Auf Yulivees Spuren

Nuramon konnte noch immer kaum fassen, dass der Dschinn in Valemas tatsächlich die Wahrheit gesprochen hatte. Auch wenn die Sehnsucht nach Noroelle ihn bereitwilllig der Spur hatte folgen lassen, hatte er insgeheim Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Geistes gehegt. Nun aber zeigte sich, dass er gut daran getan hatte, seinen Gefährten von Iskendria zu erzählen.

Sie waren seit nunmehr neun Tagen hier. Davon hatten er und Farodin allein fünf Tage damit verbracht, die Gedichte der Blütenfeen abzuschreiben. Seither suchten sie nach Aufzeichnungen über die magischen Barrieren. Es war spannend, im unendlichen Wissen dieser Hallen zu stöbern. Und selbst Mandred wurde es in diesen Hallen nicht langweilig. Er erkundete die Bibliothek und genoss die üppigen Speisen, die ihnen in ihren Quartieren aufgetischt wurden. Und der Weinkeller war rasch zu seinem Lieblingsort geworden. Von dem gesammelten Wissen interessierten ihn nur die aegilischen und angnosischen Sagen. Zu Nuramons Erstaunen ließ Mandred sich die Erzählungen von einem Kentauren auf Dailisch vortragen. Diese Sprache war zwar verglichen mit dem Elfischen leicht zu erlernen, doch Mandred hatte sie sich in nur einem Winter mit Hilfe der beiden Kentauren am Hof der Königin angeeignet – was eine Leistung für einen Menschen war. Der Jarl hatte so sehr Gefallen an den Sagen von Eras dem Pandriden und Nessos dem Telaiden gefunden, dass Nuramon ihn im Scherz _Mandred den Torgriden_ nannte und dem Geschlecht der Mandriden eine großartige Zukunft voraussagte.

Farodin hatte sich in eine Studierstube zurückgezogen. Die Hüter des Wissens hatten ihm einen Gehilfen zugewiesen, einen jungen Elfen namens Elelalem, den alle schlicht Ele nannten. Farodin sandte den Ärmsten durch die ganze Bibliothek, um Schriften zusammenzutragen. Da der Jüngling alle Sprachen kannte, die in dieser Bibliothek vonnöten waren, diente er Farodin oftmals als Übersetzer. Sein Gefährte wollte zum einen sein Wissen über den Torzauber erweitern. Außerdem suchte er nach Erzählungen über die Barrieren und wollte mehr über die Sandkörner herausfinden.

Nuramon dachte nach wie vor, dass die Sandkörner nicht die Lösung sein konnten. Gewiss, Farodin hatte ein paar Dutzend zusammengetragen, aber es musste andere Möglichkeiten geben. Statt hier an diesem Ort des Wissens auf ausgetretenen Pfaden zu suchen, hatte Nuramon nach neuen Wegen Ausschau gehalten. Er kam gerade von den Pferden, die er aus dem Stall des Gasthauses geholt und nun bei einer Elfe untergestellt hatte, die unerkannt unter den Menschen lebte. In der Stadt hieß es, sie wäre die Witwe eines wohlhabenden Händlers und eine der reichsten Frauen von Iskendria. Um von den Menschen nicht erkannt zu werden, verbarg sie ihre Ohren und ihr Gesicht unter einem Schleier und offenbarte sie nur den Albenkindern. Ihr Name war Semla. Nuramon fragte sich, wie sie auf lange Sicht die Tatsache verbergen wollte, dass sie nicht alterte. Der Schleier mochte ihr ein Menschenleben lang hilfreich sein. Doch was geschah dann? Kam dann eine Nichte aus einer fernen Stadt, um ihren Wohlstand zu erben?

Vom Anwesen Sem-las führte ein breiter Gang unterirdisch zu einem Tor, durch das man in das Wohnviertel der Bibliothek gelangte. Nirgendwo hatte Nuramon von solch einer Nähe zwischen den Albenkindern und den Menschen gehört. Sem-la hatte ihm erzählt, dass ihre Beziehungen in die ganze Welt reichten. Sie trieb sowohl mit den Menschen als auch mit anderen Albenkindern und deren Siedlungen Handel. Als Nuramon davon gehört hatte, war ihm zum ersten Mal klar geworden, dass die Welt der Menschen und auch die Zerbrochene Welt kein Exil waren, in das Albenkinder gingen, um von Emerelle unabhängig zu sein. Hier ließ es sich gut leben, auch wenn die Speisen, die Sem-la lieferte, Menschenspeisen waren und an die in Albenmark nicht heranreichten. Doch wer hierher kam, der war an die Menschenwelt gewöhnt.

Über eine breite Treppe erreichte Nuramon endlich den Ort, an den ihn Gengalos verwiesen hatte. Es war eine schmale Halle, die weit in die Höhe reichte. Zur Linken wie auch zur Rechten ragten Regale auf, in denen dicke Folianten ruhten. Nuramon war darüber ein wenig erstaunt, denn in Albenmark vertraute man das Wissen selten Büchern an. Die Eltern lehrten einen, was man wissen musste, und die Weisen erzählten das Bedeutsame. Und wenn man eine Frage hatte, dann wandte man sich an jemanden, der sie beantworten konnte. Nuramon fragte sich im Stillen, wie viele tausend Tiere wohl für all das Pergament dieser Bände ihre Haut hatten lassen müssen.

Aus einer Nische trat ein alter Gnom hervor. »Bist du schwindelfrei?«, fragte er mit krächzender Stimme.

»Ja, das bin ich«, sagte Nuramon.

»Gut, dann muss ich nicht in die Höhe klettern. Ich bin nicht mehr der Jüngste.« Der Alte hielt sich den Rücken. »Ein Leben in dieser Halle! Das bringt zwar Schmerzen, aber sieh nur, wie prachtvoll dies alles ist!« Er deutete in die Höhe.

An jedem der Regale waren schmale Holzstege angebracht, die als Weg dienten. Hoch oben sah Nuramon eine Gestalt. Sie trug einen weiten Umhang und schien neben dem Regal zu schweben. Zwischen den Regalen öffneten sich einige große Nischen in der Wand; offenbar konnte man sich dorthin zurückziehen, um zu lesen. Geschickt platzierte Barinsteine verliehen der gesamten Halle einen feurigen Schein.

»Was führt dich her?«, fragte der Alte.

»Gengalos schickt mich. Hier soll es ein Buch über die Elfe Yulivee geben.«

»Ah, Meister Gengalos! Er hat dich in den richtigen Saal verwiesen. Wir haben hier nicht nur Aufzeichnungen über Yulivee, sondern auch eine Sammlung der Schriften von Yulivee. Es waren eigentlich nur einzelne Erzählungen, aber wir haben sie schließlich zu einem Buch gebunden. Vielleicht interessiert dich das ja.«

Nuramon konnte sein Glück kaum fassen. »Gewiss. Wo kann ich es finden?«

»Du gehst hier bis zum dreiundzwanzigsten Regal und kletterst dann bis zum einhundertvierundfünfzigsten Bücherbrett nach oben. Dort wirst du auf Yulivees Erzählungen stoßen.« Der Gnom trat zu den Regalwänden. »Klettere über die Leitern bis dorthin. Auf dem Steg kannst du dich gut bewegen, da gibt es Sitzbretter, die du hervorziehen und auf denen du Platz nehmen kannst.«

Nuramon nickte nur. Das Regalbrett, das er suchte, mochte fünfzig Schritte über ihm liegen. Das war keine Höhe, die ihm Angst bereitete. Er schaute noch einmal zu der Gestalt hinauf, die er dort oben gesehen hatte.

»Das ist Meister Reilif«, erklärte der Gnom.

»Ein Hüter des Wissens?«, fragte Nuramon leise.

»Ja, er kommt oft hierher und lässt es sich nicht nehmen, selbst bis dort hinauf zu klettern. Du musst wissen, dass ich verpflichtet bin, für den Wissbegierigen jedes Buch zu holen, wenn er es wünscht.«

Nuramon lächelte den Gnom an. »Aber wie du schon gesagt hast: Da ich schwindelfrei bin, brauchst du dich nicht zu bemühen.«

»Ich danke dir, Elf. Und ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist. Es heißt, ein Menschensohn befinde sich in der Bibliothek, er habe die Barriere durchbrochen. Ein grober Kerl, der nur säuft und frisst und Schmutz macht.«

»Er heißt Mandred, und er ist einer meiner Gefährten.«

Der Alte wurde rot.

»Wie ist dein Name?«, fragte Nuramon und legte seinen Waffengurt unter den ängstlichen Blicken des Alten ab. Offenbar fürchtete der Gnom, er werde sein Schwert ziehen.

»Builax«, antwortete der Alte mit zitternder Stimme.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich kenne meinen Gefährten sehr gut. Und im Augenblick trifft deine Einschätzung zu. Mein Name ist Nuramon, und ich möchte dir mein Schwert anvertrauen.« Er überreichte Builax die Waffe. Die Furcht verschwand so schnell aus dem Gesicht des Gnoms, wie sie gekommen war. Er legte das Schwert in eine Nische zu seinen Schreibutensilien und weiteren Habseligkeiten, dann führte er Nuramon die Bücherwand entlang. Vor dem dreiundzwanzigsten Regal blieben sie stehen.

»Das gesuchte Buch ist das achte in der Reihe.« Nuramon machte sich an den Aufstieg über Sprossen und Leitern. Als er das einhundertvierundfünfzigste Regalbrett erreicht hatte, wurde er unruhig. Hier sollte das Buch mit Yulivees Schriften stehen – der Schlüssel zu Noroelle. Vorsichtig betrat er den Steg, der seinen Füßen einen guten Halt bot und breit genug war, um darauf zu gehen. Nuramon ließ die Hände über die Buchrücken des gesuchten Regalbretts gleiten. Das achte Buch zog er hervor. Es war in hellbraunes Leder eingebunden und unterschied sich in seiner Schlichtheit kaum von den Büchern links und rechts. Weder auf dem Buchdeckel noch auf dem Buchrücken waren Schriftzeichen oder Verzierungen zu sehen. Als er den Band aufschlug, stellte er fest, dass auch dort keine Ornamente oder Schmuckseiten zu finden waren. Der Titel war nicht einmal besonders hervorgehoben, sondern füllte vier Zeilen, auf die unmittelbar der Text folgte. Nuramon musste schmunzeln. Dieses Buch galt offensichtlich nicht als wertvoll. Man hatte auf alles verzichtet, was ihm einen besonderen Glanz verliehen hätte. Für Nuramon aber war es von unschätzbarem Wert. Andächtig las er den Titel: _Die Erzählungen der Yulivee, die aus Albenmark auszog, die Welt der Menschen durchwanderte und in der Zerbrochenen Welt die Stadt Valemas neu gründete, von ihr selbst vorgetragen in Anwesenheit der Hüter des Wissens und aufgezeichnet von Fjeel dem Flinken_.

Es war die Erzählung einer Elfe, die aus freien Stücken mit den Ihren aus Albenmark fortgegangen war. Wie Nuramon war auch sie auf der Suche gewesen, und auch sie hatte die Magie der Albensterne enträtseln müssen, ehe sie ihr Ziel erreichte. Nuramon hoffte inständig, mit Yulivees Buch einen Pfad betreten zu haben, der ihm mehr Hoffnung schenken würde als Farodins sandiger Weg.

Die Erzählungen der Yulivee

Die Fragen der Hüter des Wissens

Ihr habt mich gefragt, wo ich meine Magie erlernt habe, und ich werde euch antworten. So vernehmt, dass ich bereits in Albenmark der Magie mächtig war. Ich beherrschte die Zauber des Lichtes, des Lebens und des Scheins. Und all jene waren mir in der neuen Oase Valemas von Nutzen. Wir fanden in der Zerbrochenen Welt ein wüstes Land wie in unserer Heimat. Ich schuf dort ein Himmelstuch, einen See, eine Illusion und vieles mehr.

Als ich Albenmark verließ, führte ich meine Gefährten durch ein festes Tor. Damals wusste ich wenig von den Pfaden und den Sternen der Alben. Die Reise ist der beste Lehrmeister, und ich war eine aufmerksame Schülerin. So fremd die Welt der Menschen auch ist, es leben viele Albenkinder an versteckten Orten – Einsiedler, die altes Wissen hüten. Und wir trafen andere Gemeinschaften, die aus Albenmark ausgezogen waren. Mit ihnen tauschten wir uns aus. Wir lehrten sie, was wir wussten, und sie brachten uns das ihre bei.

Doch nirgends habe ich so viel gelernt wie bei dem Orakel Dareen. Sie ist das einzige Orakel, das Albenmark je verließ, um in die Menschenwelt zu gehen. Sie lebt nicht in der zerbrochenen Welt. Wer in der Welt der Menschen durch ihre Pforte schreitet, der verlässt diese nicht, sondern findet sich an einem fernen Ort wieder. Dort darf er Dareens Weisheiten lauschen. Sie wies mir den Weg und öffnete mir den Geist für mich selbst. Ich sah den Albenstern in der Wüste, der das Tor zum neuen Valemas werden sollte. Ich hatte mein Ziel vor Augen. Und von da an suchte ich die Nähe zu diesem Ziel. Dareen veränderte mein Leben mit einigen wenigen Worten und Bildern. Für mich brach eine Welt auf, von deren Vorhandensein ich nie zuvor etwas geahnt hätte.

Ihr fragt mich, wo sich Dareen verbirgt? Nun, ich kann euch nicht mehr offenbaren, als ich bereits gesagt habe. Denn ein Schwur bindet mich.

Aus: _Band 23/154/8_, Blatt 424.A Der Schmalen Halle

in der Verborgenen Bibliothek zu Iskendria

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