Die erste Lehrstunde

Nuramon löste die Hände von der wunden Stelle der Fauneneiche. Viel hatte er nicht ausrichten können; zwar hatte sich das Holz unter der Rinde ein wenig gefestigt, doch es war die Trauer um Noroelle, die das eigentliche Leiden der Eiche darstellte. Nuramon kam es so vor, als wäre seine Liebste für die Eiche wie eine Tochter gewesen.

Der Faun trat an den Baum heran und legte seine Wange an die Rinde. »Hör mich, Fauneneiche!«, flüsterte er. Was er darauf sprach, war zu leise, als dass Nuramon es hätte verstehen können. Bald darauf löste sich Ejedin wieder vom Stamm und trat abwartend hinter Nuramon und Farodin zurück.

»Hat sie dich gehört?«, fragte Farodin.

Ejedin aber schwieg und starrte nur auf die Eiche. Als er nickte, war klar, dass die Fauneneiche mit ihm sprach. Schließlich sagte er: »Sie ist bereit, euch anzuhören.«

Nuramon tauschte einen Blick mit Farodin. Als dieser ihn stumm aufforderte, sprach er: »Hör nun mich an, Fauneneiche!«

Der Baum schwieg.

»Wir flehen dich an! Unterweise uns nun! Warte nicht bis zum Frühling! Jeder Tag ist kostbar. Und selbst wenn deine Lehren lange dauern, mag es am Ende entscheidend sein, dass wir jetzt begonnen haben.«

»Das sind große Worte«, entgegnete die Eiche. Ihre Stimme drang Nuramon direkt in den Geist. »Bist du ein Weiser, dass du das sagst?«

»Nein, ich bin weit davon entfernt«, gab Nuramon zur Antwort. »Es war Alaen Aikhwitan, der uns an dich verwies. Er sagte auch, wir sollten nicht verweilen. Eben so, als wäre große Eile geboten.«

»Der Rat von Alaen Aikhwitan galt schon lange vor meiner Zeit. Und durch deine Hände, Nuramon, habe ich seinen Hauch gespürt … Als ihr gestern bei mir wart, da war ich schläfrig. Es war ein schlechter Zeitpunkt. Doch Ejedin und deine heilenden Hände haben mich geweckt. Ich kann nicht sagen, wann ich wieder müde werde. So vernehmt, was ich für euch tun kann.« Die Stimme der Eiche gewann an Kraft. »Ich vermag euch den Zauber zu lehren, der euch auf die Weise der Alben auf den Pfaden gehen lässt. Dich, Nuramon, erkenne ich als Zögling Alaen Aikhwitans und als Günstling der Ceren. Dir wird meine Magie nicht fremd sein. Du aber, Farodin, musst neue Wurzeln schlagen und über dich hinauswachsen. Denn dein Zauber stammt nicht von einem Baume. Du musst mehr sein wollen, als du einst warst und jetzt bist. Von uns allen wird etwas Ungewöhnliches gefordert. Wir müssen auf gefrorenen Boden säen, um im Frühling ernten zu können.«

»Können wir das, was du uns lehren willst, denn bis zum Frühling erreichen?«, fragte Farodin zweifelnd.

Die Fauneneiche schwieg lange, ehe sie antwortete. »Was ihr bis dahin nicht gelernt habt, wird euch nimmermehr nützen. Seid aufmerksam und bewahrt euch einen klaren Geist.«

Der Faun trat vor. »Wirst du die Bohrkäfer verbannen?«

»Sie haben es warm in mir. Sie ruhen und sind ahnungslos. Es wäre grausam, sie in diese Kälte zu schicken. Ich werde im Frühling über sie entscheiden.«

Nuramon ahnte, was das bedeutete. Die Eiche würde im Frühling entscheiden, ob Farodins und seine Fähigkeiten ausreichten, um Noroelle zu retten – und damit auch sie selbst.

»Nun, meine beiden Elfenschüler. Ich sehe, euer Geist ist voller Fragen. Was ich euch nun vortragen werde, das habe ich einst auch Noroelle gesagt.« Die Eiche ließ sich Zeit, bis sie weitersprach. Fast schien es, als wollte sie Nuramons und Farodins Geduld auf die Probe stellen. »Es gibt fünf Welten, die uns bekannt sind. Ihre Wurzeln nennen wir Albenpfade. Sie durchziehen die einzelnen Welten und verbinden sie miteinander. Die Kraft, die in ihnen fließt, macht die Magie und den natürlichen Zauber unserer Gefilde erst möglich.« Die Eiche sprach nun schneller, und ihre Stimme klang wie die einer aufgeweckten jungen Frau. »Die Alben sind einst auf diesen Pfaden von einem Ort zum anderen und auch zwischen den Welten gereist. Die Albensterne sind Wegkreuzungen. Dort treffen sich die Pfade, verbinden sich und gehen wieder auseinander. An diesen Orten ist die Magie stark. Und je mehr Pfade sich kreuzen, desto mächtiger ist sie.« Die Eiche machte eine Pause. »Das sagte ich einst auch Noroelle«, setzte sie nach.

Nuramon starrte auf den Stamm der Fauneneiche. Er stellte sich vor, wie seine Liebste als junge Elfe im Frühling an diesem Stamm saß und die Worte vernahm, die vieles, was nur aus alten Erzählungen bekannt war, zur Gewissheit machten.

Die Fauneneiche sprach weiter. »Ich kann euch den Zauber lehren, den ihr benötigt, um euch ein Tor in die Andere Welt zu öffnen. Doch hört gut zu! Der Zauber schafft nicht nur Tore zwischen den Welten. Wenn ihr in der Anderen Welt nach Noroelle sucht, dann prägt euch die Pfade und Sterne ein. Vielleicht vermögt ihr eines Tages auf den Pfaden zwischen den Albensternen einer Welt zu reisen, so wie die Alben es getan haben. Ich werde euch die Gefahren erklären und euch ein Gefühl für den Zauber schenken. Ihr werdet ihn nie so vollendet beherrschen wie Noroelle. Sie ist so mächtig, dass sie nicht durch eine Pforte schreiten muss, sondern zusehen kann, wie sich die Welt um sie herum verändert. Euch steht dieser Weg nicht offen. Ihr werdet ein kleines Tor öffnen und wieder schließen können. Doch hütet euch vor verschlossenen Toren und magischen Barrieren. Zwingt ihr euch durch diese hindurch, mögt ihr ein Opfer der Zeit werden. Ein Opfer des Raumes werdet ihr nur, wenn ihr durch niedere Albensterne schreitet oder aber kläglich beim Zaubern versagt. Seid ihr bereit, auf Noroelles Spuren zu wandeln, um auf den Pfaden der Alben zu ihr zu gelangen?«

Nuramon musste nicht lange überlegen. Doch Farodin war es, der zuerst antwortete. »Das sind wir.«

»Unterweise uns! In Noroelles Namen«, bat Nuramon.

Die Fauneneiche lachte, und es klang fast wie das helle Lachen einer Auenfee. »Dann seid meine Schüler!«

Dies also war der Anfang der Suche nach Noroelle. Nuramon hoffte nur, dass die Königin nicht misstrauisch wurde. Bis zum Frühling würden sie häufig die Nähe der Fauneneiche suchen, und Emerelle konnte sehen, was in ihrem Reich geschah. Doch war es verwunderlich, dass sie der Fauneneiche nahe kamen, die so sehr um Noroelle trauerte? So sehr er auch den Blick der Königin fürchtete, so sehr freute er sich auf die Unterweisung durch die Eiche. Sie hatte Recht: Sie befanden sich nun auf Noroelles Spuren. Im Frühling würde sich zeigen, wie weit sie auf diesem Weg gekommen waren.

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