Mandred ritt an der Seite Nuramons in einen großen Wald hinein. Hier irgendwo sollte sich das Haus des Elfen befinden. Farodin war bei seiner Familie. Er wollte am Abend kommen, um mit ihnen zu beraten, was zu tun blieb, da die Königin alle Weltentore bewachen ließ. Nuramon wirkte niedergeschlagen. Das konnte Mandred ihm gut nachfühlen, hatte ihm die Königin doch jede Hoffnung zunichte gemacht, Noroelle jemals wiederzusehen.
Der Wald war Mandred unheimlich. Er konnte sich hier nicht orientieren, die Bäume schienen seine Sinne zu verwirren. Je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto schwerer fiel es ihm einzuschätzen, in welche Richtung sie ritten. Vielleicht lag es am Weg, den Nuramon wählte. Mandred beobachtete seinen Gefährten; es kam ihm so vor, als ließe der Elf sein Pferd den Weg wählen. Dieses bewegte sich so zielstrebig durch den Wald, dass es kaum die Richtung ändern musste. Offenbar kannte es den Weg zu Nuramons Haus.
Es gab keine Hindernisse, die sie überwinden mussten, und der Pfad verlief eben. Genau das mochte es sein, was Mandred verwirrte. Von der Ferne hatte es so ausgesehen, als ragte in der Mitte des Waldes ein mit Bäumen bestandener Hügel auf. Längst hätten sie dessen Ausläufer erreichen müssen. Aber rings herum gab es nichts, das sich höher erhob als ein Ameisenhügel. Vielleicht verwirrte ihn aber auch das vielfältige Leben, das ihn hier umgab: all die Vögel, all das Wild, das sich nicht scheute, sie aus der Ferne zu beobachten, so als wollte es sehen, wie Nuramon heimkehrte.
Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto größer und älter wurden die Bäume. Die Vielfalt der elfischen Wälder überraschte Mandred immer wieder aufs Neue. Hier stand Eiche neben Pappel, Birke neben Tanne und Buche neben Weide.
Und alles harmonierte miteinander. Es schien fast so, als wären die Bäume mit Absicht so gewachsen, dass sie zu ihrem Nachbarn passten. Er musste an Aikhjarto denken.
»Wie viele von diesen Bäumen sind so wie der alte Atta Aikhjarto?«, fragte er den Elfen.
Nuramon sah ihn an, als hätte er mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Frage.
»Sind die Bäume auch Albenkinder?«, setzte er nach und überraschte Nuramon abermals.
»Aber ja!«, antwortete der Elf. »Nur die beseelten natürlich. Doch in diesem Wald gibt es nicht mehr viele von ihnen. Die Zeiten sind vorüber, da der große Alaen Aikhwitan Rat hielt.«
»Alaen Aikhwitan? Ist das ein Bruder von Atta Aikhjarto?«
»So kannst du es sehen. Die Eichen sind die Ältesten. Manche sagen, sie seien die ersten Albenkinder. Du wirst Aikhwitan schon bald sehen.« Nuramon lächelte, und Mandred konnte nicht entscheiden, ob es ein schelmisches oder aber ein freundliches Lächeln war. Gefühle in den Gesichtern von Elfen zu lesen fiel ihm immer noch schwer.
Sie ritten an immer größeren Bäumen vorüber, und Mandred fragte sich, wie mächtig wohl Alaen Aikhwitan sein mochte. Wie weit mochte dessen Macht wohl reichen? »Trugen all diese Bäume einmal eine Seele?«
»Ja. Sie gehörten zu einem großen Rat. Doch das ist lange her. Und einzig Alaen Aikhwitan ist vom Rat übrig geblieben. Die anderen beseelten Bäume sind viel jünger.«
Ehrfürchtig sah Mandred sich um. Wenn die Bäume einst einen Rat gebildet hatten, dann war der Wald nun wie eine leere Ratshalle, in der nur noch das Oberhaupt saß. Wie einsam musste sich Aikhwitan fühlen!
Das Geäst der Bäume über ihren Häuptern war dicht verwoben, fast wie fein gewebter Stoff. Die Sonne blieb hinter dem hölzernen Dach verborgen; nur selten stach ein Speer aus Licht hinab zum Boden. Die Stämme wirkten wie Säulen, die Riesen erbaut hatten. Die feierliche Stimmung schien Nuramons Trübsinn zu vertreiben. Er wirkte gelöster.
Sie wichen einem mächtigen Baumstamm aus. Mandred drehte sich im Sattel und blickte zurück. Es war eine Tanne! In seiner Welt gab es nicht einmal Eichen, die einen solchen Stamm hatten.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Nuramon lachend.
»Ganz schön groß, eure …« Mandred brach mitten im Satz ab. Sie hatten den Rand einer Lichtung erreicht. In ihrer Mitte ragte eine riesige Eiche empor. Als gäbe es für diesen Baumgiganten keine anderen Jahreszeiten als den Frühling und den Sommer, trug er noch Blätter. Er war so mächtig, dass der Schatten des Stammes bis zum gegenüberliegenden Waldrand reichte.
Mandred hielt den Atem an. Der Stamm der Eiche war so gewaltig wie eine Klippe. Er sah nicht aus wie ein Baum, sondern wie etwas, auf dem Bäume wuchsen. Eine hölzerne Stiege klomm in weiten Windungen den Stamm hinauf. Und dicht unter der Krone sah Mandred ein einzelnes Fenster. Er stutzte. Dieses Fenster musste wirklich groß sein, auch wenn es sich im Vergleich zum Stamm winzig ausnahm. »Du wohnst doch nicht etwa da?«, fragte Mandred.
»Doch. Dort auf Alaen Aikhwitan wohne ich«, antwortete Nuramon gelassen.
»Auf diesem Riesenbaum?«
»Ja.«
»Aber du sagtest, er sei beseelt.« Die Vorstellung, auf etwas zu wohnen, das denken konnte, fand Mandred sehr befremdlich. Da musste man sich ja wie der Floh im Pelz eines Hundes fühlen!
»Er ist sehr gastfreundlich, das kann ich dir versichern. Seit vielen Generationen lebt meine Familie dort.«
Plötzlich senkte Nuramon den Blick. Er dachte gewiss an die Schmach, die auf seiner Familie lag. Mandred konnte das nicht verstehen. Die Wiedergeburt! Die Menschen träumten davon, doch für Nuramon schien es ein Fluch zu sein. Manche Albenkinder warteten wohl Jahrtausende auf ihre Erlösung. Jahrtausende … Das war leicht dahingesagt, doch Mandred merkte, dass er dieses Wort nicht wirklich mit Inhalt füllen konnte. Eine so gewaltige Lebensspanne war für einen Menschen nicht vorstellbar. Den Elfen aber erlaubte sie, alles, was sie taten, bis zur Perfektion zu vollenden. Ob sie sich wohl an ihre früheren Leben erinnerten, wenn sie wiedergeboren wurden? Mandred dachte an das Fest vor zwei Nächten. Sah es so aus, wenn ein Elf ins Mondlicht ging? Es war wahrhaft schön und zugleich bedrückend gewesen. Fremd. Was dort auf dem Hügel geschehen war, war nicht für Menschenaugen bestimmt gewesen!
Sie stiegen aus dem Sattel und führten die Pferde der Eiche entgegen. Mit jedem Schritt erschien der Baum Mandred bedrohlicher. »Wer ist mächtiger, Aikhjarto oder Aikhwitan?«, fragte er schließlich.
Nuramon schüttelte den Kopf. »Wie wichtig euch Menschen die Macht ist! Aber ich schätze, du willst wissen, wo dein Aikhjarto im Gefüge dieser Welt steht. Nun, ich kann dir darauf nur sagen: Aikhjartos Macht liegt in dem Weltentor, in seiner Weisheit und seiner Freigebigkeit.« Er deutete voraus. »Die Macht Aikhwitans liegt in seiner Größe, seinem Wissen und seiner Gastfreundschaft.«
Mandred war unzufrieden mit der Antwort. Diese Elfen mussten immer über Umwege reden! Wollte Nuramon damit sagen, dass man die beiden nicht miteinander vergleichen konnte? Oder waren sie einander ebenbürtig? Elendes Elfengeschwätz! Gab es bei ihnen denn nie eine einfache Antwort?
Der Elf sprach weiter. »Du musst dir keine Sorgen machen, Mandred. Schau, wie ruhig die Blätter sich im Wind wiegen, wie geschickt sie mit dem Licht spielen! Schau dir die Rinde an! Die Furchen sind so breit und tief, dass ich als Kind mit meinen Händen hineingegriffen habe und sogar meine Füße dort Halt fanden. Ich bin daran von hier unten bis hinauf ins Haus geklettert. Er mag in seiner Größe bedrohlich wirken, aber der alte Aikhwitan hat eine gute Seele.«
Mandred musterte den Baum genauer, sah die Blätter, von denen Nuramon gesprochen hatte, und das gedämpfte Licht. Dort oben wirkte es tatsächlich friedlich.
Sie erreichten den Aufgang, der aus hellem Holz gezimmert war. Hier sattelten sie die Pferde ab. Und Mandred fragte sich, wo der Stall für die Tiere war. Selbst die Königin hatte einen Stall auf ihrer Burg gehabt. Nuramon machte keine Anstalten, die Pferde irgendwo hinzuführen. Er befreite die Tiere vom Zaumzeug und legte es zu den Sätteln an den Stamm der Eiche. »Die laufen schon nicht fort«, sagte er dann. »Lass uns hinaufgehen.«
Nuramons Pferd war treu, aber Mandreds Stute hatte ihm die Grobheiten der letzten Monde gewiss noch nicht verziehen. Es wäre zu schade, sie zu verlieren! Widerstrebend folgte er dem Elfen.
Nachdem sie auf der Stiege zum ersten Mal den mächtigen Stamm umrundet hatten, blickte Mandred nach oben. Es lag noch ein weites Stück Weg vor ihnen. Was machte Nuramon, wenn er mal betrunken nach Hause kam? Schlief er dann unten bei den Wurzeln? Andererseits hatte er seinen Freund noch nie betrunken erlebt. Im Gegensatz zu Aigilaos verstanden die Elfen einfach nichts vom Feiern und Saufen. Mandred fragte sich, wozu sie überhaupt feierten.
Um sich zu vergewissern, ob es stabil war, rüttelte der Jarl an dem Geländer der Treppe. Gute Zimmermannsarbeit! Daran konnte man sich immerhin festhalten, wenn einem der Schädel brummte.
Nuramon lief mit federnden Schritten voraus. »Komm! Das musst du dir ansehen!«
Mandred folgte dem Elfen. Sein Atem ging schwer. Verrückt, auf so einem Baum zu wohnen! Vernünftige Leute mussten nur einen Schritt tun, um über die Schwelle in ihr Heim zu gelangen. Verfluchte Kletterei!
Inzwischen waren sie so hoch, dass sie über die Baumkronen hinweg blicken konnten. Nuramon deutete auf verschneite Berggipfel am Horizont. »Das sind die Ioliden. Dort lebten einst die Kinder der Dunkelalben.«
Mandred gefiel der Klang des Namens nicht. Dunkelalben! Und deren Kinder! Das mussten die legendären Dunkelelfen sein, von denen man sich in seiner Welt schlimme Geschichten erzählte. Es hieß, sie zerrten die Menschen in Felsspalten, um dort ihr Fleisch zu fressen. Bei Nacht konnte man sie nicht sehen, weil ihre Haut so schwarz war wie die Finsternis. Mit diesen Wesen wollte Mandred nichts zu tun haben, und es wunderte ihn, dass Nuramon so seelenruhig von ihnen sprach. Der Elf war mutiger, als er zugeben mochte.
Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück und hielten vor dem Eingang zum Haus an. Von hier aus konnte man bis zur Burg der Königin und über das umliegende Land blicken. Irgendwo jenseits der Burg musste die Shalyn Falah und dahinter das Weltentor liegen. Alles andere war Mandred fremd. Gewiss hatte kein Mensch je das ganze Land erkundet, das hier vor ihnen lag. Seitdem sie Firnstayn verlassen hatten, hatte Mandred darüber nachgedacht, was er als Gestrandeter im Elfenreich anfangen sollte. Was blieb ihm hier zu tun, was ein Elf nicht unendlich viel besser zu tun vermochte?
Er musste an Aigilaos denken. Würde er doch noch leben! Mit ihm durch die Wälder zu streifen, zu jagen und zu trinken, sich gegenseitig erfundene Heldentaten zu erzählen und feine Elfendamen bei Hof mit derben Komplimenten zu verschrecken… Das wäre ein Leben gewesen! Mandred lächelte stumm in sich hinein. Er vermisste den Kentauren. Und er wäre ihm der beste aller Gefährten gewesen! Mandred war entschlossen, seine Blutfehde mit dem Devanthar zu Ende zu führen. Er wusste nicht, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Und er wusste auch nicht, wie er Albenmark verlassen sollte, nachdem Emerelle nun die Tore bewachen ließ. Aber er würde einen Weg finden! Das war er Aigilaos schuldig … Und Freya!
Nuramon schob die runde Tür auf, die weder verschlossen noch verriegelt schien. Offenbar hatten die Albenkinder keine Angst vor Räubern. Der Elf zögerte einzutreten. »Die Andere Welt hat mir den Sinn für die Zeit verwirrt«, sagte er. »Mir ist, als wären nicht Jahre, sondern Jahrhunderte vergangen.«
»Es ist nicht die Zeit, sondern das Schicksal.«
Nuramon stutzte. »Was hast du da gesagt?«
»Das sind nicht meine Worte«, entgegnete Mandred verlegen. »Ein Priester des Luth sprach sie einst. Er sagte: _Die Zeit mag lang erscheinen, wenn das Schicksal sich vielfältig zeigt_.«
»Das sind die Worte eines klugen Mannes, und es ist ein Zeichen von Weisheit, sie im Gedächtnis zu behalten.«
Mandred war zufrieden. Endlich erhielt er mal ein wenig Anerkennung abseits von Kraft und Kampf.
»Komm, sei Gast in meinem Haus.« Der Elf deutete mit einer einladenden Geste ins Innere des Baumes.
Mandred trat ein. Ihm fiel sogleich der besondere Duft von Nuramons Heim auf. Es roch nach frischen Nüssen und Blättern. Die Wände des Hauses und auch die Tür bestanden aus demselben Holz wie die Stiege, auf der sie heraufgekommen waren. Das Licht, das durch das Laub gedämpft durch die Fenster drang, verteilte sich so gut, dass zwar an manchen Stellen ein wenig Schatten herrschte, es aber nirgendwo völlig dunkel war. Mandred sah rotbraune Barinsteine in den Wänden. Sie erinnerten ihn an die Jagdzimmer auf der Burg der Königin und daran, wie sie bei Nacht zu glühen begonnen hatten. Welche Kostbarkeit wäre auch nur ein einziger dieser Steine in der Menschenwelt!
Ein kühler Hauch durchwehte den Raum, und auf dem Boden waren einige Blätter der Eiche zu sehen. Doch das Laub war nicht verwelkt, sondern lebte, so als wäre es auch jetzt noch Teil des Baumes. Mandred schaute sich um und fragte sich, warum man bei all den Öffnungen keine Zugluft im Haus spürte.
Die Möbel waren eher schlicht gehalten und fügten sich in die Atmosphäre des Zimmers ein. Hier gab es nichts Überflüssiges, und gerade das ließ es schön erscheinen. Nichts wirkte zerbrechlich, sondern alles war so robust wie die Eiche selbst.
Eine Holztreppe wand sich in die oberen Stockwerke, die von draußen wegen des dichten Blätterwerks nicht zu sehen gewesen waren. Dieses Geschoss lag so, dass der Stamm der Eiche teilweise ausgehöhlt war. Mandred fragte sich, wieso Alaen Aikhwitan dem zugestimmt hatte. Was mochten Nuramons Vorfahren für Heldentaten vollbracht haben, um zu dieser Ehre gelangt zu sein? Die abgerundeten Decken gingen so sanft in die Wände über, dass es schien, als wäre das Holz Aikhwitans mit dem helleren der Wände und des Bodens verschmolzen. »Von welchem Baum stammt dieses helle Holz?«, fragte Mandred.
Nuramon legte sein Gepäck auf einer Bank ab. »Das ist das Holz der Ceren.«
»Ist das eine Baumart?«
»Meine Mutter sagte, es sei eine Birke gewesen. In jener Nacht vor der Elfenjagd erfuhr ich, dass ihr Name Ceren war. Sie muss unter den Bäumen eine Legende sein.«
»Hm. Wird mich Aikhwitan hier dulden? Gewiss hat noch kein Mensch seinen Fuß in dein Haus gesetzt.«
Nuramon lächelte. »Du hast es doch bis hierher geschafft. Und fühlst du dich nun etwa unwohl?«
Das konnte Mandred nicht behaupten. Er fühlte sich sicher und geborgen. Noch einmal schaute er sich um. »Und hier wohnt niemand sonst? Dein Haus sieht nicht so aus, als ob es über dreißig Jahre lang niemand mehr betreten hätte.«
Nuramon machte ein verständnisloses Gesicht. »Wie meinst du das?«
»Ich sehe keinen Staub, keinen Schmutz. Nur diese Blätter da am Boden. Aber irgendwie scheint es, als gehörten sie hierher.«
»Es ist noch so, wie ich es verlassen habe.«
Diese Elfen hatten ein einfaches Leben. Vermutlich kümmerte sich der Baum darum, dass es sauber blieb, und Nuramon hatte nicht einmal darüber nachgedacht.
Während Nuramon mit seinen Sachen nach oben ging, schaute Mandred sich in den angrenzenden Zimmern um. Obwohl er noch nie hier gewesen war, kam ihm das Haus vertraut vor. Vielleicht war es, weil er Nuramon kannte und dessen Heim zu ihm passte.
In der Mitte des Baumhauses befand sich ein großer Raum mit einem langen Esstisch. Welch eine Verschwendung!, dachte Mandred. Der Tisch war viel zu groß für einen einzigen Bewohner. Dann erinnerte er sich daran, dass Nuramon von seiner Familie gesprochen hatte. Einst hatte vielleicht seine ganze Sippe hier gelebt. An diesem Tisch fanden leicht zwölf Leute Platz. Es musste niederschmetternd sein, allein mit seinen Erinnerungen in einem solchen Haus zu wohnen. Mandred wurde sich bewusst, dass dies der Grund war, warum er nicht mehr in Firnstayn leben wollte. Dort allein mit seinen Erinnerungen an Freya zu sein, das wäre nichts für ihn. So sehr er Alfadas liebte, er könnte dort nicht mehr glücklich sein.
Mandred war müde und setzte sich in einem Nachbarzimmer an ein Fenster, an dem ein schweres Kissen einen hervorragenden Ruheplatz bot. Von hier aus konnte er bis zum Gebirge blicken. Es wirkte jetzt weniger bedrohlich als eben noch, da Nuramon von den Dunkelalben und deren Kindern gesprochen hatte. Hatte er nicht gesagt, sie hätten dort _einst_ gelebt? Was wohl aus den Kindern der Dunkelalben geworden war? Während Mandred darüber nachdachte, sank er in einen ruhigen Schlaf …
Er träumte von einer Männerstimme im Wind, die zu ihm flüsterte. »Zeit, mein Schweigen zu brechen. Erzähle mir, was dir geschah!«
Und Mandred berichtete der Traumstimme von dem Manneber und seinem Versagen im Eis, von seiner Rettung durch Aikhjarto, von der Elfenjagd, von seinem Sohn und der Suche nach Noroelles Kind.
Als Mandred geendet hatte, wartete er auf ein weiteres Flüstern im Wind. Doch die Stimme schwieg, und der Wind verflog.
Mit einem Mal schreckte er auf. Er schaute hinaus. Es war dunkel geworden. Der Wind bewegte sanft die Äste und Blätter.
Mandred gähnte und streckte sich. Er hatte das Gefühl, nur kurz eingenickt zu sein. Tatsächlich aber musste er einige Stunden geschlafen haben, denn es war Nacht. Er schaute sich um. Die Barinsteine spendeten warmes Licht. Dann bemerkte er einen Duft. Fleisch! Er sprang auf und ging nach nebenan zum Esstisch. Dort lag rohes Gemüse, das offensichtlich frisch geerntet war. Durch die offene Tür zur Küche konnte er Nuramon sehen, wie er vor dem Steinofen stand und irgendetwas hineinschob. Mandred war erstaunt. Nicht nur, dass Alaen Aikhwitan es duldete, dass Nuramon in ihm lebte, er ließ es sogar zu, dass hier ein Feuer gemacht wurde! Wie es schien, machte es der Eiche nichts aus.
Da wandte sich der Elf um und trat zu Mandred ins Zimmer. »Endlich bist du wach. Mir war gar nicht aufgefallen, wie erschöpft du warst. Ich war in der Zwischenzeit draußen im Wald und habe gejagt.« Der Elf nahm das Gemüse vom Tisch.
Mandred schämte sich. Er hatte die Jagd verpasst und faul herumgelegen und geschlafen. »Der Platz am Fenster ist einfach zu gemütlich, um dort wach zu bleiben.«
Nuramon lachte. »An dem Fenster hat meine Mutter oft gesessen und mit Aikhwitan gesprochen.«
Beklommen sah der Jarl zurück. Die Vorstellung, dass ein Geist während seines Schlafs in ihm gewesen war, erschreckte ihn. »Mir war so, als hätte ich eine Stimme gehört.« Er erzählte dem Elfen, was geschehen war.
Nuramon ließ das Messer fallen, mit dem er das Gemüse geputzt hatte. Er wirkte überrascht und auch ein wenig beleidigt. »Da verbringe ich mein ganzes Leben hier, und Aikhwitan spricht nicht ein Wort zu mir. Ein Mensch aber kommt zufällig des Weges, und schon plaudert er mit ihm.« Er schüttelte den Kopf. »Verzeih! Natürlich spricht er mit dir. Immerhin hat Aikhjarto dich gerettet. Das muss er gespürt haben.«
Mandred fühlte sich unwohl. Er hatte nicht um die Gunst eines Baumes gebeten und hatte Nuramon nicht beleidigen wollen. Bäume! Wer hätte gedacht, dass sie so versponnen sein konnten. Gut, dass sie in seiner Welt schwiegen! Er packte Nuramon am Arm. »Komm! Vielleicht spricht er auch zu dir.«
Sie gingen zum Fenster und lauschten. Doch im Rauschen der Blätter war nichts zu hören. Das Flüstern kehrte nicht zurück. Und zuletzt zweifelte Mandred daran, ob er die Stimme wirklich gehört hatte oder ob es nicht doch ein Traum gewesen war.
»Ich kann ihn hier überall spüren, aber mehr nicht!«, sagte Nuramon. Der Elf gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu überspielen, doch es gelang ihm nicht. »Lass uns das Essen machen.«
In der Küche angekommen, sah Mandred die Quelle des Duftes. Da brieten einige Stücke Fleisch vor sich hin. Er war erstaunt, wie rasch Nuramon das Fleisch vorbereitet hatte. Nirgendwo hier in der Küche waren Reste von Eingeweiden, Blut oder die Haut zu sehen. So war es unmöglich zu erraten, von welchem Tier das Fleisch stammte, das da vor sich hin brutzelte. Es war hell wie Geflügel. Beim Anblick lief Mandred das Wasser im Mund zusammen. »Was ist das?«, fragte er Nuramon schließlich.
»Das ist Gelgerok«, antwortete der Elf.
Mandred war neugierig. Die Elfen hatten während ihrer Suche nach Noroelles Sohn oft von Gelgeroks erzählt und sie ausführlich beschrieben, aber Mandred konnte sich noch immer nicht vorstellen, wie solch ein Tier aussehen sollte. »Liegt sein Kadaver noch in der Nähe? Kann ich ihn mir ansehen?«
»Das tut mir Leid, Mandred. Ich habe ihn erlegt und das, was ich nicht brauche, Gilomern überlassen.«
»Gilomern? Wer ist das?«
»Er lebt hier in den Wäldern und ist ein Jäger, holt sich aber auch gern das, was andere zurückgelassen haben.«
»Ist er auch ein Elf?«
»Ja.«
»Und ist er ein Freund?«
»Nein. Gilomern macht sich nicht viel aus Freundschaft. Aber es ist üblich, dass wir ihm seinen Teil überlassen. Er hat sich den Gelgerok gewiss schon geholt. Mach dir keine Gedanken. Früher oder später wirst du noch einen Gelgerok zu Gesicht bekommen.«
Nuramon machte sich daran, das Gemüse zu schneiden. »Mandred, wie wäre es, wenn du die Soße zum Fleisch bereitest? Ich habe die Kräuter schon geschnitten, und die Gewürze sind dort. Am besten nimmst du den Bratensaft aus der Fleischpfanne und mischst alles nach deinem Geschmack.«
Mandred war erstaunt, welches Vertrauen der Elf in ihn setzte. Hier war er, Mandred Torgridson, der Jarl von Firnstayn und Bezwinger des Mannebers! Und er sollte kochen! Wenn das die Leute im Fjordland wüssten! Dann würde man sich bald nicht mehr von Mandred dem Jarl erzählen, sondern ein Trinklied von Mandred dem Koch singen. Was hatte Nuramon auf der Suche nach Guillaume oft gesagt: _Du wirst noch einen Menschen aus mir machen_. Wenn Mandred sich nicht vorsah, dann würden Nuramon und Farodin noch einen _Elfen_ aus _ihm_ machen, und er würde am Ende gar Gefallen am Kochen finden.
Zögernd tat er, was Nuramon ihm aufgetragen hatte, und war kurz darauf überrascht, wie gut die Soße schmeckte. Nebenher hatte er aufgepasst, dass das Fleisch nicht anbrannte, und sogar das Brot aus dem Ofen geholt. Und als Nuramon von der Soße kostete und sie für köstlich erklärte, konnte Mandred seinen Stolz nicht verbergen. Selbstverständlich war sie köstlich!
Während Nuramon und er die Speisen auf den Tisch auftrugen, traf Farodin ein. Er hatte Gepäck dabei und legte es auf einem der vielen leeren Stühle ab. »Wie es scheint, komme ich keinen Augenblick zu spät.« Er schien gute Laune zu haben und großen Hunger.
»Endlich wieder etwas Richtiges zu essen«, sagte Mandred. Das, was sie hier auftischten, waren nicht die kleinen Portionen, die sie ihm in der Burg gereicht hatten. Nuramon hatte reichlich Gemüse und Fleisch herangeschafft. Jetzt konnte es Mandred nicht schnell genug gehen, bis sie sich endlich an den Tisch setzten.
Beim Essen behielt Mandred Farodin im Auge. Was würde der Elf wohl zu seiner Soße sagen? Bisher hatten sie nicht darüber gesprochen, doch das würde er gleich ändern. Mandred wandte sich an Nuramon. »Dieses Fleisch ist wirklich lecker. Und selbst das Grünzeug schmeckt.« Er schaute zu Farodin. »Stimmt doch, oder?«
Farodin nickte höflich und sagte zu Nuramon: »Noroelle hat immer mit großer Anerkennung von deiner Kochkunst gesprochen. Auch ich habe sie auf der Reise zu schätzen gelernt. Das Essen ist vorzüglich, besonders diese Soße hier.«
Mandred tauschte einen verschwörerischen Blick mit Nuramon, dann lehnte er sich zurück und fragte: »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
»Selbstverständlich«, antwortete Farodin und steckte sich ein kleines Stück Fleisch in den Mund.
»Die Soße habe _ich_ gemacht«, sagte er genüsslich.
Farodin stockte, kaute dann aber langsam weiter. Als er geschluckt hatte, lächelte er verschwörerisch: »Ihr wollt mich auf den Arm nehmen.«
»Nicht im Mindesten«, erklärte Nuramon.
»Nun, Mandred. Ein großes Kompliment an dich«, sagte Farodin anerkennend.
Mandred war stolz. Wenn man die Elfen überraschte, kamen ihre wahren Urteile an den Tag. »Aber du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst, dass Mandred Torgridson am Herd gestanden hat!«
»Ich verspreche es dir, wenn du mir versprichst, niemandem zu sagen, dass ich nicht zwischen der Kochkunst eines Menschen und der eines Elfen zu unterscheiden weiß.«
Das war ein gerechter Tausch. Damit konnte Mandred leben.
Sie hatten bald zu Ende gegessen, und Mandred sah es als Ehre an, dass sie ihm die meisten Stücke Fleisch überlassen hatten. Das war Gastfreundschaft!
Sie gingen in ein großes Nebenzimmer, dessen Boden aus kleinen Steinplatten bestand. In der Mitte des Raumes war ein Mosaik aus Edelsteinen eingelassen, das einen Elfen zeigte, der sich gegen einen Troll wehrte. Dies schien der Ort zu sein, an dem Nuramons Familie früher Kriegsrat gehalten hatte.
Farodin stellte sich ans breite Fenster, von dem aus man über das Land blicken und in der Ferne die Lichter von Emerelles Burg sehen konnte. Nuramon lehnte sich nahe der Tür gegen die Wand und starrte auf das Mosaik, während Mandred sich davorstellte. Unruhe hatte ihn gepackt. Am liebsten wäre er auf und ab gegangen.
Die heitere Stimmung, die beim Essen noch geherrscht hatte, war verflogen. Farodin wandte ihnen den Rücken zu. Man musste kein Priester des Luth sein, um zu wissen, worüber die Elfen nachdachten. Obwohl sie Albenmark nicht mehr verlassen durften, suchten sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihre Geliebte zu retten. Das lange Schweigen zeigte, wie schwierig die Lage war.
Plötzlich schaute Nuramon ihn an. »Ich möchte dich schon seit Tagen etwas fragen, Mandred. Bitte verzeih mir, wenn ich so direkt bin. Aber warum bist du nicht in Firnstayn geblieben?«
»Weil dort jetzt der Platz meines Sohnes ist«, antwortete er, ohne zu zögern. »Manchmal müssen Väter ihren Söhnen ihr Erbe früh hinterlassen. Wäre ich nicht in der Eishöhle gefangen gewesen, wäre ich jetzt ein alter Mann. Meine Zeit in Firnstayn ist vorbei. Es war eine Frage der Gerechtigkeit, zu gehen und Alfadas so die Möglichkeit zu geben, der Jarl zu werden, wenn er sich in den Augen der Dorfgemeinschaft bewährt.«
»Du bist ein Krieger, Mandred. Ist es dir genug, der Vater eines Jarls zu sein? Ist das alles, was du noch erreichen willst?«
Mandred sah den Elfen verwundert an. Wollte Nuramon ihn beleidigen? Natürlich war das nicht genug! »Ich werde den Manneber … ich meine den Devanthar aufspüren. Er hat mir das Leben geraubt, das ich hätte leben sollen. Dafür werde ich ihn töten. Durch seine Taten habe ich meine Frau verloren …« Er biss sich auf die Lippe, als die Gefühle ihn zu überwältigen drohten. »Und ich möchte euch helfen … Nichts und niemand kann Freya mehr zurückbringen. Aber ihr beiden, ihr könnt eure Liebe noch zurückgewinnen.«
»Diese Zuversicht aus dem Munde eines Menschen zu hören!«, sagte Farodin zynisch. »Die Königin lässt die Grenzen bewachen. Selbst du kannst nicht mehr in deine Welt zurückkehren.« Der Elf wandte sich nicht einmal zu ihnen um, während er sprach.
»Farodin hat Recht«, sagte Nuramon. »Die Königin mag die Tore viele hundert Jahre geschlossen halten. Vielleicht siehst du deine Heimat nie wieder.«
»Ich habe mit meiner Heimat abgeschlossen. Zerbrecht euch also nicht für mich den Kopf. Denkt lieber daran, wie wir Noroelle retten können.«
Nuramon senkte den Blick. »Jedenfalls können wir von der Königin keine Hilfe erwarten. Jede Hoffnung, sie umzustimmen, ist dahin.«
»Was genau hat die Königin mit Noroelle getan?«, fragte Mandred. »Ich habe nie begriffen, was mit ihr geschehen ist. Erklärt es mir, dann werde ich vielleicht eine größere Hilfe sein.«
Farodin schnaubte verächtlich.
Nuramon aber blieb freundlich. »Die Königin hat sie in die Andere Welt geführt, um sie dann von dort aus in die Zerbrochene Welt zu verbannen.«
»Und was ist die Zerbrochene Welt?« Mandred hatte die Elfen auf der Suche nach Guillaume einige Male davon reden hören, konnte sich aber bis heute kein Bild davon machen. »Wie kann eine Welt zerbrechen? Ich meine … eine Welt ist kein Tonkrug.«
»Die Zerbrochene Welt ist ein altes Schlachtfeld«, sagte nun Farodin. »Es ist der Ort, an dem die Alben gegen die Devanthar gekämpft und sie vernichtet haben. Während jenes Krieges wurde die Welt auseinander gerissen. Es gibt nur noch wenige Tore, die von hier oder aber aus der Welt der Menschen dorthin führen. Diese Welt liegt zwischen der unseren und der deinen; stell sie dir vor als einige wenige Inseln in einem Meer aus Nichts. Sie ist jetzt bedeutungslos, sodass wir deine Welt als die Andere Welt bezeichnen, gerade so als existierte die Zerbrochene Welt nicht mehr. Der Weg zu Noroelle führt uns zunächst in deine Welt, Mandred. Dort müssen wir nach dem Tor suchen, von dem aus wir zu jener Insel im Nichts gelangen, auf der Noroelle gefangen ist. Wenn wir es gefunden haben, dann müssen wir den Zauber der Königin brechen. Emerelle war im Grunde unsere einzige Hoffnung. Ich fürchte, gegen ihren Willen werden wir Noroelle niemals aus der Gefangenschaft befreien können. Es ist aussichtslos.«
Nuramon machte einige Schritte auf Farodin zu. Seine Worte schienen ihn zu verärgern. »Nichts ist aussichtslos! Nur weil wir keinen Weg sehen, heißt das nicht, dass es keinen gibt. Die Frage ist, wie weit wir gehen, um unser Ziel zu erreichen.«
Farodin wandte sich um und blickte Nuramon an. Seine Miene war eisig. »Du weißt, wie weit ich gehen würde.«
»Würdest du es auch tun, wenn du nie wieder zu deiner Familie könntest, weil du eine unendliche Schmach auf dich gezogen hättest; wenn auch du verbannt würdest, falls die Königin dich noch einmal zu Gesicht bekäme; und wenn Noroelle sich von dir abwenden würde, wegen deiner Taten? Würdest du all das hinnehmen, um sie zu retten?«
Ein seltsam abgründiges Lächeln huschte über Farodins Antlitz, ohne dass Mandred in Nuramons Worten einen Grund dafür finden konnte. »Ich würde es ohne zu zögern tun.«
»Dann lass uns nicht über die Verbote der Königin nachdenken, sondern einfach über das, was getan werden muss.«
»Ich werde euch begleiten, wohin der Weg auch führt«, sagte Mandred. »Ich habe noch eine Schuld zu begleichen. Mindestens eine.« Wäre er nie in die Elfenwelt gekommen, dann wäre Noroelle heute noch bei ihren Liebsten. Der Manneber hatte ihn als Köder benutzt, um die Elfenjagd in die Welt der Menschen zu locken. Warum das für den Devanthar wichtig war, hatte er nicht begriffen. Ging es ihm schlichtweg darum, ein paar Elfen zu töten und Emerelle zu zeigen, dass ein Devanthar den Krieg mit den Alben überlebt hatte? Oder verfolgte er in Wahrheit einen viel tiefgründigeren Plan? Und warum hatte er Guillaume gezeugt? Im Gegensatz zu Emerelle konnte Mandred nicht erkennen, welche Gefahr noch aus dem toten Dämonenkind erwachsen sollte. Ganz gleich, was letztlich die Ziele des Devanthars sein mochten, eines war gewiss: Mandred hatte dem Übel Zutritt zur Welt der Elfen verschafft, und er musste seinen Teil dazu beitragen, dass der Schaden wieder ausgeglichen wurde. Viel schwerer aber wog seine zweite Schuld. Mit seinem Versprechen gegen Emerelle hatte er Freya getötet. Und auch dieses Versprechen wurde nur wegen des Mannebers gegeben. Sein Weib hatte ihn zu Recht verflucht! »Welchen Weg auch immer ihr beschreiten werdet, Mandred Torgridson wird an eurer Seite sein.«
»Aber wie sollen wir in die Andere Welt gelangen?«, fragte Farodin.
Der Jarl ballte die Faust. Es war doch offensichtlich, gegen wen man sich zuerst wenden musste! »Wenn ihr bereit seid, euch der Königin zu widersetzen, dann sollten wir uns einen Weg in die Andere Welt erkämpfen.«
Farodin winkte mit einer eleganten Geste ab. »Nein, Mandred. Was die Königin bewachen lässt, das ist sicher. Die Tore stehen uns nicht offen.«
»Wenn die Tür zu ist, dann müssen wir eben mit dem Kopf durch die Wand!«
Farodin schmunzelte. »Bei _diesen_ Wänden wird nicht einmal dein Schädel etwas ausrichten, Menschensohn.«
»Wartet!« Nuramons Augen glänzten. »Durch die Wand! Das ist ein guter Einfall. Das ist geradezu genial… Mit dem Kopf durch die Wand!«
Mandred verstand nicht, was den Elfen so außer sich brachte. Farodin hatte schon Recht. Diese Tore waren nicht das, was ein Mensch unter einem Tor verstand. Und es gab auch keine Wände.
Nuramon aber lachte. »Wir sind blind! Wir brauchen einen Menschen, der uns die Augen für unsere eigene Welt öffnet!«
»Wovon redest du?«, fragte Farodin.
»Es ist doch offensichtlich! Wir werden jenen Weg in die Andere Welt nehmen, den Noroelle gewählt hat. Wir werden uns nicht um die bewachten Tore kümmern, sondern uns selbst ein Tor schaffen.«
»Nuramon, du überschätzt dich«, erwiderte Farodin gereizt. »Das ist mit Abstand das Dümmste, was ich je von dir gehört habe. Wir haben nicht die magischen Fähigkeiten Noroelles.«
Mandred war da anderer Meinung. »Natürlich ist Nuramon ein großer Zauberer«, protestierte er entschieden. »Gerade du solltest es wissen. Du warst nicht mehr als ein Stück rohes Fleisch in der Eishöhle … Nuramon hat dich vor dem sicheren Tod bewahrt. Wenn das keine Zaubermacht ist, dann weiß ich nicht, was man Magie nennen will.«
»Nur weil ein Pferd Hufeisen trägt, ist es noch lange kein Schmied!«
»Was haben Pferde damit zu tun?«, polterte Mandred los.
»Ich erkläre es gern für Menschen … Alfadas ist ein vortrefflicher Krieger, das steht außer Frage. Ollowain hat ihn zu einem Meister im Schwertkampf gemacht. Aber wie gut ist er mit der Axt, Mandred?«
Der Jarl begriff. »Allenfalls mittelmäßig«, antwortete er zerknirscht.
»Und so ist es auch mit Nuramon. Ich stehe tief in seiner Schuld, weil er mich geheilt hat, nicht nur in der Eishöhle, sondern auch nachdem wir Aniscans verlassen haben. Ich will seine Fähigkeiten keinesfalls in Abrede stellen, aber ein Tor zu öffnen ist einfach etwas anderes! Die Grenze zwischen zwei Welten zu durchdringen … das ist große Magie.«
»Ich habe gesehen, wie Nuramon an der Grenze zwischen Leben und Tod um dich kämpfte und dich ins Leben geholt hat. Welche Grenze könnte unüberwindlicher sein als diese?«
Die beiden Elfen sahen einander verblüfft an. Es war offensichtlich, dass sie die Dinge noch nie von dieser Warte aus betrachtet hatten.
Nuramon wirkte ein wenig verlegen. Schließlich ergriff er das Wort. »Was haben dir deine Eltern als Kind über die Albenpfade erzählt?«, fragte er Farodin.
Der Elf zögerte, ehe er antwortete. »Sie erzählten mir, dass sie unsere Welt durchziehen und sie mit anderen Welten verbinden.«
»So wie die Albensterne!«, warf Mandred ein und sorgte erneut für erstaunte Elfenmienen.
»Woher weißt du das?«, fragte Farodin.
»Vanna erzählte mir auf dem Weg zur Höhle des Luth davon. Das habe ich nicht vergessen. Aber was genau hat es mit den Pfaden auf sich?«
»Es heißt, die Alben wären entlang dieser Pfade gereist. An den Toren, die wir auch die großen Albensterne nennen, kreuzen sich sieben dieser Wege.«
»Und nun denke darüber nach, was Mandred in seiner genialen Einfachheit gesagt hat«, drängte Nuramon seinen Gefährten.
Mandred wusste nicht, ob er die Worte Nuramons als Lob oder als Beleidigung auffassen sollte.
Farodin blickte ihn an. »Wenn die großen Albensterne die Tore sind, was sind dann die Wände? Das ist die Frage.«
Mandred wusste nicht, worauf die Elfen hinauswollten. Er hatte das Gefühl, dass Farodin eine Antwort von ihm erwartete. Auch Nuramon sah ihn fragend an. »Die Albenpfade, die zum Tor führen?«
»Nicht ganz«, meinte Farodin.
Nuramon gab die Antwort. »Die kleineren Albensterne sind es. Jene, die kein sicheres Tor hervorbringen. Man kann dort magische Tore erschaffen und in die Andere Welt übertreten.«
Farodin wirkte sichtlich beunruhigt. »Du hast mich gefragt, was meine Eltern mir über die Albenpfade erzählt haben. Nun will ich dir auch sagen, was sie mir über die Albensterne berichteten. Sie sagten, wer mit Gewalt oder Unwissenheit den Übertritt wage, der könne ein Opfer von Zeit und Raum werden und auf immer verloren gehen. Noroelle ist eine große Zauberin. Sie wusste, was sie tat. Wir aber sind im Vergleich zu ihr Kinder. Du magst ein außergewöhnlich begabter Heiler sein, aber diese Spielart der Magie ist dir so fremd wie mir.«
»Du willst also aufgeben«, hielt Nuramon dagegen.
»Nein. Das könnte ich nicht. Diese Suche ist mein Leben, mehr als ihr ahnt. Schaut!« Farodin holte ein kleines Silberfläschchen und ein Tuch hervor. Das Tuch breitete er auf dem Tisch aus, dann öffnete er vorsichtig das Fläschchen und schüttete den Inhalt auf das Tuch. »Hier könnt ihr sehen, wie groß unsere Hoffnung ist.«
In dem Seidentuch lag ein winziges Häufchen Sand.
»Ist das etwa …«, begann Nuramon, sprach aber nicht weiter.
Farodin nickte. »Nachdem wir von Noroelles Schicksal erfuhren, habe ich mich in die Gewandkammer der Königin geschlichen und dort drei Sandkörner gefunden. Es heißt, wenn man jedes Sandkorn wiederfindet, dann könne der Zauber des Stundenglases gebrochen werden. Auf der Suche nach Guillaume habe ich dreiundfünfzig weitere Sandkörner finden können.«
»Deshalb hast du dich so oft abgesondert«, sagte Nuramon vorwurfsvoll.
»Ja. Und jetzt habe ich sechsundfünfzig Körner gesammelt. Wahrscheinlich gibt es in Albenmark keine mehr. Die übrigen sind gewiss in der Anderen Welt. Sie wurden von einem Windstoß in alle Himmelsrichtungen davongetragen. Ich glaube, es war Teil des Zaubers, die Sandkörner so weit wie möglich zu verteilen.«
Mandred konnte nicht fassen, wovon der Elf sprach. Er hatte Sandkörner gesammelt? Wie konnten ihnen sechsundfünfzig Sandkörner weiterhelfen? Überhaupt … Sandkörner suchen! Das war vollkommen verrückt! Wie wollte er sie überhaupt von gewöhnlichen Sandkörnern unterscheiden?
Nuramon starrte auf das Sandhäufchen. »Das ist wahrlich eine winzige Hoffnung. Aber es mag auch andere Wege geben.«
»Es ist der einzige, den ich sehe.«
»Dann lasst uns auf diesem Weg beginnen«, sagte Mandred.
Die beiden Elfen stimmten zu.
Doch das Problem der verschlossenen Tore blieb bestehen. Farodin war der Meinung, es müsse einen sichereren Weg in die Andere Welt geben, als abseits der Tore mit ihren bescheidenen Fähigkeiten den Schritt durch einen der kleineren Albensterne zu wagen.
Nuramon jedoch beharrte darauf, dass sie es schaffen konnten. »Wir müssen ja nicht dort den Übertritt wagen, wo sich zwei Albenpfade treffen. Das wäre gewiss eine Torheit. Aber sollte es an einem Ort, an dem sich drei oder vier Wege zu einem Albenstern treffen, denn nicht möglich sein?«
»Aber woher lernen wir, wie …« Farodin brach erschrocken ab.
Nuramon schaute sich im Raum um, als hätte er jemanden gesehen.
Mandred konnte niemanden entdecken. Misstrauisch sah er sich um. Was erschreckte die Elfen so? Als hätte er seinen Gedanken ausgesprochen, antwortete eine leise Stimme auf Fjordländisch: »Hört mich an!« Wer immer da sprach, befand sich mit ihnen im Zimmer. So viel war gewiss, auch wenn Mandred ihn nicht sehen konnte. »Vernehmt das alte Eichenwissen«, fuhr die Stimme fort. Ein sanfter Windzug fuhr durch den Raum.
Erschrocken warf Farodin sich über den Tisch und deckte die Sandkörner mit dem Seidentuch zu.
»Alaen Aikhwitan!«, rief Nuramon.
Mandred musste an seinen Traum denken.
»Ja, ich bin es.« Der Baum sprach nicht länger flüsternd, sondern mit einer tiefen Männerstimme, tiefer als jede menschliche. »Du bist Nuramon. Ich kenne deine Seele schon seit einer ganzen Weile. Und du, Mandred, trägst das Mal meines Bruders. Von dir, Farodin, habe ich bisher nur gehört. Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was die Bäume über dich reden.«
Mandred schwieg beklommen. Die Stimme der Eiche füllte ihn ganz aus. Auch Farodin wagte nichts zu sagen, wenn auch vielleicht aus anderem Grund. Allein Nuramon vermochte den Bann zu überwinden. »Offenbarst du dich uns, um uns zu helfen? Wirst du uns den Zauber lehren, den wir brauchen?«
Alaen Aikhwitan brummte, als wollte er Nuramon tadeln. »Seit jeher suchen Albenkinder meine Nähe und meinen Rat. Und auch euch werde ich raten. Euch lehren jedoch will ich nicht. Denn dir, Nuramon, habe ich durch deine Mutter alles beigebracht, was dir von mir zusteht. Und euch anderen bin ich nichts schuldig.« Die Stimme wurde leiser. »Das, wonach ihr strebt, kann euch nur ein anderer Baum beibringen. Geht! Geht dorthin, wo die Elfe vom See unterwiesen wurde. Geht! Dort werdet auch ihr unterwiesen werden. Verweilt nicht! Geht …« Die Stimme verging.
»Die Fauneneiche!«, rief Nuramon.