Die Welt der Menschen

Als der Nebel sich lichtete, schlug den Gefährten der eisige Atem der Menschenwelt entgegen. Nuramon sprach einige Worte der Wärme, um die Kälte zumindest aus seinen Kleidern zu vertreiben. Neugierig sah er sich um. Sie befanden sich in einem Steinkreis auf einer hohen Klippe. Weit unter ihnen lag ein Dorf.

Mandred hatte sein Pferd an den Rand des Abgrunds gelenkt. Fast schien es, als wollte er das Tier in die Tiefe führen. Offenbar übte das Dorf auf der anderen Seite des Fjords eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Dies musste die Siedlung sein, von der er bei Hof gesprochen hatte.

»Ich habe die Fährte gefunden!«, rief Brandan. »Sie ist ganz frisch, als wäre der Manneber eben noch hier gewesen.«

Dieser Ort war dem Wind ausgesetzt, und hier oben gab es nichts zu fressen. Was mochte die Bestie so lange hier gehalten haben? Hatte sie gewartet? Nuramon musste lächeln. Das war natürlich Unsinn.

»Mandred!«, rief Farodin mit scharfer Stimme.

Der Menschensohn fuhr zusammen. Dann zog er an den Zügeln und lenkte seine Stute vom Rand der Klippe fort. »Entschuldigt … Ich musste einfach wissen, wie es um die meinen steht. Der Manneber scheint Firnstayn noch nicht angegriffen zu haben.«

Er setzte sich an die Spitze der Schar und führte sie die Klippe hinab. Das Rudel Wölfe lief weit aufgefächert vor ihnen her. Auch sie hatten die Fährte des Mannebers aufgenommen.

Obwohl die Spur offensichtlich vom Dorf wegführte, schien es Nuramon so, als würde der Menschensohn mit jedem Moment unruhiger. »Stimmt etwas nicht, Mandred?«, fragte er ihn.

»Die Pferde«, murmelte der Krieger gepresst. »Sie sind verhext, nicht wahr?«

Nuramon begriff nicht, was er meinte. »Warum sollte man Pferde verhexen?«

»Aber … sie versinken nicht im Schnee. Das kann nicht sein. Der Schnee liegt hier mindestens kniehoch.«

Nuramon bemerkte, wie Farodin und Brandan einander zugrinsten. Was wussten sie? »Warum sollten Pferde im Schnee versinken?«

»Weil sich das so gehört!« Mandred zügelte seine Stute. »Wenn die Pferde nicht verhext sind, muss der Schnee verhext sein.« Er schwang sich aus dem Sattel und versank augenblicklich bis zu den Knien im Schnee.

Brandan lachte.

»Ich finde das nicht witzig«, mischte sich Aigilaos ein. Er eilte an Mandreds Seite und ließ dabei hinter sich eine tiefe Spur zurück. »Diese Langohren machen sich gern einen Spaß mit uns. Ich habe bis heute nicht begriffen, wie sie es schaffen, auf dem Schnee zu gehen. Ein Zauber ist es jedenfalls nicht. Und es liegt auch nicht daran, ob sie ihren Pferden die Hufe beschlagen oder nicht.«

Nuramon erwartete, dass der Menschensohn beleidigt wäre, doch plötzlich stand ein Leuchten in dessen Augen. »Glaubt ihr, die Königin wird mir das Pferd schenken, wenn wir zurück sind?«

»Wenn du dich bewährst, vielleicht, Mensch«, meinte Farodin.

»Glaubt ihr, einer meiner Hengste könnte diese Stute decken?«

Aigilaos stieß ein wieherndes Lachen aus.

Nuramon fand die Vorstellung bizarr. Was dachte sich der Menschensohn nur dabei?

»Wir sollten hier nicht herumstehen und Witze machen«, mahnte Vanna. »Bald wird es schneien. Wir müssen weiter, sonst werden wir die Fährte aus den Augen verlieren.«

Mandred stieg auf. Schweigend setzte sich der Trupp in Bewegung und folgte der Spur.

Nuramon ließ den Blick über das Land schweifen. Die Welt der Menschen hatte er sich anders vorgestellt. Der Schnee war hier fest und rau, und die Hügelketten verliefen so unregelmäßig, dass er sich die Umgebung nur schwer einprägen konnte. Nichts schien zueinander zu passen. Wie sollten sie in diesem Chaos den Manneber finden? Tausend Dinge, die anders waren als in Albenmark, zogen seinen Blick auf sich.

All die neuen Eindrücke ermüdeten Nuramon. Er rieb sich die Augen. Diese Welt schien ihm unüberschaubar. Wenn er einen Baum ansah, dann vermochte er es kaum, den Baum als Ganzes zu betrachten, so sehr zogen dessen Einzelheiten ihn in den Bann. Auch war es schwierig, Entfernungen abzuschätzen. Die Dinge schienen näher zu sein, als sie es tatsächlich waren. So kam ihm diese Welt eng vor. Nun verstand Nuramon, wieso die Königin Mandred zum Anführer berufen hatte. Ihm war all dies vertraut.

Die Gemeinschaft blieb dem Manneber den ganzen Tag auf der Spur. Sie ritten schnell, wenn sie der Fährte über offenes Land folgten, und vorsichtig, wenn die Spur durch einen Wald oder durch felsiges Gelände führte. Sie waren stets darauf gefasst, auf den Manneber zu stoßen. Zumindest hatte Nuramon den Eindruck.

Brandan hatte in den letzten Stunden immer wieder betont, dass ihm die Fährte des Ebers merkwürdig vorkam. Sie wirkte einfach zu frisch. Es war fast so, als weigerte sich der Schnee, in die Spuren des Ebers zu fallen. Das beunruhigte Nuramon, und auch Lijema machte ein besorgtes Gesicht. Die anderen erweckten zwar den Eindruck, dass sie Brandans Warnung ernst nahmen, aber keiner von ihnen schien daran zu zweifeln, dass sie ihren Auftrag erledigen würden. Die Elfenjagd war ausgezogen, und gerade die Wölfe, die gern voranhetzten, gaben Nuramon das Gefühl, dass nichts und niemand sie aufhalten konnte, auch nicht in dieser sonderbaren Welt.

Am Nachmittag hörte es auf zu schneien. Sie folgten der Spur in einen dichten Wald. Hier mochte der Manneber überall lauern. Schließlich befahl Mandred, dass sie sich früh genug einen Lagerplatz suchen sollten. Brandan prägte sich ein, wo sich die Spur befand, dann folgten sie Mandred. Farodin zog indessen ein ungewohnt missmutiges Gesicht, das Nuramon nicht recht einordnen konnte.

Sie erreichten den Waldrand und schlugen dort ihr Lager auf. Aigilaos hatte Hunger und wollte unbedingt jagen. Er hatte Spuren gesehen, Brandan begleitete ihn.

Nuramon und Farodin sattelten die Pferde ab. Vanna die Zauberin machte ein kleines Feuer in der Mitte des Lagers. Dabei schienen ihre Gedanken abwesend zu sein. Irgendetwas beschäftigte sie. Lijema und Mandred kümmerten sich um die Wölfe. Die Wolfsmutter erklärte dem Menschensohn, was er wissen wollte. Die Tiere waren ruhig, was Nuramon als gutes Zeichen wertete.

Farodin setzte einen Sattel ab, dann hielt er inne. »Ist es so, wie du dir die Elfenjagd vorgestellt hast?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Von außen sieht alles immer viel glanzvoller aus. Wir spüren unsere Beute auf, schlagen sie und kehren zurück zu unserer Herrin. Im Grunde ist es ganz einfach.«

»Du bist schon einmal hier gewesen, hier in der Menschenwelt, nicht wahr?«

»Ja, schon oft. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal. Wir sollten einen Verräter finden und zur Königin bringen. Es war wie jetzt. Kaum kamen wir durchs Tor, fanden wir auch schon seine Spur. Wenige Stunden später waren wir bereits auf dem Rückweg. Aber das war keine richtige Elfenjagd gewesen.«

»Und? Erscheint dir die Andere Welt genauso merkwürdig, wie sie mir erscheint?«

»Du meinst die Enge?«

»Ja, genau das.«

»Es liegt an der Luft. Das hat mir die Königin einmal erklärt. Die Luft ist hier anders. Nicht so klar wie bei uns.«

Nuramon dachte darüber nach.

»Hier ist alles anders«, fuhr Farodin fort. »Die Schönheit und Klarheit von Albenmark wirst du hier vergeblich suchen.

Die Dinge hier passen nicht zusammen.« Er deutete auf eine Eiche. »Der Baum dort passt nicht zu diesem hier.« Er klopfte auf die Eiche neben sich. »Bei uns sind die Dinge unterschiedlich, aber alles befindet sich in Harmonie zueinander. Kein Wunder, dass die Menschen unsere Gefilde so schön finden.«

Nuramon schwieg. Er fand die Andere Welt dennoch reizvoll. Hier gab es so viel zu entdecken. Und wenn man nur das Geheimnis dieser Welt kannte, dann mochte es sein, dass man auch in dieser Welt eine Harmonie fand. »Für Mandred scheint alles im Einklang zu sein«, sagte er leise und schaute kurz zum Menschensohn hinüber.

»Er verfügt nicht über unsere feinfühligen Sinne.«

Nuramon nickte, Farodin hatte Recht. Aber dennoch… Vielleicht gab es eine Ordnung hinter allem hier, für die es noch schärferer Sinne bedurfte, als sie selbst Elfen besaßen.

Als alle Arbeiten getan waren, setzte sich Nuramon an den Waldrand und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Farodin gesellte sich zu ihm und hielt ihm seinen Beutel mit Maulbeeren hin.

Nuramon war überrascht. »Soll ich wirklich?«

Der Gefährte nickte.

Er nahm Farodins Angebot an. Sie aßen einige Maulbeeren und schwiegen.

Als die Dämmerung heraufzog, fragte Lijema, wo Brandan und Aigilaos geblieben seien.

Nuramon stand auf. »Ich werde die beiden holen.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Farodin.

»Nein.« Er schaute zur Zauberin. »Frag lieber Vanna, ob alles in Ordnung ist«, sagte er flüsternd. »Sie schweigt schon die ganze Zeit und grübelt über irgendetwas nach.«

Farodin musste lächeln und erhob sich, um sich zur Zauberin zu gesellen. Nuramon aber verließ das Lager auf den Spuren von Aigilaos und Brandan.

Die Fährte der beiden war leicht zu verfolgen. Zwar waren Brandans Stiefelabdrücke schwer zu erkennen, doch Aigilaos hatte eine tiefe Furche in den Schnee gepflügt. Mehrmals schaute Nuramon auf seine Füße; er musste an Mandred denken und daran, wie er eingesunken war. Vielleicht war es doch ein Zauber, der ihn auf dem Schnee gehen ließ. Er versuchte deutliche Spuren zu hinterlassen, und es gelang ihm auch. Aber er musste sich darauf konzentrieren und den Fuß möglichst ungelenk aufsetzen. Tat er es nicht, so weigerten sich seine Füße, im Schnee zu versinken.

Nach einer Weile veränderten sich die Spuren. Nuramon sah, dass seine beiden Gefährten die Fährte eines Rehs aufgenommen hatten. Kurz darauf hatten sie sich getrennt, Aigilaos war nach links gegangen, Brandan nach rechts. Die Fährte des Rehs führte geradeaus. Nuramon folgte Aigilaos’ Spur, weil sie deutlicher zu erkennen war.

Plötzlich hörte er etwas. Er blieb stehen und lauschte. Zuerst vernahm er nur den Wind, der durch den Wald wehte. Doch dann hörte er ein leises Zischen. Es mochte nichts weiter sein als ein wenig verharschter Schnee, der ganz in der Nähe von einem Baum geweht wurde. Doch das Zischen kehrte immer wieder. Mal klang es länger, mal kürzer. Vielleicht war es ein Tier dieses Waldes. Ebenso gut konnte es der Manneber sein.

Vorsichtig ließ Nuramon die Hand zum Schwert gleiten. Er überlegte, ob er nach Aigilaos und Brandan rufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Der launische Kentaur würde seine Pfeile auf ihn richten, wenn er durch einen unbedachten Ruf das Wild vertrieb.

Das Geräusch schien ganz in der Nähe zu sein. Aber Nuramon wollte sich nicht zu sehr auf seine Sinne verlassen. Diese Welt war ihm zu sinnenverwirrend! Er hatte sich heute oft genug mit seinen Augen getäuscht. Das mochte mit seinen Ohren ebenso geschehen.

Behutsam verließ Nuramon Aigilaos’ Spur, um dem Zischen nachzugehen. Bald sah er eine Lichtung zwischen den Bäumen. Von dort schien das Geräusch zu kommen.

Am Rand der Lichtung angekommen, versuchte Nuramon etwas zu erkennen. Etwa in der Mitte standen drei Eichen. Ein unangenehmer Geruch wurde vom Wind zu ihm getragen und ließ ihn einen Augenblick verharren. Irgendetwas stimmte nicht an diesem Geruch. Aber was stimmte in dieser Welt schon für Elfensinne?

Vorsichtig trat er auf die Lichtung und schaute sich um. Es war niemand zu sehen. Aber mit jedem Schritt, den er machte, wurde das Zischen lauter. Was immer es war, hinter den drei Bäumen auf dieser Lichtung musste sein Ursprung liegen. Nuramons Hand umfasste den kühlen Knauf seines Schwertes fester.

Als Nuramon fast bei den Bäumen angekommen war, erblickte er zu seiner Linken eine breite Fährte, die vom Wald her kam. Das waren Aigilaos’ Spuren!

Er hastete den drei Eichen entgegen. Das Zischen war nun entsetzlich laut und langatmig. Er sah einen zerbrochenen Stirnreif im Schnee. Rasch umrundete er die kleine Baumgruppe – und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.

Vor ihm im Schnee erblickte er Aigilaos! Sein Kopf war weit in den Nacken zurückgebogen, und mit offenem Mund stieß er dieses Zischen aus. Sein gelockter Bart war von Blut verklebt. Am Hals sah Nuramon vier schmale Wunden. Wären sie nicht gewesen, hätte man die Schreie des Kentauren gewiss im ganzen Wald gehört. Doch so war er kaum mehr fähig, einen Laut von sich zu geben. Man hatte ihm wahrhaftig die Stimme abgeschnitten. Sein Schrei war nichts weiter als ein langer Luftzug, der ihm aus dem Rachen wehte.

In Aigilaos’ Gesicht lag mehr Schmerz, als Nuramon je bei einem Wesen gesehen hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Immer wieder verkrampfte er sich, wollte schreien, und konnte doch nur ein klägliches Zischen hervorbringen.

Die vier Läufe des Kentauren waren gebrochen, bei einem ragte gar der Knochen hervor. Sein langer Bauch war aufgeschlitzt. Eine gefrorene Blutlache hatte sich im Schnee gebildet, und ein Teil der Innereien quoll heraus. Einer der Arme lag unter seinem Körper begraben, der andere war ausgekugelt und wie die Beine gebrochen. Sein Fell war von breiten Wunden gezeichnet, als hätte ihn ein Raubtier angefallen.

Nuramon vermochte sich den Schmerz nicht vorzustellen, den Aigilaos verspüren musste. Er hatte noch nie ein Lebewesen gesehen, das so zugerichtet war wie der Kentaur.

»Farodin! Mandred!«, rief er, unschlüssig, ob er Hilfe holen oder aber den Versuch wagen sollte, etwas für Aigilaos zu tun. Er blickte auf seine Hände hinab und sah, wie sie zitterten. Er musste einfach etwas tun! Seine Gefährten im Lager hatten ihn gewiss gehört.

»Ich werde dir helfen, Aigilaos!«

Der Kentaur hörte mit seinem stimmlosen Schreien auf und blickte Nuramon mit bebender Miene an.

Es war aussichtslos. Die Bauchwunde allein würde den Kentauren umbringen. Die Halswunden hatten ebenfalls viel Schaden angerichtet. Sollte er den Kentauren anlügen? »Ich werde erst einmal deine Schmerzen lindern.« Nuramon legte die Hände auf Aigilaos’ Stirn und blickte ihm in die tränenden Augen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war. »Nur noch einen Augenblick!«, sagte Nuramon und konzentrierte sich auf den Zauber.

Er begann mit einem Kribbeln in den Fingerspitzen. Nuramon achtete auf seinen Puls und spürte, wie kühle Schauer durch seine Arme zu den Händen hinabliefen. Unter seinen Fingern fühlte er, wie sich Aigilaos’ Stirn wärmte. Er konnte den rasenden Puls des Kentauren spüren und merkte, wie sein eigener Herzschlag sich zunächst an den des Gefährten anpasste. Dann verlangsamten sich beide Herzschläge, und Aigilaos wurde ruhiger. So viel war geschafft, auch wenn der Kentaur nicht mehr zu retten war.

Als Nuramon die Hände von Aigilaos’ Stirn löste, konnte er mit ansehen, wie sich dessen Gesichtszüge langsam entspannten. Bei all dem Blut, das Nuramon sah, wunderte er sich abermals, dass der Kentaur noch bei Bewusstsein war. Er beschloss, den Versuch zu wagen, gegen den Tod seines Gefährten anzukämpfen, auch wenn es aussichtslos erschien. Er hatte keine Erfahrung mit Kentauren. Es mochte sein, dass sie solche Wunden überleben konnten. So legte er dem Verletzten vorsichtig die Hand auf den offenen Hals.

Aigilaos konnte keine Schmerzen mehr spüren und starrte ihm ernst in die Augen. Dann schüttelte er den Kopf und blickte auf das Schwert des Elfen.

Nuramon war entsetzt. Aigilaos wusste, dass es zu Ende war. Und nun sollte er Gaomees Schwert ziehen, um dem Kentauren damit einen schnellen Tod zu bereiten. Das Schwert, mit dem Gaomee einst in heldenhaftem Kampf Duanoc erschlagen hatte, sollte nun mit dem Blut eines Gefährten befleckt werden.

Nuramon zögerte, aber im Blick des Kentauren lag ein Flehen, dem er sich nicht entziehen konnte. Es nahm ihn geradezu in den Bann. Er musste es tun. Aus Mitgefühl! So zog er das Schwert.

Aigilaos nickte.

»Wir sehen uns im nächsten Leben wieder, Aigilaos!« Er hob die Waffe und ließ sie niederfahren. Doch kurz vor der Brust des Kentauren verharrte die Schwertspitze. Ungläubig schaute Aigilaos auf. »Ich kann es nicht«, sagte Nuramon verzweifelt und schüttelte den Kopf. Die Worte, die er dem Kentauren zum Abschied gesagt hatte, läuteten in seinem Geist wie eine gewaltige Glocke. _Wir sehen uns im nächsten Leben wieder!_ Wer konnte das schon sagen? Nuramon war sich nicht sicher, ob Aigilaos’ Seele ihren Weg aus dieser Welt zurück nach Albenmark finden würde. Wer ihm hier das Leben nahm, der mochte ihn für immer der Aussicht auf eine Wiedergeburt berauben.

Nuramon warf das Schwert beiseite. Er hätte die Waffe beinahe mit dem Blut seines Gefährten befleckt. Ihm blieb nur eines zu tun: seine Zauberkraft einzusetzen und zu versuchen, seinen Gefährten zu retten.

Nuramon prüfte noch einmal die Wunden am Hals. Mandred hatte den Eber als grobe Bestie beschrieben. Diese Wunden aber waren so zielsicher in die Haut geritzt, dass sie von einem Messer zu stammen schienen. Konnte der Manneber Waffen führen? Oder hatte eine andere Bestie Aigilaos derart zugerichtet? Was Nuramon verwunderte, war, dass außer dem Blut seines Gefährten keinerlei Spuren zu finden waren, nicht einmal die Fährte des Rehs, das Aigilaos gejagt hatte, setzte sich fort. Auch von Brandan war nichts zu sehen. Vielleicht lag er ebenfalls irgendwo dort draußen im Wald und war ähnlich zugerichtet.

Nuramon unterdrückte den Wunsch, nach den übrigen Gefährten zu rufen. Damit würde er nur die Bestie anlocken. Behutsam legte er die Hände auf die schmalen Wunden. Und kaum hatte er an den Zauber gedacht, kribbelte es erneut in den Fingern. Diesmal jedoch blieb der Schauer aus, den er eben noch in den Armen verspürt hatte. Stattdessen wurde aus dem Kribbeln ein Schmerz, der sich von den Fingerspitzen aus über die Hände bis zu den Gelenken ausbreitete. Schmerz gegen Heilung! Das war der Tausch, der seinem Zauber innewohnte. Als der Schmerz schließlich verblasste, löste Nuramon die Hände von Aigilaos und betrachtete dessen Hals. Die Wunden hatten sich geschlossen.

Doch als er sich den klaffenden Schnitt im Bauch ansah, wusste er, dass seine Kräfte dort nichts ausrichten konnten. Hier war ein Zauber gefragt, der den Körper als Ganzes belebte. Nuramon beugte sich zu Aigilaos’ Oberkörper. »Kannst du wieder sprechen?«, fragte er den Kentauren.

»Tu es nicht, Nuramon!«, bat Aigilaos heiser. »Nimm das Schwert und mach dem hier ein Ende!«

Nuramon legte Aigilaos die Hände auf die Schläfen. »Es sind nur Schmerzen.« Er wusste nur zu gut, dass größere Wunden größere Schmerzen für ihn bedeuteten. Dennoch konzentrierte er sich und versuchte ruhig zu atmen.

»Ich wünsche dir das Glück der Alben, mein Freund«, sagte der Kentaur.

Nuramon entgegnete nichts darauf, sondern ließ seine Zauberkraft über die Hände in Aigilaos’ Körper fließen. Er dachte an all jene, die er geheilt hatte. Es waren viele Bäume und Tiere gewesen, selten einmal ein Elf…

Mit einem Mal durchfuhr ein stechender Schmerz seine Hände und zog sich die Arme hinauf. Das war der Preis für die Heilung, das galt es auszuhalten! Dann wuchsen die Schmerzen ins Ungeheuerliche. Nuramon schloss die Augen und kämpfte dagegen an. Doch all seine Versuche, die Schmerzen zu zerstreuen, scheiterten. So traf es ihn wie ein Blitz in den Kopf. Er wusste, er hätte nur loslassen müssen, und der Schmerz wäre vorüber. Aber Aigilaos wäre dann verloren.

Da waren nicht nur die zahlreichen Wunden, nicht nur der große Schaden, der durch die Bauchwunde entstanden war; es gab auch etwas anderes, etwas, das Nuramon nicht zu fassen bekam. War es ein Gift? Oder gar ein Zauber? Nuramon versuchte sich zu entspannen, doch der Schmerz war zu groß. Er spürte, wie seine Hände verkrampften und er am ganzen Oberkörper zu zittern begann.

»Nuramon! Nuramon!«, hörte er eine raue Stimme schreien. »Bei allen Göttern!«

»Still! Er heilt ihn!«, rief die Stimme eines Elfen. »O Nuramon!«

Der Schmerz wuchs, und Nuramon biss die Zähne zusammen. Es schien kein Ende der Qualen zu geben. Sie wuchsen und wuchsen. Er spürte, wie ihm die Sinne schwanden.

Für einen Moment musste Nuramon an Noroelle denken. Und mit einem Mal war der Schmerz fort.

Es war still.

Nuramon öffnete langsam die Augen und sah Farodins Gesicht über sich. »Sag etwas, Nuramon!«

»Aigilaos?«, war alles, was ihm über die Lippen kam.

Farodin blickte zur Seite, dann wieder zu ihm und schüttelte den Kopf.

Neben sich hörte er Mandred rufen: »Nein. Wach auf! Wach wieder auf! Geh nicht so! Sag mir noch etwas!«

Aber der Kentaur schwieg.

Nuramon versuchte sich aufzurichten. Langsam kehrten seine Kräfte zurück. Farodin half ihm auf. »Du hättest sterben können«, flüsterte er.

Nuramon starrte auf Aigilaos hinab; Mandred hatte sich über ihn gebeugt und weinte. Die Züge des toten Kentauren wirkten zwar entspannt, aber sein Leichnam bot immer noch einen erschreckenden Anblick.

»Hast du vergessen, was du Noroelle versprochen hast?«

»Nein, das habe ich nicht«, flüsterte Nuramon. »Und deswegen musste Aigilaos sterben.«

Nuramon wollte sich abwenden und gehen, doch Farodin hielt ihn fest. »Du hättest ihn nicht retten können.«

»Aber was, wenn er zu retten gewesen wäre?«

Farodin schwieg.

Mandred stand auf und wandte sich ihnen zu. »Hat er noch etwas gesagt?« Der Menschensohn blickte Nuramon erwartungsvoll an.

»Er wünschte mir Glück.«

»Du hast alles versucht. Das weiß ich.« Mandreds Worte vermochten Nuramon nicht zu trösten.

Er nahm das Schwert auf, betrachtete es und dachte an Aigilaos’ Wunsch. Das konnte er Mandred nicht sagen.

»Was ist geschehen? Und wo ist Brandan?«, fragte Farodin.

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Nuramon langsam.

Mandred schüttelte den Kopf. »Wir können von Glück sagen, wenn er noch lebt.« Er blickte auf Aigilaos und atmete geräuschvoll aus. »Bei allen Göttern! Niemand sollte so sterben.« Dann schaute er sich um. »Verdammt! Es ist viel zu dunkel geworden!«

»Dann lasst uns Brandan rasch finden«, sagte Farodin.

Sie warfen noch einen Blick auf Aigilaos und beschlossen, ihn später in der Nacht zu holen, sollte dies irgendwie möglich sein.

Nuramon führte Farodin und Mandred zurück zu Brandans Spur. Es war inzwischen Nacht geworden. »Hätte ich doch nur die Barinsteine aus dem Lager mitgenommen!«, sagte Farodin. Die Spur war an sich schon schwer zu verfolgen, aber im Dunkeln war es aussichtslos. So gute Fährtenleser waren sie nicht.

Mit einem Mal erhob sich ein Stück hinter ihnen ein monströses Geheul. Die drei wandten sich um. Dann rief Mandred: »Das Lager! Los!«

Sie hetzten zurück. Dabei erschien es Nuramon, als hätte Mandred große Schwierigkeiten, sich in der Dunkelheit zu bewegen. Dauernd streifte er niedrige Äste, bis er sich schließlich hinter Farodin zurückfallen ließ, um ihm nachzulaufen. Der Menschensohn fluchte darüber, dass er bis zu den Waden im Schnee versank, während die Elfen sich leichtfüßig darüber hinwegbewegten.

Endlich erreichten sie das Lager. Es war verlassen.

Das Feuer brannte, und die Pferde standen still. Vanna, Lijema und die Wölfe aber waren verschwunden. Während Farodin neben seinen Satteltaschen kniete, umkreiste Nuramon das Lager und suchte nach Spuren. Mandred war wie gelähmt. Er dachte wohl, alles wäre verloren.

Im Wald war es still.

Nuramon fand die Spuren der Wölfe und Elfen, sie führten am Waldrand entlang. Kampfspuren oder Ähnliches waren nicht zu sehen. Kaum hatte er seinen Gefährten die Entdeckung verkündet, warf Farodin ihm und Mandred je einen Barinstein zu. Sie waren klar und leuchteten in weißem Licht.

Als ihnen lautes Geheul tief aus dem Wald entgegenhallte, machten sie sich auf den Weg. Immer wieder riefen sie nach Vanna und Lijema, doch es kam keine Antwort.

Dann fanden sie eine Blutspur und folgten ihr. Die Wölfe und offenbar auch Vanna und Lijema waren schon vor ihnen dem Blut gefolgt. Bald stießen sie auf einen toten Wolf; seine Kehle war zerfetzt. Voller Sorge folgten sie den Spuren und entdeckten alle paar Schritte weitere Blutstropfen.

Noch immer war Geheul zu hören. Mit einem Mal sahen sie zwischen den Bäumen die weißen Wölfe hin- und herspringen. Da war ein Schatten, auf den sie es abgesehen hatten. Eine riesige Gestalt! Sie schlug wild um sich. Das Heulen eines Wolfes ging in schmerzersticktes Jaulen über. Dann ertönte der Schrei einer Frau.

Nuramon, Farodin und Mandred erreichten eine Lichtung.

Der Schein ihrer Barinsteine vertrieb die Finsternis. Nuramon sah, wie die Wölfe einer großen, geduckten Gestalt nachsetzten und im Wald verschwanden.

Nuramons Licht fand in der Mitte der Lichtung Vanna die Magierin. »Kommt zurück! Keine Zeit für Rache!«, schrie sie den Wölfen hinterher. »Kommt zurück!« Doch sie hörten nicht auf sie. Die Magierin brach in die Knie und beugte sich über etwas.

Mandred und Farodin waren sogleich bei ihr. Nuramon wagte sich nur langsam näher und schaute sich um. Drei Wölfe lagen tot auf der Lichtung, unter ihnen der Leitwolf. Irgendetwas war ihm in den Rücken gedrungen. Nuramon bemerkte einen stechenden Geruch in der Luft. Es war derselbe Gestank, den er auch schon bei Aigilaos bemerkt hatte. Das musste die Ausdünstung der Bestie sein.

Als Nuramon seine Gefährten erreichte, sah er im Schein der Barinsteine, dass Vanna sich über Lijema beugte. Als die Magierin sich aufrichtete, erkannte Nuramon, dass der Wolfsmutter die Brust zerfetzt worden war. Irgendetwas hatte ihren Körper durchstoßen und Lunge und Herz zerrissen. Ihre Augen glänzten noch, doch ihr Gesicht war zu einer erstaunten Maske erstarrt.

Vanna presste ihr Gesicht liebevoll an das der Toten.

»Was ist gesehen?«, fragte Farodin.

Vanna schwieg.

Farodin packte die Magierin bei den Schultern und schüttelte sie sanft. »Vanna!«

Mit großen Augen schien sie durch Farodin hindurchzusehen. Sie deutete zur Seite. »Dort hinter dem Baum liegt Brandan. Der Eber hat ihn …« Sie brach ab.

Nuramon lief los. Er wollte so rasch wie möglich bei Brandan sein. Er hatte Angst, denn er musste an Aigilaos denken.

Zwischen Mandred und Farodin entbrannte indessen ein Streit. Der Menschensohn wollte der Bestie nachsetzen, Farodin aber wollte das nicht zulassen. Wie konnten sie nur jetzt über so etwas streiten? Vielleicht war Brandan noch am Leben!

Nuramon erreichte den Waldrand und fand Brandan. Der Fährtensucher lag auf dem Rücken, er hatte eine leichte Wunde an der Schläfe und eine im Bein. Er war zwar bewusstlos, doch sein Herz schlug noch, und sein Atem ging langsam. Nuramon legte seine heilenden Hände auf die Bein- und die Kopfwunde. Er spürte, wie das Kribbeln kam, gefolgt von Schmerz. Schließlich verkrusteten die Wunden unter seinen Fingern. Das sollte für den Augenblick ausreichen. Später würde er ihn ganz heilen.

Mit Mühe nahm Nuramon Brandan auf den Arm und machte sich schweren Schrittes auf den Weg zurück zu den anderen. Seine Füße versanken unter der Last, die er trug, im Schnee.

Er hörte Farodin mit geduldiger Stimme auf Mandred einreden. »Die Bestie spielt mit uns. Wir dürfen uns jetzt nicht zu etwas Unüberlegtem hinreißen lassen. Lass uns die Bestie morgen jagen!«

»Wie du meinst«, entgegnete Mandred widerstrebend.

Als sie Nuramon bemerkten, war ihnen die Angst anzusehen. Sie liefen ihm entgegen.

»Ist er …?«, begann Mandred.

»Nein, er lebt. Aber wir sollten ihn ins Lager schaffen.«

Schweigend verließen Farodin, Vanna und Mandred die Lichtung.

Es war ein mühsamer Weg zurück ins Lager. Mandred schleppte Brandan, während Farodin und Nuramon die Leiche Lijemas trugen. Die toten Wölfe ließen sie dort, wo sie waren. Auf dem Weg versuchte Mandred Brandan aufzuwecken. Doch der Fährtensucher lag in tiefer Bewusstlosigkeit.

Im Lager angekommen, kümmerte sich Farodin um Lijema; er wickelte ihren Leichnam in einen Mantel ein. Mandred und Vanna saßen am Feuer und lauschten in den Wald hinein. Nuramon beobachtete sie, während Brandans Kopf auf seinen Händen ruhte und seinen Zauber aufnahm. Die Haltung des Menschensohns und der Zauberin sagte mehr als alle Worte. Zwei Mitglieder der Elfenjagd waren gestorben, und ihre Wölfe waren entweder tot oder verschwunden.

Nuramon betrachtete den Mond. Seine Großmutter hatte wahr gesprochen. Der Mond war nur zur Hälfte zu sehen und viel kleiner als der Mond in Albenmark. Er musste an sein Gespräch mit Noroelle zurückdenken. Was geschah, wenn man in den Menschenreichen starb? Er konnte nur hoffen, dass Lijema wiedergeboren wurde. Er wusste nicht, wie es sich bei den Kentauren verhielt. Von manchen Albenkindern hieß es, dass sie mit dem Tod direkt ins Mondlicht gingen. Er hoffte, dass die Seelen ihrer toten Gefährten nicht verloren waren.

Als der Schmerz aus Brandans Körper in seine Hände kroch, schloss Nuramon die Augen und dachte an Aigilaos. Farodin hatte Recht gehabt: Der Kentaur war nicht mehr zu retten gewesen. Und doch fragte sich Nuramon, ob der Gedanke an Noroelle und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, an seinem Tod Schuld trugen. Vielleicht hätte er Aigilaos mit ein wenig mehr Mühe doch noch retten können.

Mit einem Mal verebbte der Schmerz, und Nuramon schlug die Augen auf. Farodin, Mandred und Vanna waren bei ihm und machten sorgenvolle Gesichter. Er ließ von Brandan ab. »Keine Angst. Es ist alles in Ordnung.«

Als Brandan kurz darauf erwachte, waren alle erleichtert. Er fühlte sich müde, aber er konnte berichten, was geschehen war. »Der Eber war plötzlich da. Da war dieser Gestank, und ich war wie gelähmt. Ich konnte nichts unternehmen. Nichts!« Er war vom Manneber bewusstlos geschlagen worden, um dann als Köder zu dienen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war ein entsetzliches Röcheln gewesen.

Nuramon berichtete Brandan und Vanna, was mit Aigilaos geschehen war. Er beschrieb das Schicksal des Kentauren bis in die letzte Einzelheit, nur dass Aigilaos ihn um den Tod gebeten hatte, verschwieg er. Auf den Gesichtern der anderen stand nacktes Entsetzen.

Farodin schüttelte den Kopf. »Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Manneber. Er ist mehr als nur eine ungeschlachte Bestie.«

Mandred entgegnete: »Was er auch ist, wir können ihn erledigen, wenn wir uns nicht mehr trennen lassen. Wir werden jetzt Wachen einteilen, damit uns dieses Mistvieh nicht überrascht.«

Noch bevor sie die erste Wache einteilten, kehrten zwei Wölfe still und mit angewinkeltem Schwanz ins Lager zurück. Sie waren unverletzt. Mandred war froh, die Tiere zu sehen, und streichelte einem von ihnen den Kopf. Vanna nahm sich des anderen an. Die Wölfe waren erschöpft, und sie stanken nach dem Manneber.

»Was ist das da?«, fragte Farodin und deutete auf die Schnauze des Wolfs, der bei Mandred war.

Für Nuramon sah es aus wie Blut.

Der Menschensohn schaute nach. »Es ist gefrorenes Blut. Seht, wie hell es ist!«

Nuramon gewahrte einen silbernen Glanz darin, konnte aber nicht sagen, ob der Glanz vielleicht vom Frost kam.

Alle betrachteten das Blut genau. Mandred sagte darauf: »Der Eber ist verletzbar. Morgen werden wir ihn aufspüren und es ihm heimzahlen!«

Farodin nickte entschlossen. Nuramon und Brandan stimmten gleichfalls zu.

Nur Vanna antwortete nicht darauf. Sie betrachtete die Schnauze ihres Wolfes, die auch blutig zu sein schien.

»Was ist mit dir?«, fragte Farodin.

Die Zauberin erhob sich, ließ den Wolf zurück und setzte sich zwischen Nuramon und Farodin. Sie machte ein besorgtes Gesicht und holte tief Luft. »Hört mir gut zu! Wir befinden uns nicht auf einer gewöhnlichen Elfenjagd. Und ich sage das nicht nur, weil wir so kläglich versagt haben und zwei unserer Gefährten tot sind.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mandred. »Weißt du etwas, das wir nicht wissen?«

»Am Anfang war es nur eine Ahnung. Sie erschien mir so abwegig, dass ich schwieg und sie rasch verdrängte. Ich spürte eine Gegenwart, die anders war als alles, was mir vertraut ist. Als wir auf der Fährte des Mannebers waren, nahm ich seinen Geruch wahr. Und wieder war da diese Ahnung, doch der Gestank war mir nicht Beweis genug. Als ich schließlich dem Manneber gegenüberstand und sah, wie die Wölfe gegen ihn kämpften, als ich in seine blauen Augen schaute und er seine Magie einsetzte, um Lijema diese Wunde zuzufügen, da wusste ich, womit wir es zu tun haben. Doch ich wollte es noch immer nicht wahrhaben. Aber jetzt, da ich dieses Blut sehe, kann es keinen Zweifel mehr geben…« Sie verstummte.

»Woran?«, drängte Mandred.

»Dir, Mandred, sagt es vielleicht nicht viel, aber die Kreatur, die du Manneber nennst, ist nichts anderes als ein Devanthar, ein Dämon aus alten Tagen.«

Nuramon war fassungslos. Das konnte nicht sein! In Farodins und Brandans Gesichtern sah er das gleiche Entsetzen, das auch er fühlte. Zwar wusste Nuramon nur sehr wenig über die Devanthar, doch sie galten als Schattenwesen, die sich dem Chaos und der Zerstörung verschrieben hatten. Die Alben hatten die Devanthar einst bekämpft und sie allesamt vernichtet. So hieß es in den Erzählungen, und in diesen waren den Dämonen nur wenige Worte gewidmet. Man sagte, sie könnten die Gestalt wechseln und seien mächtige Zauberer. Wahrscheinlich wusste allein die Königin, was es mit den Devanthar wirklich auf sich hatte. Nuramon konnte sich nicht vorstellen, dass Emerelle sie wissentlich gegen ein solches Schattenwesen ausgesandt hätte. Was Vanna sagte, durfte nicht wahr sein!

Farodin blickte mit starrer Miene zu der Zauberin. Er sprach aus, was Nuramon dachte: »Das ist unmöglich! Das weißt du.«

»Ja, genau das habe ich auch gedacht. Selbst als ich dieses Wesen klar vor mir sah, wollte ich es nicht glauben und redete mir ein, dass ich mich irrte. Doch dieses Blut mit seinem seltsamen Silberglanz hat mir die Augen geöffnet. Dieses Wesen ist ein Devanthar.«

»Nun, du bist die Zauberin, du kennst das Wissen der Alten«, sagte Farodin, doch er klang keineswegs überzeugt.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Brandan leise.

Vanna wich den Blicken der anderen aus. »Wir sind die Elfenjagd, wir müssen es zu Ende bringen. Also werden wir gegen ein Wesen kämpfen, das für einen Alben ein würdiger Gegner war.«

Aus Mandreds Zügen sprach Entsetzen. Jetzt erst schien er zu begreifen, wovon Vanna sprach. Offenbar kannte man die Alben und deren Macht auch bei den Menschen. Es mochte sein, dass sie für Mandred so etwas wie Götter waren.

»Noch nie hat ein Elf einen Devanthar getötet«, warf Farodin ein.

Nuramon tauschte einen Blick mit Farodin und musste einmal mehr an sein Versprechen gegenüber Noroelle denken. »Dann werden wir eben die Ersten sein!«, sagte er entschlossen.

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