Ein Blick in den Spiegel

Nuramon folgte dem Zwergenkönig und war sich gewiss, dass am Ende des Weges eine weitere Überraschung auf ihn wartete. Er hatte in diesem seinem Leben noch nie so viel Anerkennung erfahren wie hier in den Hallen der Zwerge. Zu seinen Ehren hatte der König ein Fest gegeben, und Nuramon hatte so ausgelassen gefeiert, dass er sich selbst kaum wieder erkannt hatte. Ein wenig Entgegenkommen hatte ausgereicht, und schon hatte Nuramon sich als Teil der Gemeinschaft gefühlt. Die Zwerge behaupteten zwar, er habe den Becher viel zu vornehm gehoben, doch er hatte sich immerhin bemüht, ihren rauen Tischsitten entgegenzukommen und Speis und Trank anzunehmen, die er sonst nie und nimmer gegessen hätte.

Viele Zwerge hatten ihn gefragt, ob er sich noch daran erinnere, ihnen begegnet zu sein. Doch zu seinem Bedauern erkannte er niemanden aus seinem früheren Leben. Er hatte zwar gehofft, die vertraute Umgebung werde ihm die Erinnerung daran schenken, doch so leicht war es offenbar nicht. Wenn er jedoch Thorwis glauben durfte, dann würde er eines Tages all seine Zwergenfreunde wieder erkennen und nachempfinden können, was er einst gewahrt, gedacht und gefühlt hatte.

Längst begriff Nuramon, wieso er in seinem früheren Leben den Zwergen so nahe gestanden hatte, obwohl sie auf den ersten Blick so wenig mit ihm gemein hatten. Thorwis hatte ihm gesagt, dass die Zwerge zwar das Mondlicht kannten und es _Silberlicht_ nannten, bislang jedoch nur einige wenige in dieses Licht gegangen waren. Die meisten Zwerge zeichneten die Erfahrungen eines Lebens auf und starben irgendwann, nur um dann in einem neuen Leben ihr eigenes Erbe anzutreten. Von Anfang an war für die Kinder der Dunkelalben die Wiedergeburt die Regel. Und jeder begriff seinen Tod nur als Unterbrechung des Lebens, gleich einem Schlaf, der die Erinnerung trübte. Mit der Zeit konnte man diese Erinnerung wiedererlangen, und der Tod war nicht mehr als ein kurzer Traum.

Manche Zwerge hatten die Erinnerung an all ihre Leben wiedergewonnen. Thorwis und Wengalf zählten zu ihnen. Die meisten aber befanden sich noch auf dem Weg zu ihrem Ziel. Bis sie es erreichten, würden sie in den Schriften lesen, die sie sich selbst hinterließen, um das Wichtigste über ihre Vergangenheit in Erfahrung zu bringen.

Nuramon war noch weit von der Erinnerung entfernt. Er wusste nur wenig über sich und hatte sich selbst auch nichts hinterlassen. Wengalf und Thorwis hatten ihm zwar berichtet, dass er die Zwerge in Albenmark kennen gelernt hatte, dass er mit ihnen von dort fortgegangen war und hier manche Heldentat vollbracht hatte. Was sie aber über ihn zu erzählen wussten, das widersprach dem Bild, das er von sich selbst gezeichnet hatte. Sie sprachen von einem Helden, wie sie in den alten Liedern besungen wurden. Doch was hatte er in diesem Leben schon geleistet, um solche Anerkennung zu verdienen? Nichts!

Wengalf riss Nuramon aus seinen Gedanken. »Wir sind fast da. Wir müssen hier entlang.« Der Zwerg bog in einen breiten Gang ein. Es war kühl hier, was so gar nicht zu dem warmen Licht passte, das die Barinsteine in den Wänden spendeten. In einiger Entfernung konnte Nuramon ein kräftigeres Licht sehen, das bis in die Gänge strahlte.

»Was ist dies für ein Ort?«, fragte Nuramon.

»Das sind die Hallen der Gesichter«, antwortete der Zwergenkönig rätselhaft.

Sie kamen dem hellen Licht immer näher, und bald schien es, als hafteten Schnee und Eis an den Wänden und spendeten Licht. Doch dann erkannte Nuramon, dass es sich um Kristalle handelte. Als sie das Licht erreicht hatten, sah Nuramon, wie die Wände beschaffen waren: Weiße Mineralien wuchsen in dünnen Kristallnadeln aus den Wänden und wirkten wie helle Grasbüschel. Jenseits dieses Wegstücks öffnete sich der Gang zu einer runden Halle mit einer vergleichsweise niedrigen Gewölbekuppel. In der Mitte ließ eine runde Öffnung das Licht von der Decke herab auf einen elfenhohen Bergkristall fallen. In diesem Kristall befand sich eine Gestalt. Sie war darin gefangen und stand aufrecht.

»Du hast mich nicht gefragt, was wir nach deinem Tod mit deinem Körper gemacht haben«, sagte Wengalf leise, als sie dem großen Kristall entgegentraten.

Nuramon erschrak. Vor ihm im Kristall stand ein Elf in einer Metallrüstung. Seine Augen waren geschlossen, als schliefe er. Nuramon war es, als blickte er in einen Spiegel. Gewiss, dieser Mann dort hatte schwarzes Haar und nicht braunes, und es war viel länger als seines. Das Gesicht des Mannes war ein wenig breiter, die Nase kürzer. Aber trotz der Unterschiede erkannte er sich selbst in dem Elfen wieder. Die Zwerge hatten seinen toten Körper in diese Halle gebracht und mit ihrer magischen Kunstfertigkeit in den Bergkristall gebannt. Das Ergebnis wirkte wie die Statue eines Helden. Nuramon schritt um den Kristall herum und musterte den Körper seines früheren Lebens. Im Vergleich zu diesem Krieger mit den breiten Schultern und der edlen Haltung musste er wie ein Kind wirken. Und doch konnte es keinen Zweifel geben, um wen es sich handelte.

»Wieso macht ihr das?«, fragte er Wengalf. »Wieso bahrt ihr die Körper auf? Wie soll ich an ein großes Leben glauben, wenn ich hier den Körper eines anderen vor mir sehe?«

Wengalf blickte ernst zu ihm auf. »Thorwis meinte, es sei der rechte Zeitpunkt, zu dem du dies sehen solltest. Und ich bin derselben Ansicht. Du musst lernen, dass du viel mehr bist als dein Körper.« Er deutete auf den Kristall. »Diesen da hast du im Tode abgelegt wie eine Rüstung, die ihre Tage gesehen hat. Und was für Tage das waren!« Der Blick des Zwergenkönigs fuhr ins Leere. »Der Tod ist schmerzvoll und die Erinnerung an ihn selten angenehm. Doch wenn ich in diese Hallen komme, um meine alten Körper zu sehen, dann stärkt mich das. Ich betrachte mein früheres Gesicht und erkenne, was ich war. Meine Erinnerung klärt sich. Denn im Angesicht meiner einstigen Körper fühle ich mich in alte Zeiten versetzt.«

Wengalf hatte Recht. Warum den Leib vergehen lassen, wenn sein Anblick als Brücke in die Vergangenheit dienen konnte? Nuramon trat nahe an den Stein heran. Jetzt erst bemerkte er, dass etwas an den Kristall gelehnt war. Er hatte es übersehen, so sehr hatte ihn die Gestalt in den Bann gezogen. Da war ein Schwert mit Gürtel und Scheide, daneben ein gespannter Bogen mit einem Köcher voller Pfeile. »Warum sind die Waffen dort nicht mit ihm eingeschlossen?«, fragte er den Zwergenkönig.

»Das ist eine kluge Frage. Selbst ein Zwerg würde diese Frage stellen.« Der König trat an seine Seite und schaute zu dem alten Körper Nuramons auf. »Du und ich haben oft über den Tod gesprochen. Thorwis hat uns gesagt, dass deine Seele nach Albenmark zurückkehren wird, wenn du stirbst. Und dort war niemand, der dir die Geschichte deines Lebens erzählen konnte. Du musst wissen, dass du dort damals einigen Spott ertragen musstest, weil du wiedergeboren warst.«

Nuramon dachte an seine Sippe. Sie lebten gewiss immer noch in Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte und ihnen der nächste Nuramon geboren werden würde.

Der König sprach weiter. »Aber du warst dir sicher, dass dich der Weg wieder hierher führen würde, solltest du dein Leben verlieren. Du sagtest: ›Wenn ich sterbe, dann bewahre meine Waffen auf. Im neuen Leben hole ich sie mir wieder.‹« Wengalf schüttelte den Kopf. »Damals haben wir gelacht. Wir hätten nicht gedacht, dass der Tod so schnell zu uns kommen würde. Das dort sind deine Waffen. Du warst ein hervorragender Bogenschütze und ein Meister des Schwertes.«

»Ich war ein guter Bogenschütze? Das kann ich kaum glauben.« Zwar konnte Nuramon einigermaßen mit einem Bogen umgehen, doch mit den Meisterjägern aus seiner Heimat durfte er sich kaum messen.

»Du musst dich daran gewöhnen, dass du einst anders warst als nun. Eines Tages wirst du die Barriere durchbrechen, die dich von deiner Erinnerung trennt. Und dann werden deine Fähigkeiten wachsen.«

»So wie deine einst gewachsen sind?«

»Ganz recht. Als wir Seite an Seite gegen den Drachen kämpften, da kannte ich meine vergangenen Leben nur aus den Schriften, die ich mir hinterlassen hatte, sowie aus dem Buch des Königs und den Erzählungen meiner Familie. Auf meinem Sterbebett habe ich Thorwis noch meinen Kampf gegen den Drachen erzählt, damit ich auch im neuen Leben davon erführe. Dann krönten sie mich, denn nie schied ich aus dem Leben, ohne die Krone zu tragen. Und dann starb ich. Doch ich musste mir die Erinnerung nicht mühsam erwerben. Ich erlangte sie in dem folgenden Leben.«

»Wenn du dich erinnerst, dann weißt du auch, wie es ist … zu sterben.«

Wengalf lachte. »Der Tod ist nichts weiter als ein Schlaf. Du nickst ein, und irgendwann wachst du auf. Aber manche von uns träumen. Sie sehen die Alben, sehen das Silberlicht, gewahren die Vergangenheit oder die Zukunft. Was diese Träume bedeuten, das können dir nur die Weisesten sagen.«

»Du meinst Thorwis.«

»Ich habe oft versucht, ihn dazu zu bewegen, mir etwas über die Todesträume zu verraten. Doch er sagt, er habe im Tod noch nie geträumt und könne nicht über Dinge reden, von denen er nichts verstehe.«

»Hast du geträumt?«

»Ja. Doch was immer ich sah, das muss ich für mich behalten, bis das Ende kommt.«

Nuramon fragte nicht weiter. Er schaute hinab auf die Waffen zu seinen Füßen und nahm den Bogen auf. Vielleicht würde er seine Erinnerung zurückbringen. Er wollte wissen, wie er einst in Albenmark gelebt hatte. Und vielleicht hatte er anders als Thorwis im Tode geträumt.

Der Bogen war aus hellem Holz, die Sehne aus einem Material, das Nuramon völlig fremd war. Sie glitzerte im Licht. Es musste einer der Zauberbogen sein, die er aus den Märchen seiner Kindheit kannte.

Er strich über das glatte Holz des Bogens, das nicht gelitten hatte. Ein Duft ließ ihn aufmerken. Er roch an seinen Fingern, dann direkt am Holz. Er kannte dieses Holz besser als jeder in Albenmark. Es stammte von Ceren, dem Baum, aus dem sein Haus gebaut war. Wehmütig dachte er an sein Heim. Er war zu leichtfertig ausgezogen und hatte nicht Abschied genommen wie einer, der nie zurückkehren würde, auch nicht von Alaen Aikhwitan. Mit diesem Langbogen würde er etwas bei sich tragen, das ihn stets an sein Heim erinnerte. Doch woher stammte die Sehne? Sie wirkte wie ein Silberfaden. Er fuhr prüfend mit dem Finger an ihr entlang und zupfte dann an ihr. Sie gab einen klaren Ton von sich, fast wie eine Laute.

»Du hast früher über unsere Armbrüste die Nase gerümpft und gesagt, ein Bogen sei besser.«

»Und? Hatte ich Recht?«

»Eine Waffe ist immer so gut wie der, der sie führt. Demnach war der Bogen der Armbrust überlegen. Nimm ihn! Vielleicht erreichst du im Umgang mit ihm die Höhe, auf der du dich bereits einmal bewegt hast.« Er hob den Köcher auf. »Diese Pfeile haben wir für dich gefertigt. Sie sind ein besonderes Geschenk, denn für uns Zwerge ist der Bogen nicht geschaffen. Aber schau dir die Spitzen an.« Er zog einen Pfeil hervor. Dieser hatte eine Pfeilspitze aus glänzendem Eisen. »Seit dem Tag deines Todes vor über dreitausend Jahren liegen sie hier und haben keinen Schaden genommen. Das ist der Zauber des Zwergenmetalls.«

Jedes Mal, wenn die Zwerge darauf zu sprechen kamen, wann er hier gestorben war, fragte er sich, wie viele Leben zwischen dem damaligen und seinem heutigen liegen mochten. Dreitausend Jahre waren selbst für einen Elfen eine gewaltige Zeitspanne.

Wengalf hielt ihm den Köcher mit dem Gurt hin. Nuramon lehnte den Bogen gegen sein Bein, dann nahm er den Köcher entgegen. Der Zwerg grinste. »Du hast nicht alles vergessen. Wie du den Bogen an dich lehnst … Genau wie damals!«

Nuramon wunderte sich. Er hatte sich nichts dabei gedacht.

Der Zwergenkönig reichte ihm nun das Schwert. »Das ist dein Schwert, eine schmale Klinge aus frühen Tagen, da Zwerge und Elfen Seite an Seite schmiedeten.«

Nuramon nahm die Waffe entgegen. Sie war leicht für ein Langschwert. Der Knauf war scheibenförmig, die Parierstange war schmal und bot einer Hand nicht viel Schutz. Der Griff war kurz, doch er schmiegte sich in seine Hand, als wäre er für sie geschaffen. Nuramon zog die Waffe aus der Scheide und musterte das Blatt. Es war länger als das des Schwertes der Gaomee. Da waren keine Hohlkehlen, und dennoch war die Waffe leicht. Das mochte zum Teil daran liegen, dass die Klinge recht schmal war. Doch das allein konnte das geringe Gewicht nicht erklären. Das Metall sah wie gewöhnlicher Stahl aus. Es musste ein Zauber auf der Waffe liegen. Doch er spürte davon nichts, obwohl er seit der Suche nach Guillaume sehr empfindsam für Magie geworden war.

»Ein schlichtes Schwert und doch verzaubert!«, erklärte Wengalf. »Du sagtest mir einst, das Schwert sei ein alter Familienschatz.«

Das war sein Schwert! Wer wusste schon, in wie vielen Leben er es getragen hatte? Nun besaß er zwei Schwerter, die gegen Drachen geführt worden waren. Das eine war mit diesem Leben verbunden, das andere mit seinen früheren. Nuramon schaute zu seinem einstigen Körper auf. Er würde Gaomees Schwert tragen, bis der Tag käme, an dem er sich an seine vergangenen Leben erinnerte und die Taten des toten Kriegers vor ihm zu seiner eigenen Vergangenheit wurden.

Der Abschied von seinem alten Körper und der Halle fiel Nuramon nicht leicht. Er hatte das Gefühl, hier etwas zurückzulassen.

Widerstrebend folgte er Wengalf in die Hallen des Königs, wo die Wachen auf sie warteten. Auch wenn Nuramon die Wege inzwischen vertraut waren, so hätte er Jahrhunderte in diesem Zwergenreich verbringen können, ohne all die Geheimnisse dieser Welt im Berg zu lüften. Wenn irgendein Elf in Albenmark wüsste, wie sehr ihm dieser Ort gefiel, dann würde sich der Spott, der ihm zuteil wurde, gewiss noch erhöhen. Mit den Zwergen hatten die Elfen nichts im Sinn. Aber wie konnte dieses Volk so sehr in Vergessenheit geraten, dass nicht einmal mehr bekannt war, dass sie die Kinder der Dunkelalben waren? König Wengalf führte es auf den Streit zurück, der Elfen und Zwerge schließlich entzweit hatte. Die Zwerge hatten keine elfische Königin neben Wengalf anerkannt und deswegen sogar einen Krieg geführt, um Albenmark sodann den Rücken zu kehren. In der Folge waren die Zwerge zu Märchengestalten geworden und die Kinder der Dunkelalben zum Mythos.

Nuramon wünschte, er könnte hier bleiben, von den Zwergen lernen und einst als jemand nach Albenmark zurückkehren, der die Erinnerung an seine früheren Leben erworben hatte. Doch ein Gedanke an Noroelle, und die Sehnsucht und Sorge zogen ihn fort. Was wohl seine Liebste von diesem Ort halten würde? Er konnte es nicht sagen.

Sie schritten bis zum Tor, wo Thorwis sie erwartete. Der alte Zauberer war in ein strahlend weißes Gewand gekleidet und hielt einen Stab aus versteinertem Holz in Händen. »Höre mich, Nuramon Zwergenfreund!«

Diesen Namen hatte er in den letzten Tagen oft gehört. Und auch dieses Mal lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Thorwis sprach weiter. »Die Taten an der Seite unseres Königs werden nie vergessen sein. Ich und meine Vertrauten mussten große Mühen auf uns nehmen, um König Wengalf davon zu überzeugen, dass sein Platz hier ist und ein anderer an deiner Seite das Orakel Dareen aufsuchen soll. Es war meine Aufgabe, deinen Begleiter zu wählen.«

»Hast du deine Wahl getroffen?«, fragte Wengalf.

»Ja, mein König. Es war nicht leicht. Denn von allen Seiten drangen Stimmen an mich heran und baten mich darum, diesen oder jenen zu erwählen. Ich tat mich schwer, wollte nicht dem einen den Vorzug vor dem anderen geben. Doch dann merkte ich, dass das Schicksal bereits die Entscheidung getroffen hat.« Er deutete auf eine Reihe gut bewaffneter Krieger. »Hier kommt dein Gefährte.«

Die Krieger machten Platz für Alwerich, der mit einem feinen Kettenhemd, einem schweren Mantel und großem Gepäck vortrat.

»Hier ist der Zwerg, dessen Augen dich in diesem Leben als erste erblickten!«, sprach Thorwis und winkte den jungen Zwerg zu sich.

Alwerich verbeugte sich vor dem König und senkte dann das Haupt vor Thorwis und Nuramon.

Wengalf legte dem Jüngling die Hand auf die Schulter. »Alwerich, dies ist die erste Reise seit langem, die einen Zwerg auf einen Pfad aus diesem Gebirge führt. Der Letzte, der Seite an Seite mit einem Elfen eine Queste bestand, war ich. Mache unserem Volk alle Ehre und schwöre, dass du Nuramon ein solcher Gefährte sein wirst, wie ich es einst war.«

»Ich schwöre es!«, sagte Alwerich feierlich.

Thorwis trat an die Seite des Königs. »Du weißt, welche Frage du dem Orakel stellen musst.«

»Das weiß ich, Meister. Und ich werde mit dem Orakelspruch zurückkehren.«

Alwerich wandte sich noch einmal um und trat an eine edel gekleidete Zwergenfrau heran, um sie zu umarmen. Dann kehrte er zurück. »Hier ist meine Axt, Waffenbruder!« Er zog die Streitaxt und hielt sie vor Nuramon hin. Die Waffe hatte einen kurzen Schaft, an dessen Ende ein großes Blatt einem kleinen, schnabelförmigen Schlagdorn gegenüberstand.

»Du musst deine Waffe mit ihm kreuzen«, flüsterte Wengalf.

Nuramon zog Gaomees Schwert aus der Scheide. Hatten eben noch Geflüster, rasselndes Metall und schlichte Aufgeregtheit der Zwerge die Halle erfüllt, so verstummten nun die Laute, und nurmehr der Wind und das entfernte Rauschen von Wasser waren zu hören. Wengalf wie auch Alwerich machten Augen, als hätten sie einen Geist gesehen. Thorwis war der Einzige, der nicht überrascht schien, sondern mit einem Schmunzeln auf die Waffe blickte.

»Sternenglanz!«, sagte Wengalf leise. Und überall wurde dieses Wort nachgeflüstert.

Langsam führte Nuramon seine Klinge an den Schaft von Alwerichs Streitaxt und sagte: »Waffenbrüder!«

Ohne den Blick von Gaomees Schwert abzuwenden, zog der junge Zwerg seine Axt zurück.

Nuramon war verunsichert. Alle betrachteten das Schwert so fassungslos, dass er es nur zögerlich in die Scheide gleiten ließ.

»Ahnst du, wie wertvoll dieses Schwert ist?«, fragte Wengalf.

»Ich hatte es offenbar unterschätzt«, antwortete er dem König. »Gibt es hier keinen Sternenglanz?«

»Nein, den gibt es nur in Albenmark. Und wir haben damals nur wenig davon mitgenommen. Sternenglanz allein macht das Schwert schon zu etwas Beeindruckendem. Doch diese Waffe stammt zudem aus frühen Tagen. Sie ist jünger als dein altes Schwert, aber sie ist die Arbeit eines Zwerges. Er war einer der wenigen, die ins Silberlicht gingen. Er schmiedete viele Waffen wie diese. Darf ich sie noch einmal sehen?«

Nuramon zog das Schwert erneut und reichte es dem König. Wengalf nahm es entgegen und fuhr mit den Fingern über die Klinge. »Der große Teludem hat diese Waffe für einen Elfen geschaffen.« Der König deutete auf Gaomees Namen, der dort in verschlungener Schrift stand. »Dieses Symbol hier ist später hinzugefügt worden, von Elfenhand.« Er gab Nuramon das Schwert zurück. »Es gibt nur vier dieser Elfenklingen aus Zwergenhand. Es heißt, sie wären alle in den Trollkriegen und im Kampf gegen die Drachen vernichtet worden. Ich kann mir keinen besseren Träger für diese Waffe vorstellen als dich, Nuramon. Sie wird dir gute Dienste leisten.«

Nuramon beugte das Knie vor dem König, um auf einer Augenhöhe mit ihm zu sein. Dann sprach er: »Ich danke dir, Thorwis, und all den anderen. Ich bin mit diesem Leben in diese Halle gekommen und verlasse sie mit all den früheren. Ich danke dir für all das, was du mir gegeben hast und woran ich mich noch nicht erinnern kann. Wir werden uns wiedersehen, Wengalf. Wenn nicht in diesem Leben, dann in einem späteren.«

»Wären alle Elfen wie du, Nuramon, wir hätten Albenmark nie den Rücken gekehrt«, gab der König zurück. »Und nun müsst ihr beide gehen, bevor ich gegen alle Vernunft handle und euch doch noch begleite.«

Nuramon nickte. Dann erhob er sich. »Leb wohl! Bis wir uns wiedersehen.« Er warf Alwerich einen Blick zu. Der Zwerg trat an seine Seite. Noch einmal schaute Nuramon in die gigantische Halle, dann schritten die beiden Gefährten hinaus ins Sonnenlicht.

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