrte Giliath. Sie zählte leise die Pfeile in ihrem Köcher.
Farodin wusste auswendig, zu welchem Ergebnis sie kommen würde. Dreizehn! Sie zählte die verbliebenen Geschosse mindestens schon zum zehnten Mal.
Am anderen Ende der Brücke warf ein Offizier einen schweren grauen Umhang über die Flammen und erstickte das Feuer. Soldaten mit Feuerrohren rückten vor.
Giliath hob den Bogen. Plötzlich lachte sie auf. Die Ordenssoldaten waren stehen geblieben. Sie winkten mit den Armen und versuchten die Krieger zurückzutreiben, die hinter ihnen kamen.
»Ihre Luntenschnüre und das Pulver sind nass geworden. Die Feuerrohre nutzen ihnen nichts mehr.«
Im Durcheinander am Ende der Brücke verlor einer der Schützen den Halt und stürzte mit einem gellenden Schrei in die Tiefe. Endlich zogen sich die Männer zurück. An ihrer Stelle kamen nun Schwertkämpfer.
Farodin ließ seine beiden Klingen wirbeln, um seine verspannten Armmuskeln zu lockern. Vorsichtig tastend prüfte der Elf noch einmal den schlüpfrigen Untergrund. Der Stein der Brücke war poliert. Ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung, und er würde wie der Soldat vorhin in die Tiefe stürzen.
Ein gleißender Lichtstrahl zerteilte das Blau des Himmels und zerfaserte dann plötzlich in hunderte Blitze. Doch kein Donner hallte über das Firmament. Farodin spürte, wie sich jedes Härchen an seinem Leib aufrichtete. Wo die Blitze verblassten, blieben feine schwarze Linien, so als wollte der Himmel zerbrechen.
Die Ordenssoldaten wurden unruhig. Manche von ihnen knieten nieder und begannen laut zu beten. Eine einzelne, klare Stimme erhob sich über alle anderen. Sie sang ein Lied von der Erhabenheit Tjureds, des Heilers allen Übels. Andere Stimmen fielen ein. Und schließlich sangen hunderte das Loblied des Gottes.
Schwarzer Nebel sickerte durch die Risse am Firmament.
Farodin wich ein wenig zurück. Der Zauber der Königin hatte begonnen. Keine zehn Schritte vor ihnen traf einer der Risse auf die Brücke. Der schwarze Nebel schoss nun in wirbelnden Kaskaden den Himmel hinab. So weit Farodin blicken konnte, spannten sich Risse über das Firmament.
Der Nebel fraß den Blick auf das jenseitige Steilufer. Schlagartig verstummte der Gesang. Mitten durch die Schlucht zog sich eine Wand aus wogender Finsternis. In weitem Bogen spannte sich die weiße Brücke und mündete nun in die Leere.
»Es ist also vollbracht«, sagte Orgrim ehrfürchtig.
Farodin schob sein Schwert zurück in die Scheide. Der Krieg war zu Ende. Doch er fühlte sich nicht wie ein Sieger.