Der Heiler von Aniscans

Drei Jahre waren vergangen, seit sie Albenmark verlassen hatten, und dennoch gab es für Nuramon jeden Tag etwas Neues in der Welt der Menschen zu entdecken. Besonders ihre Sprachen hatten es ihm angetan, und er hatte sich viele von ihnen angeeignet. Dabei wunderte er sich, wie schwer es Mandred fiel, diese Sprachen zu erlernen. Alfadas, den Mandred stets Oleif nannte und dem dieser Menschenname fremd war, hatte ebenfalls seine Schwierigkeiten damit. Dass er bei Elfen aufgewachsen war, schien in diesem Fall wenig zu nützen. Seltsam waren die Menschen!

Die Suche nach Noroelles Sohn war bisher ergebnislos gewesen. Sie hatten die weiten Wälder von Drusna durchquert, waren durch das vom Krieg verwüstete Königreich Angnos gezogen, hatten Monde lang auf den weit verstreuten Aegilischen Inseln gesucht und waren zuletzt in das Königreich Fargon gelangt. Es war ein grünes und fruchtbares Land, ein Land, das von den Menschen erobert sein wollte, wie Mandred immer wieder sagte. Viele Flüchtlinge aus Angnos waren in den letzten Jahren hierher gekommen, und sie hatten ihren Glauben mitgebracht. Einige der wenigen Menschen, die schon seit Generationen hier lebten, begegneten den Fremden mit Neugier, andere aber empfanden sie als Bedrohung.

Die Gefährten hatten viele Spuren verfolgt. Ihre einzige Hoffnung war, dass der Sohn einer Elfe und eines Devanthars magische Kräfte besaß. Wenn er von dieser Gabe Gebrauch machte, würde er auffallen. Man würde sich von ihm erzählen. Und so gingen sie jeder Geschichte über Zauber oder Wunderwerk unter den Menschen nach. Bisher waren sie jedes Mal enttäuscht worden.

Während die Elfen und Alfadas sich als ausdauernde Jäger erwiesen, fehlte es Mandred mit den Jahren zunehmend an Geduld. Häufig betrank er sich, so als wollte er vergessen, dass ein Menschenleben für die Suche nach dem Dämonenkind zu kurz sein könnte.

Nuramon wunderte es, dass Alfadas, anders als sein Vater, elfengleich die Ruhe behielt. Selbst Mandreds Lehrstunden ertrug er mit einer Geduld, die an Selbstaufopferung grenzte. Alfadas schien nur wenig von seinem Vater geerbt zu haben, außer vielleicht dessen Dickkopf, denn Alfadas weigerte sich auch nach drei Jahren noch, die Axt als die Königin aller Waffen anzuerkennen, was Ollowain sichtlich Vergnügen bereitete.

Ein neuer Frühling war angebrochen, und sie kamen von den Bergen hinab, um einer Spur in die Stadt Aniscans zu folgen. Nomja, Yilvina und Alfadas waren längst gute Freunde geworden und ließen so manches Mal den nötigen Ernst bei ihrer Suche vermissen. Gelvuun blieb ein Eigenbrötler, der kaum die Zähne auseinander brachte. Farodin hatte einmal behauptet, dass die Trolle Gelvuun einst sämtliche Zähne ausgeschlagen hätten und er deshalb den Mund nicht aufbekam. Nuramon wusste bis heute nicht, ob dies nur ein Scherz war.

Ollowain war derjenige von ihnen, der die Pflicht, die ihnen auferlegt war, nie aus den Augen verlor. Stets drängte er darauf, nur kurz an einem Ort zu verweilen und rasch weiterzuziehen, wenn wieder eine Spur im Nichts verlaufen war.

Farodin hingegen verließ die Gruppe, wann immer es ihm möglich war. Stets war er es, der sich freiwillig meldete, um den Weg auszukundschaften. Nuramon kam es manchmal so vor, als befände sich Farodin nicht auf der Suche nach dem Kind, sondern als hielte er insgeheim nach etwas anderem Ausschau. Vielleicht versuchte er auch die Reise hinauszuzögern, um nicht die Bluttat an Noroelles Sohn begehen zu müssen.

Mandred ritt an Nuramons Seite; gemeinsam führten sie ihre kleine Truppe bei ihrem Abstieg zwischen den Hügeln hindurch. Der Menschensohn, dessen Freundschaft Nuramon in der Eishöhle angenommen hatte, sorgte mit seinen Worten und Taten oft für Kurzweil und ließ den Elfen dann für eine Weile vergessen, aus welchem Grunde sie unterwegs waren. Auch wenn auf den Frohsinn irgendwann die Einsicht folgte, dass ihr Ziel den Anfang eines Daseins voller Seelenqualen markierte, war Nuramon froh, dass Mandred seine erheiternde Gabe besaß.

»Weißt du noch, damals, als wir diesen Räubern begegnet sind?«, fragte Mandred grinsend. Der Menschensohn nahm die Zeit anders wahr als ein Elf. Ein Jahr, und er schwelgte bereits in Erinnerungen. Das Merkwürdige war, dass sich das Gefühl, viel erlebt und damit auch viel Zeit verbracht zu haben, auch auf Nuramon übertrug.

»Welche Räuber meinst du?« Sie waren einigen begegnet. Und die meisten waren alsbald vor ihnen geflüchtet.

»Die ersten, die wir getroffen haben. Die, die sich richtig gewehrt haben.«

»Ich erinnere mich.« Wie könnte er die Plünderer aus Angnos vergessen! Er und die anderen Elfen hatten ihre Kapuzenmäntel getragen und waren nicht auf den ersten Blick als Albenkinder zu erkennen gewesen. Für die Räuber war es ein böses Erwachen geworden. Dummerweise hatten sie nicht aufgeben wollen, weil sie sich ihnen von der Zahl her weit überlegen glaubten. So hatten sie auf schmerzhafte Weise den Unterschied zwischen Macht und Masse kennen gelernt.

»Das war doch ein Kampf!« Mandred schaute sich um. »Ich wünschte, hier würden ein paar Strauchdiebe auf uns lauern.«

Nuramon schwieg. Dieser Wunsch Mandreds konnte nur eines bedeuten: Heute Abend würde Alfadas sich wieder einmal für eine Übung bereithalten müssen. Mandred konnte es nicht lassen, seinen Sohn für den Kampf mit der Axt begeistern zu wollen. Doch Alfadas bewies seinem Vater ein ums andere Mal, dass er in der Lage war, mit dem Schwert gegen ihn zu bestehen. Wenn Mandred von seinem Sohn besiegt wurde, so war sich Nuramon nie über die Gefühle des Kriegers im Klaren. War er stolz oder war er beleidigt? Manchmal hegte Nuramon auch den Verdacht, dass Mandred sich insgeheim in den Übungskämpfen zurückhielt, aus Sorge, er könne Alfadas verletzen.

Sie erreichten einen Hügelkamm und hatten nun einen freien Blick auf das weite Flusstal unter ihnen. Nuramon deutete zu der Stadt am westlichen Ufer. »Aniscans! Endlich lassen wir die Wildnis hinter uns.«

»Endlich kehren wir wieder in eine Taverne ein und bekommen was Vernünftiges zu trinken. Mein Magen denkt schon, man hätte mir den Kopf abgeschnitten.« Mandred schnalzte. »Was glaubt ihr? Haben die dort unten Met?«

Fast schien es, als hätte der Menschensohn seinen Kummer um Freya vergessen. Doch Nuramon durchschaute den Schein und sah einen Mann, der seinen Schmerz verbergen und betäuben wollte.

Langsam ritten sie den Hang hinab. Unterhalb des Hügels verlief eine Straße, die geradewegs zur Stadt führte. Eine Brücke überspannte in sieben flachen Bogen das weite Flussbett. Die Schneeschmelze hatte den Strom anschwellen lassen und viel Treibholz aus den Bergen mitgebracht. Männer mit langen Stangen standen auf der Brücke und verhinderten, dass treibende Stämme sich vor den Brückenpfeilern quer legten und das Wasser stauten.

Die meisten Häuser von Aniscans waren aus hellbraunem Bruchstein errichtet. Es waren wuchtige, hohe Bauten, die sich eng aneinander drängten. Ihr einziger Schmuck waren die leuchtend roten Dachschindeln. Rings um die Stadt hatte man Weinberge angelegt. Mandred würde in jedem Fall Gelegenheit haben, sich zu betrinken, dachte Nuramon bitter.

»Ein Land voller Narren«, polterte der Menschensohn plötzlich los. »Seht euch das an! So eine reiche Stadt, und sie haben nicht einmal eine Mauer. Da ist ja Firnstayn besser befestigt.«

»Man hat eben nicht mit deinem Besuch gerechnet, Vater«, sagte Alfadas lachend. Die übrigen Gefährten fielen in das Gelächter ein. Selbst Gelvuun grinste.

Mandred wurde rot. »Leichtfertigkeit ist die Mutter manchen Unglücks«, sagte er dann ernst.

Ollowain lachte auf. »Wie es scheint, schmilzt die Frühlingssonne den harten Eispanzer des Barbarenhäuptlings, und, o Wunder, darunter kommt ein Philosoph zum Vorschein.«

»Ich weiß nicht, was Vielosoof für eine Beleidigung ist, aber du kannst sicher sein, dass der Barbarenhäuptling dir gleich die Axt in den Rachen schiebt!«

Ollowain schlang die Arme übereinander und tat, als zitterte er. »So plötzlich kehrt der Winter zurück und lässt die schönsten Frühlingsblüten erfrieren.«

»Hast du mich gerade etwa mit Blüten verglichen?«, grollte Mandred.

»Nur eine Allegorie, mein Freund.«

Der Menschensohn runzelte die Stirn. Dann nickte er. »Ich nehme deine Entschuldigung an, Ollowain.«

Nuramon musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. Er war froh, als im nächsten Augenblick Alfadas zu singen begann, um den unglücklichen Disput zu unterbrechen. Der Junge hatte eine überaus schöne Stimme … für einen Menschen.

Sie folgten der Straße am Fluss, vorbei an Ställen und kleinen Gehöften. Vieh weidete entlang des Weges. Die Landschaft hier wirkte seltsam ungeordnet. In all der Zeit in den Menschenreichen hatte sich Nuramon nicht an die Andersartigkeit dieser Welt gewöhnen können. Doch er hatte gelernt, die Schönheit im Fremden zu sehen.

Die Häuser der Stadt drängten sich um einen Hügel, auf dem sich ein Tempel erhob. Seine Mauern waren von Gerüsten umgeben, und man konnte das Hämmern der Steinmetzen bis weit über den Fluss hinaus hören. Der Bau war schmucklos, mit Mauern, so dick wie die eines Festungsturmes, und doch lag in seiner groben Schlichtheit ein eigener Reiz. Es schien, als wollte er dem Betrachter aus der Ferne zurufen, dass es hier nichts gebe, was den Gläubigen ablenkte, denn kein Kunstwerk könne sich mit der Schönheit wahren Glaubens messen.

Nuramon dachte an den alten Wanderprediger, dem sie vor ein paar Tagen in den Bergen begegnet waren. Mit leuchtenden Augen hatte der Mann von Aniscans erzählt und dem Priester, dessen Name im Flusstal angeblich in aller Munde war: Guillaume, der mit solcher Inbrunst vom Gotte Tjured sprach, dass sich die Kraft seiner Worte auf die Zuhörer übertrug. Es hieß, dass Lahme wieder gehen könnten, wenn sie ihm Gehör schenkten und er ihre Glieder mit Händen berührte. Seine Zauberkraft schien jedes Leiden zu vertreiben und jedes Gift zu besiegen.

Wie oft waren sie in den letzten drei Jahren Gerüchten wie diesem gefolgt! Doch jedes Mal waren sie enttäuscht worden. Sie suchten einen Mann von etwa dreißig Jahren, der Wunder wirkte. Diese knappe Beschreibung passte auf Guillaume, so wie sie schon auf mehr als ein Dutzend anderer Männer gepasst hatte, von denen nicht einer magische Kräfte besessen hatte. Die Menschen waren viel zu einfältig! Sie waren nur zu bereit, jedem Scharlatan zu glauben, der ihnen einigermaßen glaubhaft vorgaukelte, Magie wirken zu können.

Der Wanderpriester hatte behauptet, noch in seiner Kindheit sei dort, wo sich heute die Stadt erhob, nicht mehr als ein kleiner Steinkreis gewesen, an dem sich die Menschen zu den Sonnwendtagen trafen, um den Göttern zu opfern.

Nuramon blickte auf. Wahrscheinlich hatte der Steinkreis auf dem niedrigen Hügel gelegen, wo nun am Tempel gebaut wurde.

Der Hufschlag ihrer Pferde hallte wie Trommelschlag auf dem Pflaster der Brücke. Einige der Arbeiter drehten sich um. Sie trugen schlichte Kittel und breitkrempige Hüte aus geflochtenem Stroh. Demütig neigten sie die Köpfe. Krieger galten viel in diesem Königreich.

Nuramons Blick schweifte über die Häuser der Stadt. Ihre Mauern waren aus unbehauenem Stein gefügt, sie wirkten grob und solide. Gemessen an dem, was die Menschen sonst zu Stande brachten, waren sie keine schlechte Arbeit. Die meisten Mauern waren gerade, und nur wenige der Dächer bogen sich unter der Last ihrer Schindeln.

Bevor sie die Brücke verließen, setzten sich Mandred und Alfadas an die Spitze der kleinen Reiterschar. Wer die beiden sah, der musste annehmen, dass Fürsten aus dem Wilden Norden mit geheimnisvollem Gefolge gekommen waren. Die Einwohner musterten sie voller Verwunderung, doch bald darauf gingen sie wieder ihrem Tagwerk nach. Offenbar war man hier an Fremde gewöhnt.

Dennoch herrschte in der Stadt eine Unruhe, die nichts mit ihnen zu tun hatte. Je weiter die Gefährten dem Tempel entgegenstrebten, desto spürbarer wurde sie. Irgendetwas ging in Aniscans vor sich. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Die Leute drängten sich durch die engen Gassen den Hügel hinauf. Bald gab es mit den Pferden kein Vorankommen mehr. Die Gefährten mussten absitzen und brachten die Tiere auf den Hof einer Taverne, wo Nomja, die Bogenschützin, mit ihnen zurückblieb. Sodann reihten sie sich erneut unter den Leuten ein, die wohl zum Tempel hin zusammenströmten. Es herrschte eine Stimmung, die Nuramon an eine Koboldhochzeit erinnerte. Alle rannten durcheinander und waren guter Dinge.

Nuramon schnappte Gesprächsfetzen auf. Man unterhielt sich über den Wunderheiler und seine sagenhaften Kräfte. Darüber, dass er am Vortag ein Kind gerettet hatte, das um ein Haar erstickt wäre, und darüber, dass immer mehr Fremde in die Stadt kamen, um Guillaume zu sehen. Ein älterer Mann erzählte stolz, dass der König Guillaume eingeladen hätte, an seinen Hof zu kommen und dort zu bleiben, doch der Priester hatte es offenbar abgelehnt, die Stadt zu verlassen.

Endlich erreichte der kleine Trupp den Platz vor dem Tempel. Aus dem Gedränge heraus war nur schwer abzuschätzen, wie viele sich hier versammelt hatten, doch es mochten Hunderte sein. Eingekeilt zwischen den schwitzenden und drängelnden Menschen, fühlte sich Nuramon zunehmend unwohl.

Es stank nach Schweiß, ungewaschenen Kleidern, ranzigem Fett und Zwiebeln. Aus den Augenwinkeln sah der Elf, wie sich Farodin ein parfümiertes Tuch vor die Nase hielt. Nuramon wünschte, er hätte sich auch auf diese Weise Erleichterung verschaffen können. Menschen und Reinlichkeit, das waren zwei Dinge, die einfach nicht zusammengingen – wie er es schon seit langem durch Mandred wusste. In den letzten drei Jahren war Nuramon ein wenig unempfindlicher gegen die vielfältigen Gerüche geworden, die einen vor allem in den Städten bestürmten. Doch der Gestank hier inmitten der Menschenmenge war wahrhaft überwältigend.

Plötzlich erklang weiter vorn eine Stimme. Nuramon reckte den Kopf, doch in dem Gedränge konnte er den Sprecher nicht erkennen. Er schien bei der großen Eiche zu stehen, welche die Mitte des Platzes beherrschte.

Die Stimme war wohlklingend, und der Sprecher war bestens mit allen Künsten der Rhetorik vertraut. Jede Silbe war mit Bedacht betont, so wie bei den Philosophen von Lyn, die sich jahrhundertelang in Disputen übten, um zur Vollendung ihrer stimmlichen Möglichkeiten zu gelangen. Dabei bestand die Kunst weniger darin, durch Argumente zu überzeugen, sondern die Worte so darzubieten, dass der Geist ganz der Stimme erlag. Es kam fast einem Zauber gleich, was dieser Mensch dort vorn vollbrachte.

Die Leute rings herum beachteten Nuramon und seine auffälligen Gefährten gar nicht mehr, so sehr hingen sie an den Lippen des Mannes.

Farodin drängte sich an Nuramons Seite. »Hörst du die Stimme?«

»Wundervoll, nicht wahr?«

»Das ist meine Sorge. Vielleicht sind wir am Ziel.«

Nuramon schwieg. Er fürchtete sich davor, was zu tun wäre, wenn dort vorn wirklich Noroelles Sohn sprach.

»Ollowain«, sagte Farodin, »du nimmst dir Yilvina und Gelvuun. Ihr geht links herum. Mandred und Alfadas, ihr nehmt die Mitte. Nuramon und ich werden rechts herumgehen. Wir werden ihn zunächst nur beobachten. Hier inmitten der Menschenmenge können wir nichts anderes tun.«

Die Gefährten trennten sich, und Nuramon ging Farodin voraus. Sie drängten sich vorsichtig durch die Reihen der Leute, die wie gebannt dastanden und lauschten. Deutlich übertönte die Stimme des Priesters das Gemurmel auf dem Platz. »Nimm die Kraft des Tjured an«, sagte er mit großer Sanftmut. »Sie ist ein Geschenk, das ich dir von ihm bringe.«

Kurz darauf rief jemand: »Seht nur, er ist geheilt! Die Wunde hat sich geschlossen!« Jubel erhob sich auf dem Platz.

Eine alte Frau fiel Nuramon um den Hals und küsste ihn auf die Wange. »Ein Wunder!« jauchzte sie. »Er hat wieder ein Wunder getan! Er ist der Segen dieser Stadt!« Nuramon schaute die Alte verständnislos an. Es musste wohl wahrlich ein Wunder sein, wenn sie einen Fremden küsste.

Nun erhob sich der Prediger vor ihnen aus der Menge. Er half einem sichtlich erleichterten Mann auf die Beine. »Das ist die Macht Tjureds, unseres Gottes!«

Nuramon erstarrte beim Anblick des Heilers. Er spürte, wie Farodin an seiner Seite ebenfalls in der Bewegung innehielt.

Der Priester stieg auf die niedrige Mauer des Brunnens neben der Eiche und sprach zu den Menschen. Doch Nuramon achtete kaum auf die Worte. Er war gefangen genommen von der Haltung und den Gesten des Mannes. Guillaume hatte schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Wie alle Priester des Tjured war er in eine nachtblaue Kutte gewandet. Sein Gesicht war oval, die Nase schmal, das Kinn sanft und der Mund geschwungen. Hätte Noroelle einen Zwillingsbruder gehabt, er hätte wohl so ausgesehen wie dieser Priester.

Dieser Mann war ihr Sohn!

Nuramon beobachtete, wie Guillaume sich einem Mann mit strähnigem, grauem Haar zuwandte, dessen Hand steif zu sein schien. Er fasste die Hand des Mannes und sprach ein Gebet.

Nuramon schrak zurück. Es war, als hätte etwas sein Innerstes ergriffen. Als hätte eine kraftvolle Hand seine Seele berührt. Nur einen Lidschlag lang währte dieses unheimliche Gefühl. Benommen taumelte der Elf zurück und stieß gegen eine junge Frau.

»Ist dir nicht wohl?«, fragte sie besorgt. »Du bist ganz bleich.«

Er schüttelte den Kopf und drängte sich vor bis zum Rand der Menge, die einen engen Kreis um den Brunnen gebildet hatte.

Der Mann, der zu Guillaume gekommen war, hob seine Hand. Er ballte sie zur Faust und streckte die Finger dann wieder. »Er hat mich geheilt!«, rief er mit sich überschlagender Stimme. »Geheilt!« Der Grauhaarige warf sich vor dem Priester zu Boden und küsste ihm den Saum des Gewandes.

Guillaume wirkte verlegen. Er nahm den Alten bei den Schultern und richtete ihn wieder auf.

Er kann zaubern wie seine Mutter, dachte Nuramon. Die Königin hatte sich geirrt. Noroelles Sohn war kein Dämonenkind. Ganz im Gegenteil. Er war ein Heiler.

Plötzlich drang ein Schrei durch die Menge. »Guillaume! Guillaume! Hier ist einer umgefallen!«

»Er ist tot!«, rief eine Frau mit schriller Stimme.

»Bringt ihn zu mir«, befahl der Heiler ruhig.

Zwei stämmige Männer mit Lederschürzen trugen eine hagere Gestalt zum Brunnen. Einen Mann in einem grauen Umhang! Guillaume schlug die weite Kapuze zurück. Vor dem Heiler lag Gelvuun.

Verwirrt blickte Nuramon zu Farodin. Dieser gab ihm durch eine Geste zu verstehen, dass sie abwarten sollten. Dann flüsterte er: »Hoffentlich macht Mandred keinen Unsinn!«

Jetzt ging ein Raunen durch die vorderen Reihen. Guillaume hatte Gelvuuns Haar zurückgestrichen. Deutlich waren die spitzen Ohren zu erkennen. Gelvuun, der sonst immer so mürrisch war, erschien nun friedlich wie ein schlafendes Kind.

Guillaume beugte sich über ihn. Der Priester wirkte aufgewühlt. Ob es nur der Anblick des Elfen war oder aber etwas anderes, vermochte Nuramon nicht zu sagen. Dann schaute sich Guillaume um, und Nuramon spürte, wie der Blick von Noroelles Sohn ihn streifte. Eiskalt lief es ihm über den Rücken. Die Augen des Heilers waren von leuchtendem Blau.

Der Prediger erhob sich und sprach: »Dieser Mann steht nicht unter dem Schutze Tjureds. Er ist ein Albenkind und kein Mensch. Ihm kann niemand mehr helfen. Er ist zu spät hierher gekommen. Und ich kann nicht erkennen, woran er erkrankt war. Es scheint, als hätte sein Herz einfach aufgehört zu schlagen. Aber es heißt, dass auch den Albenkindern ein Dasein jenseits des Lebens bestimmt sei. So betet für seine Seele. Ich werde seinen Körper mit allen Ehren bestatten, auch wenn er niemals zu Tjured gebetet hat. Die Gnade unseres Herrn ist unermesslich. Er wird sich auch dieses Elfen erbarmen.«

Noch einmal streifte Guillaumes Blick Nuramon. Es war etwas Lähmendes in diesen wunderschönen blauen Augen.

»Komm, Nuramon«, flüsterte Farodin. »Wir müssen fort.«

Sein Gefährte packte ihn und zog ihn mit sich durch das dichte Gedränge. Nuramon konnte das Gesicht und die Augen nicht aus seinem Kopf verbannen. Es war Noroelles Gesicht, es waren Noroelles Augen, die diesem Mann dort gehörten.

Mit einem Mal wurde er geschüttelt. »Wach auf!«, sagte Farodin harsch. Nuramon sah sich erstaunt um. Sie hatten den Platz verlassen und waren nun wieder in einer der engen Gassen. Er hatte nicht bemerkt, wie weit sie gegangen waren. »Das war Noroelles Gesicht!«, sagte er.

»Ich weiß. Komm!«

Sie fanden Nomja und die Pferde. Mandred und Alfadas kamen wenige Augenblicke später auf den Hof. Sie führten Yilvina zwischen sich. Die junge Elfe war blass und schien sich kaum aus eigener Kraft auf den Beinen halten zu können.

Mandred war ganz außer sich. »Habt ihr das gesehen? Verdammt! Was ist geschehen?«

Farodin schaute sich um. »Wo ist Ollowain?«

Alfadas deutete zum Eingang des Hofs. »Da kommt er!«

Dem Schwertmeister stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Kommt! Wir sind hier nicht mehr sicher.« Er blickte zurück zur Straße. »Lasst uns Abstand zu diesem Dämonenkind gewinnen. Los! Auf die Pferde und raus aus der Stadt!«

»Was ist mit Gelvuun geschehen?«, fragte Nomja.

Nuramon schwieg. Er dachte an die fremde Macht, die nach seinem Innersten gegriffen hatte, an die blauen Augen und daran, wie sehr Guillaume ihn mit jeder seiner Gesten an Noroelle erinnerte. Nun war Gelvuun tot, und Yilvina sah so elend aus, als wäre sie dem Tode nur knapp entgangen.

»Was ist geschehen?«, fragte nun auch Ollowain und wandte sich an die blasse Elfe.

Yilvina rang um Atem. »Er hat sich weiter vorgedrängt … Bis fast an den Rand der Menge. In dem Augenblick, als der Priester die Hand des alten Mannes ergriff …« Sie blickte zum Himmel. Tränen standen ihr in den Augen. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es war, als griffe eine Kralle in meine Brust hinein, um mir das Herz zu zerreißen.« Sie fing an zu schluchzen. »Es war … Ich konnte den Tod spüren … Den ewigen Tod, ohne Hoffnung auf Wiedergeburt oder den Weg ins Mondlicht. Wäre ich nicht um ein paar Schritt zurückgeblieben …« Sie konnte nicht mehr weiter sprechen.

»Er hat euch bemerkt und sofort angegriffen?«, fragte Nomja.

Ollowain zögerte. »Ich bin mir nicht ganz sicher … Ich glaube nicht, dass es ein Angriff war. Es geschah in dem Augenblick, als er den alten Mann heilte. Ich konnte seine Macht spüren … Yilvina hat Recht. Auch ich fühlte plötzlich den Tod.«

Mandred wandte sich an Nuramon. »Wie hat er das gemacht?«

Der Menschensohn überschätzte Nuramons Fähigkeiten. Nur weil er einmal über sich hinausgewachsen war und Farodin geheilt hatte, fragte der Mensch ihn bei allem, was im Entferntesten mit Magie zu tun hatte, nach seiner Einschätzung. »Ich habe keine Ahnung, Mandred.«

»Aber ich kann es dir sagen!«, mischte sich Ollowain ein. »Die Magie des Dämonenkindes ist durch und durch böse! Sie kann uns auf der Stelle töten. Ein einfacher Zauber, der einen Menschen heilt, kann uns vernichten. Mir ist jetzt klar, welche Gefahr die Königin in Noroelles Sohn sieht. Wir müssen ihn töten.«

»Das werden wir nicht tun!«, sagte Nuramon entschieden. »Wir werden ihn zur Königin bringen!«

»Dieser falsche Heiler dort kann uns alle mit einem Zauber erledigen!«, sagte Ollowain. »Ist dir das klar?«

»Ja, das ist es.«

»Wie willst du ihn zwingen, die Stadt zu verlassen?«

»Ich werde ihn nicht zwingen. Er wird freiwillig mit uns kommen. Er wusste nicht, was seine heilenden Hände unserem Gefährten antaten. Er ist nicht das Dämonenkind, das die Königin erwartet hat.«

»Du willst dich gegen die Königin wenden? Sie hat uns ausgesandt, ihn zu töten!«

»Nein, Ollowain. Die Königin sandte _mich_ aus, um ihn zu töten. Ich allein muss mich vor der Königin rechtfertigen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann«, sagte Ollowain langsam. »Warum, Nuramon? Warum hast du deine Meinung geändert?«

»Weil ich das Gefühl habe, dass es ein verhängnisvoller Fehler wäre, Guillaume zu töten. Es kann nichts Gutes daraus erwachsen. Wir müssen ihn vor die Königin bringen. Dann kann sie ihn von Angesicht zu Angesicht sehen und über ihn entscheiden. Lasst mich mit ihm sprechen. Wenn ich bis morgen Mittag nicht zurück bin, dann könnt ihr ihn erledigen.«

Ollowain schüttelte den Kopf. »Du willst ein Dämonenkind, dessen Magie uns Elfen tötet, an Emerelles Hof bringen? Geh nur! Rede mit ihm! Wir werden dich nicht lebend wiedersehen! Du hast bis morgen zur Abenddämmerung Zeit, dann hole ich ihn auf meine Weise. Bis dahin lagern wir außerhalb der Stadt.«

Nuramon suchte in den Mienen der anderen nach Unterstützung. Doch keiner widersprach Ollowain, selbst Mandred nicht. Auf ein Zeichen des Schwertmeisters saßen sie auf. Alfadas nahm Gelvuuns und Nuramons Pferde bei den Zügeln.

Farodin war der letzte der kleinen Reitertruppe, der den Hof verließ. Er beugte sich aus dem Sattel zu Nuramon herab. »Bist du sicher, dass du dieses Wagnis eingehen möchtest? Was, wenn es dir ebenso ergeht wie Gelvuun?«

Nuramon lächelte. »Dann sehen wir uns im nächsten Leben wieder.«

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