Getrennte Wege

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür. Erleichtert verharrte Farodin. Er hatte fast nicht mehr daran geglaubt, es noch zu schaffen. Endlich war er dem Labyrinth entkommen!

Vorsichtig schob er die Geheimtür weiter auf, bis der Spalt gerade breit genug war, um hinauszuschlüpfen. Der Elf befand sich auf einem schmalen Flur, der in graues Zwielicht getaucht war. Vorsichtig schloss er die Geheimtür wieder, bis sie sich vollkommen in die Holztäfelung der Wand einfügte. Er zog eines der Wurfmesser und schnitt eine schmale Kerbe in das Holz, damit er oder andere die Stelle später wieder finden konnten. Dann machte er sich auf den Weg hinab. Er wusste, wo er Mandred finden würde, falls sein Gefährte überhaupt noch lebte. Shalawyn hatte ihm geschildert, was die Trolle mit ihren Gefangenen machten.

Farodin schob den Dolch in das Lederfutter am Arm zurück. An diese Nacht würden die Trolle noch lange denken.

Bald fand der Elf eine Wendeltreppe, die hinab zu den Lagerräumen führte. Hier im Turm hatte sich nichts verändert. Es gab weniger Möbel, und er war schmutziger, doch sonst war alles wie in Farodins Erinnerung. So weitläufig war die riesige Feste, dass man kaum fürchten musste, jemandem zu begegnen, wenn man die etwas abseits gelegenen Gänge und Treppen nahm. Einmal versteckte sich Farodin unter einem Treppenabsatz, ein andermal verschmolz er mit den Schatten einer tiefen Nische, um Trollen auszuweichen. Sie waren unachtsam. Und warum hätten sie auch vorsichtig sein sollen? Es waren Jahrhunderte vergangen, seit es zum letzten Mal jemand gewagt hatte, sie in ihrem Turm anzugreifen.

Farodin war fast am Ziel, als er einen Gang erreichte, auf dem mehrere Trolle hingestreckt lagen. Ihr gluckerndes Schnarchen hatte ihn vorgewarnt. Es waren fünf. Sie lagen quer im Gang und an die Wände angelehnt. Ein leeres Fass ließ darauf hoffen, dass sie nicht allzu leicht aufwachen würden.

Einen Moment war Farodin versucht, ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Doch es wäre dumm, solche Spuren zu hinterlassen. Je später die Trolle bemerkten, dass es einen Feind im Turm gab, desto besser war es für ihn.

Behutsam schlich er zwischen den Schlafenden hindurch. Er hatte es fast geschafft, als sich einer von ihnen räkelte und zur Seite rollte. Er hatte in einer Pfütze von blutigem Erbrochenem gelegen. Große weiße Würmer trieben darin. Nein … Nicht Würmer. Es waren schlanke Finger, weiß wie frisch gefallener Schnee. Ein Schauer des Ekels überlief den Elfen. Größe und Form der Finger ließen nur einen Schluss zu, von wem sie stammten. Wieder klang ihm das gequälte Flüstern der sterbenden Shalawyn im Ohr. _Sie halten uns wie Federvieh in Käfigen, mästen uns und schlachten uns zu ihren Festen_.

Farodin zog einen Dolch und trat neben den Troll, der sich in seinem eigenen Erbrochenen wälzte.

Seine Hand schnellte vor. Wenige Zoll über dem linken Auge des Trolls verharrte die Klinge. Es wäre ein Leichtes, den Stahl durch das Auge tief in den Schädel zu stoßen. Der Troll würde nicht einmal merken, wie sein Leben endete. So fest hielt Farodin den Griff der Waffe umklammert, dass die Lederumwicklung leise knirschte. Doch er durfte seinem Hass nicht nachgeben! Er durfte nicht zu früh entdeckt werden! Er würde mehr Trolle töten, wenn sie nicht jetzt schon um seine Anwesenheit wussten! Und vor allem würde er nur dann den einen töten, auf den es ihm ankam, wenn dieser nicht gewarnt war!

Der Elf atmete langsam aus. Nicht die Beherrschung verlieren, ermahnte er sich stumm. Ruhig! Erst rettest du alle, die noch leben. Dann beginnt das Morden!

Hastig eilte er den Gang entlang. Der Geruch von Gebratenem hing in der Luft. Farodin wurde übel. Er beschleunigte seine Schritte und gelangte in eine Kammer mit einer gewölbten Decke. An diesen Ort erinnerte er sich nicht von früher. Es gab sechs Ausgänge. Der Elf zögerte. Der widerliche Bratenduft war überall. Auch ein schwacher Duft nach Honig.

Ein lautes Scheppern ertönte. Es kam vom Durchgang gegenüber. Ohne länger an seine Deckung zu denken, stürmte Farodin voran. Noch immer hielt er das schwere Wurfmesser mit der rautenförmigen Klinge in der Hand.

Er gelangte in einen weiten Küchenraum. Mehrere offene Feuer brannten hier. Die Luft war zum Schneiden. Es stank nach Rauch, ranzigem Fett, frischem Brot und Gebratenem. Neben einem gemauerten Ofen stand ein riesiger Troll. Der Elfenfresser holte mit seiner Keule aus, um auf jemanden einzuschlagen, den Farodin nicht sehen konnte.

»Wirst gut schmäcken in Honikkrustä!«

Farodins Arm schnellte vor. Der Dolch traf den Troll in den Nacken, dort, wo die Wirbelsäule in den Schädel überging. Bis zur Tür hin hörte der Elf das knirschende Geräusch von Stahl, der durch Knochen schnitt. Der Troll ließ seine schwere Holzkeule fallen. Dann brach er in die Knie, ohne einen Laut von sich zu geben.

Als Farodin zum großen Ofen trat, um dem Toten das Messer aus dem Nacken zu ziehen, sah er Mandred. Der Jarl lag übel zusammengeschlagen am Boden. Er blutete aus einer Platzwunde an der Stirn und hatte kaum die Kraft, sich aufzusetzen.

»Du kommst spät«, brummte Mandred und spuckte Blut. »Tut verdammt gut, dich zu sehen.« Er streckte die Hand aus. »Komm, hilf mir auf die Beine. Ich fühl mich, als wäre eine Herde wilder Pferde über mich hinweggetrampelt.«

Farodin lächelte. »Ich finde, diesmal übertreibst du es mit deiner Mühe, einen guten Platz an einer Festtafel zu bekommen.«

Mandred seufzte. »Bei deinem Humor musst du mit Luth verwandt sein. An Tagen wie diesem frage ich mich immer, ob der Schicksalsgott mich hasst oder ob dies seine ganz besondere Art ist, seinen Lieblingen Zuneigung zu zeigen.«

»Leben noch andere von den Gefangenen?«

Der Mensch deutete auf eine Tür, die halb hinter Mehlsäcken verborgen war. »Dort.« Mandred zog sich am Ofen hoch. »Kann ich zuerst hineingehen? Ich habe noch was zu erledigen.«

Farodin stützte ihn, denn Mandred hatte nicht die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Seine Hose war blutverklebt.

Humpelnd schaffte er es zur Tür und riss sie auf. »Ihr seid frei, sagt euch euer Lügner! Und wer mir nicht glaubt, der soll in seinem Käfig verrotten.«

Mandred hatte auf Dailisch gesprochen und mit so schwerem Akzent, dass man ihn kaum verstand. Verblüfft blickte Farodin seinen Kameraden an.

»Das musste sein.« Der Jarl lächelte zufrieden. »Die da drinnen wissen, wie das gemeint ist.« Er deutete zu einigen langen Stangen mit bedrohlich aussehenden Haken. »Damit kannst du die Käfige herunterholen.« Mandred löste sich von Farodin und knickte fast sofort ein. Fluchend sank er gegen die Mehlsäcke und umklammerte sein linkes Bein. Eine blutige Knochenspitze ragte durch Mandreds zerrissene Hose.

»Verdammter Bastard von einem Troll«, fluchte der Jarl. Blanker Schweiß stand ihm auf dem Gesicht.

Farodin sah sich die Wunde an. Schienbein und Wadenbein waren gebrochen und durch das Muskelfleisch gestoßen. Sein Freund musste grässliche Schmerzen leiden. Dafür hielt er sich erstaunlich gut. Aber er würde keinen Schritt ohne fremde Hilfe gehen können, und die Flucht durch die Geheimgänge würde eine mörderische Tortur für ihn werden.

»Ich mache mir Schienen aus den Holzstangen«, sagte Mandred gepresst. »Dann wird es schon gehen.«

»Natürlich.« Farodin nickte. Dann nahm er einen der Haken und trat in die dunkle Kammer. Der Fäulnisgestank hier raubte ihm schier den Atem. Es dauerte einige Herzschläge, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Kammer war größer, als er erwartet hatte. Sie maß mindestens zwanzig Schritt im Durchmesser. Tropfenförmige Käfige hingen von der Decke. Es mussten hundert oder mehr sein. Die meisten waren leer.

Sieben Elfen konnte Farodin befreien. Sie waren die letzten Überlebenden. Die lange Gefangenschaft hatte sie gezeichnet. Ihre Haut, die seit zwei Jahrhunderten kein Tageslicht mehr gesehen hatte, war weiß wie Schnee geworden. Ihre Augen waren rot entzündet und konnten kein Licht vertragen. Am schlimmsten jedoch hatten ihnen die zu engen Käfige zugesetzt. Ihre Knochen waren verkrümmt, und es bereitete Ihnen Schmerzen, sich aufrecht zu halten. Sie zeigten keine Freude, als Farodin sie befreite. Schweigend kauerten sie am Boden. Ein Mann mit langem weißem Haar war ihr Wortführer. Elodrin. Er war einmal einer der Seefürsten im fernen Alvemer gewesen. Farodin konnte sich erinnern, ihn manchmal an Emerelles Hof gesehen zu haben.

»Nicht die Königin hat dich geschickt, nicht wahr«, sagte der Alte mit müder Stimme. »Ich kenne die Geschichten über dich, Farodin. Du bist hier, um deine eigene Fehde zu führen.«

»Das wird mich nicht davon abhalten, dich nach Hause zu bringen.«

Elodrin schnaubte verächtlich. »Sieh uns an! Sieh, was sie aus uns gemacht haben!« Er deutete auf eine Elfe, die leise schluchzend am Boden kauerte. »Nardinel war einmal so schön, dass man keine Worte dafür finden konnte. Nun ist sie ein krummes Weib mit gequälter Seele und kann den Anblick der Sonne nicht mehr ertragen. Wir alle haben uns den Tod lange herbeigesehnt. Er hat keinen Schrecken für uns. Im Gegenteil, der Tod bedeutet die Freiheit, wiedergeboren zu werden.«

»Ist es dir wirklich egal, ob du als Fleisch auf der Tafel des Trollherzogs endest? Hast du dich schon so sehr aufgegeben?«, erwiderte Farodin scharf.

Elodrin sah ihn lange schweigend an. Dann nickte er kaum merklich. »Verzeih mir, wenn ich dir nicht danken kann. Versuch uns zu verstehen. Du hast tatsächlich nur unser Fleisch gerettet. Unser Leben hat uns Orgrim schon längst genommen.«

Die Elfen mussten sich die Augen verbinden, um die Küche mit ihren hellen Feuern durchqueren zu können. Mandred war nicht lange genug in der Finsternis gefangen gewesen, um so empfindlich wie die Elfen zu werden. Der Menschensohn würde sie führen müssen, dachte Farodin, denn er selbst würde nicht mit zurück zum Boot kommen.

Scandrag hatte in Truhen die Schätze seiner Opfer verwahrt: Schmuck und Waffen. Dort fanden sie Mandreds Axt. Die Elfen wollten von all dem nichts wissen, doch Farodin beharrte darauf, dass jeder von ihnen zumindest eine Waffe an sich nahm. Und sei es, damit sie sich selbst das Leben nehmen konnten, bevor sie noch einmal von den Trollen gefangen genommen wurden.

Sie wollten die Küche schon verlassen, als Elodrin riet, Feuer zu legen.

»Dieser Turm besteht nur aus Steinen«, höhnte Mandred, der den alten Elfen offensichtlich nicht leiden konnte. »Steine brennen nicht. Ein Feuer zu legen ist sinnlos.«

»Darum geht es nicht, Menschensohn. Der Turm ist wie ein riesiger Kamin. Der Rauch wird nach oben steigen. Er wird von unserer Flucht ablenken und vielleicht auch ein paar Dutzend Trolle ersticken. Scandrag lagert hier viele Fässer mit Waltran. Wenn sie einmal in Brand geraten, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie zu löschen.«

Es dauerte nicht lange, bis sie die Fässer fanden. Sie schlugen ein paar Dauben ein, sodass der Tran in zähen Strömen zu Boden rann. Farodin benötigte mehrere Fackeln, um ihn in Brand zu setzen. Mit Scandrags Küche würde auch ein großer Teil der Vorräte der Nachtzinne vernichtet, und das mitten im Winter. Nicht lange, und diese verfluchten Elfenfresser würden Hunger leiden, dachte Farodin zufrieden. Das Feuer zu legen war ein guter Plan! Hätten die Trolle geahnt, was es hieß, einen Elfen wie Elodrin zum Feind zu haben, sie hätten ihn längst geschlachtet.

Farodin führte die Flüchtlinge auf einem Umweg an den schlafenden Trollen vorbei. Selbst das blasse Licht der Barinsteine in den Gängen war zu hell für die an völlige Finsternis gewöhnten Gefangenen. Mit verbundenen Augen gingen sie hintereinander her. Jeder hatte die rechte Hand auf die Schulter des Elfen vor ihm gelegt. Die dunkelhaarige Nardinel stützte Mandred. Der Jarl versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch er war vor Schmerz fast ebenso bleich wie die Elfen.

Wenn es Luth, dessen Namen der Menschensohn bei jeder Gelegenheit im Munde führte, wirklich gab, dann war ihnen der Gott auf ihrer Flucht wohlgesinnt. Kein Troll kreuzte ihren Weg, bis Farodin sie zur verborgenen Tür brachte. Er erklärte den Elfen, wie sie im Labyrinth der Kobolde hinab zur weißen Grotte finden würden. In der Finsternis der Gänge würden sie sich gewiss zurechtfinden können, und er hoffte, dass die Mittwinternacht dunkel genug war, um sie vor den Blicken der Trolle zu verbergen, wenn sie am Strand entlang zur Höhle liefen.

Farodin nahm Elodrin zur Seite. »Dir ist klar, dass der Mensch nicht überleben würde, wenn ihr durch die Bucht schwimmt. Er kann sich nicht vor der Kälte des Wassers schützen.« Farodin wünschte, Elodrin würde die Binde endlich abnehmen, damit er ihm in die Augen sehen konnte, wenn er mit ihm sprach. »Mandred kam hierher, ohne euch zu kennen, und er hat sein Leben für euch gewagt.«

»Ich habe ihn nicht darum gebeten«, entgegnete der Alte kühl.

»Das kalte Wasser würde ihn töten, Elodrin. Ihr müsst über den Landesteg und dann am Strand entlang zur Höhle laufen.«

»Wenn wir diesen Weg nehmen, dann können wir uns gleich den Trollen stellen. Sollte der Mond am Himmel stehen, sind wir am Strand nicht zu übersehen.«

»Einen anderen Weg gibt es nicht für Mandred!«

»Dann war es eine unkluge Entscheidung von ihm, hierher zu kommen.«

Farodin hatte das absurde Gefühl, dass Elodrin ihn durch die Augenbinde hindurch sehen konnte; dass der Alte ihn studierte, jede seiner Gesten, jede Schwankung im Tonfall seiner Stimme.

»Du warst zu lange in der Welt der Menschen, Farodin. Jetzt haftet dir etwas von ihnen an. Ich fühle es deutlich. Wenn du so sehr um das Leben von Mandred besorgt bist, dann komm mit uns.«

Farodin blickte unschlüssig den schmalen Flur hinauf. Er war sich sicher, dass er bis zum Trollherzog kommen würde. Mandred und die übrigen Elfen waren längst durch die Geheimtür in das Labyrinth der Kobolde verschwunden.

»Bevor die nächste Flut kommt, müsst ihr die Höhle verlassen. Wenn ich bis dahin nicht bei euch bin, dann wartet nicht länger auf mich. Sollte ich nicht zurückkehren, dann reise an meiner Stelle nach Firnstayn. Hinterlasse eine Nachricht für Nuramon, dass er von nun an allein nach Noroelle suchen muss.« Farodin zog das kleine Silberfläschchen mit den Sandkörnern aus seinem Gürtel. Dreihundertsiebenundvierzig hatte er inzwischen gefunden. »Sorg dafür, dass Nuramon das hier bekommt.« Er drückte Elodrin das Fläschchen in die Hand. »Nuramon wird wissen, was damit zu tun ist.«

Der alte Elf nahm das Fläschchen entgegen. »Ich werde dafür sorgen, dass _Mandred_ deine Nachricht und das hier weitergibt.« Er ergriff Farodins Handgelenk im Kriegergruß. »Lass Orgrim langsam sterben, wenn du kannst.« Mit diesen Worten trat er durch die Geheimtür.

Farodin schob die Holzvertäfelung zurück. Endlich allein! Er strich seinen zerrissenen Umhang glatt und zog sich die Kapuze über den Kopf. Dann wurde er eins mit den Schatten der Nachtzinne.

Noch hatte es keinen Alarm wegen des Feuers gegeben, aber lange würde es nicht mehr dauern. Farodin hetzte Treppen und Flure entlang. Immer höher führte ihn sein Weg den Turm hinauf. Er setzte über schlafende Trolle hinweg und wich zweimal patrouillierenden Wachen aus. Beim zweiten Mal musste er sich auf einem Abort an der Außenwand des Turms verstecken. Eisige Steigwinde zerrten an seinen Kleidern. Zwischen den Füßen hindurch konnte er bis zum Hafen hinabblicken. Mehr als hundert Schritt ging es unter ihm in die Tiefe.

Endlich erreichte er den Zugang zur Schwarzen Stiege. So hatte er damals die Treppe aus Obsidian genannt, die verborgen in einer tragenden Wand des Turms bis hinauf zur Spitze führte. Die steinerne Geheimtür schwang leicht in ihren Angeln. Sie war vollkommen ausbalanciert. Die Tür lag hinter dem Standbild eines Eisbären, der sich zum Angriff auf seine Hinterbeine aufgebäumt hatte.

Irgendjemand hatte in seinem Übermut die vorgestreckten Vordertatzen des Bären abgeschlagen. Doch ganz offensichtlich hatte sich noch nie ein Troll die Mühe gemacht, die Nische hinter der Statue näher in Augenschein zu nehmen.

Matt glühende Barinsteine beleuchteten die spiegelnden Stufen der Treppe. Farodin dachte an seinen letzten Tag mit Aileen. Der Herzog der Trolle hatte sie während der Kämpfe um die Shalyn Falah getötet. Bevor sie starb, hatte Farodin ihr geschworen, dass es nie eine andere Frau in seinem Leben geben würde. Und er hatte geschworen, Dolgrim, den Herzog der Trolle, von Wiedergeburt zu Wiedergeburt zu verfolgen. Es war der grimmigste aller Eide, den ein Albenkind leisten konnte.

Farodin hatte Dolgrim gefunden und getötet, noch bevor das Bestattungsfest für Aileen gefeiert wurde. Drei weitere Male hatte er den wiedergeborenen Herzog erschlagen. So verhinderte er, dass sich das Schicksal des Trolls erfüllen konnte und er ins Mondlicht einging. Dabei machten es ihm die Trolle leicht. Ihre Anführer wurden stets aus den wiedergeborenen Seelen erwählt. Starb der Herzog, dann konnte dieses Amt nicht besetzt werden, bis sich ein bedeutender Schamane ganz sicher war, den wiedergeborenen Herzog entdeckt zu haben. Erst wenn ein Trollfürst ins Mondlicht ging, wurde sein Platz wirklich frei. Wann immer er den Herzog der Nachtzinne tötete, konnte er sicher sein, das Leben des wiedergeborenen Dolgrims auszulöschen.

Mit klopfendem Herzen verharrte Farodin am Ende der Obsidiantreppe. Er hatte ein fernes Geräusch wie Gongschlag vernommen. War das Feuer entdeckt worden? Ein Zögern konnte er sich jetzt nicht mehr erlauben. Er griff nach dem steinernen Hebel in der Wand neben sich. Lautlos glitt die Decke über ihm weg. Farodin bewunderte die Handwerkskunst der Kobolde. Jahrhunderte war es her, dass sie diese Geheimtür angelegt hatten, doch die Zeit hatte ihr nichts anzuhaben vermocht.

Vorsichtig schob sich der Elf durch die Öffnung. Hinter ihm schloss sich die Bodenklappe. Nichts deutete mehr auf ihre Existenz hin.

Farodin hatte keine Ahnung, wie man die Geheimtür von diesem Zimmer aus öffnete. Vielleicht war sie nie entdeckt worden, _weil_ man sie nicht von hier aus öffnen konnte. Wie damals würde er auf einem anderen Weg entkommen müssen.

Die Kammer des Herzogs hatte sich verändert. Sie erschien ihm kleiner. Lag es am wuchtigen Bett? War es einfach nur größer und nahm noch mehr Raum ein?

Der Elf hörte das Atmen des schlafenden Herzogs. Lautlos trat er an dessen Bett. Einige Herzschläge lang stand er still und sah dem Schlafenden zu. Er glaubte, einige der Züge Dolgrims im Antlitz Orgrims wiederzuerkennen, die tiefen Falten an den Mundwinkeln und um die Augen. Selbst im Schlaf lag etwas Grausames in diesem Gesicht.

Mit fließender Bewegung zog Farodin ein Messer und stieß es dem Troll dicht über dem Kehlkopf in den Hals.

Orgrim fuhr hoch, sein Mund klappte auf, doch kein Ton drang über seine Lippen. Nur ein leises Glucksen vom Blut, das ihm in die Luftröhre rann und ihn ersticken würde. Der Stich hatte die Stimmbänder durchtrennt.

Der Troll griff nach seiner Kehle und wand sich in grotesken Verrenkungen. Seine Arme verzerrten sich und wurden dünner. Gleichzeitig stülpte sich sein Kopf aus.

Erschrocken wich Farodin zurück. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Die Kreatur im Bett hatte inzwischen einen Kopf, der an den eines großen schwarzen Hundes erinnerte.

Gleißendes Licht erfüllte den Raum.

»Was für ein treuer Hund«, sagte eine warme, dunkle Stimme auf Elfisch. »Er stirbt für seinen Herrn.«

Farodin fuhr herum. Die Rückwand der Kammer war verschwunden, oder besser gesagt die Illusion der Rückwand. Nun wirkte das Schlafgemach des Herzogs wieder so groß, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Orgrim saß auf einem dunklen Eichenstuhl. Gleich neben ihm kauerte ein altes Trollweib auf einem Schemel. Vor ihr lagen kleine Knöchelchen auf dem Boden verteilt, die sie mit gichtkrummen Fingern zu einem verschlungenen Muster fügte. Vier schwer bewaffnete Trolle flankierten den Thronsessel des Herzogs.

»Wie es scheint, endet in dieser Nacht der Seelenfluch, der auf mir lastet. Du bist ein tapferer Mann, Farodin. Tapfer, aber verrückt, wenn du geglaubt hast, dass du noch einmal unbemerkt in diese Kammer gelangen könntest. Ich werde dein Herz essen, aus Respekt vor deinem Mut, aber gewiss nicht dein Hirn, Elf. Seit drei Tagen warten wir hier jede Nacht auf dich.«

Die einzige Tür zur Turmkammer öffnete sich. Auch dort erwarteten ihn schwer bewaffnete Trolle.

Farodin zog ein Messer und schleuderte es nach dem Herzog. Der duckte sich zur Seite. Die Klinge verfehlte seinen Hals um weniger als einen Fingerbreit und grub sich in das dunkle Holz des Thronsessels. Farodin fluchte. Für einen Troll bewegte sich Orgrim außergewöhnlich schnell.

Die Leibwächter stürmten hinter dem Thron hervor. Farodin ließ sich fallen, rollte sich ab und zog das nächste Messer. Im Vorwärtsrollen durchschnitt er einem Troll die Sehnen an der Verse. Der Hüne knickte zusammen.

Ein Axthieb verfehlte den Elfen nur knapp. Mit einem Satz war er auf den Beinen und hämmerte einem Troll seinen Dolch in den Leib. Er war nun inmitten der Leibwächter, sodass diese sich mit ihren langstieligen Waffen und großen Schilden gegenseitig behinderten.

Farodin wich einem Schildstoß aus, ging wieder in die Hocke und rammte dem Angreifer seinen Dolch in die Kniekehle. Der Hüne stieß einen gellenden Schrei aus und brachte sich mit einem ungelenken Satz aus Farodins Reichweite.

Der Elf sprang auf, zog in der Bewegung einen weiteren Dolch und griff nach der Schildkante des Kriegers vor sich. Mit aller Kraft riss er sich daran hoch wie ein Jahrmarktsakrobat und setzte mit einem Überschlag über den Schild hinweg. Noch im Flug traf den Schildträger ein Dolch ins Auge.

Mit hochgestreckten Armen und in vollkommener Balance landete Farodin hinter dem Troll. Er würde gegen die Übermacht nicht bestehen, aber vielleicht konnte er Orgrim mit in den Tod nehmen!

Farodin zog zwei Messer. Weitere Leibwächter stürmten die Tür der Turmkammer, doch im Augenblick stand nur noch ein einziger Troll zwischen ihm und dem Herzog.

Orgrim war aufgesprungen und stemmte den mächtigen Thronsessel hoch. Der Elf wich einem Knüppelhieb des letzten Leibwächters aus und stieß dem Krieger einen Dolch durch das Handgelenk, woraufhin er seine schwere Waffe fallen ließ.

Mit einem Schrei schleuderte Orgrim den Thronsessel nach Farodin. Der Elf ließ sich zur Seite fallen und schlug mit der Schulter hart auf den Boden. Der schwere Sessel schoss über ihn hinweg und zerbarst an der gegenüberliegenden Wand.

Die Luft in der Kammer war schlagartig abgekühlt. Das alte Weib stieß einen kehligen Schrei aus und hob die dürren Arme. Blitze aus hellem Licht spielten um ihre Hände. Farodin schleuderte seinen Dolch. Die Schamanin stürzte über ihren Schemel. Ihre Hände fuhren zur Kehle. Dunkles Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor.

Orgrim hatte den Augenblick, den Farodin abgelenkt gewesen war, dazu genutzt, einen Knüppel aufzuheben.

Farodin zog sein Schwert und das letzte Wurfmesser. Aus den Augenwinkeln sah er Krieger durch die Tür treten. Einer holte aus, um seine Axt zu werfen. Wie ein Silberblitz schnellte das Wurfmesser aus der Hand des Elfen und traf den Krieger mit der Axt in die Stirn.

Orgrim aber war nun heran und schwang den Knüppel. Der Elf wollte unter dem Schlag hinwegtauchen, als der Herzog im letzten Moment die Richtung des Hiebes änderte. Farodin schaffte es gerade noch, sein Schwert hochzureißen, doch die Wucht des Treffers prellte ihm die Waffe aus der Hand. Sie schlitterte über den Boden zur Tür.

Orgrim brach in schallendes Gelächter aus. »Das warʹs dann, Elflein. Unbewaffnet bist du tot!«

Farodin sprang auf und hämmerte beide Füße unter das Kinn des Hünen. Er konnte hören, wie dem Herzog die Zähne im Kiefer splitterten. Von der Wucht des Trittes taumelte Orgrim nach hinten.

Farodin rollte sich zur Seite ab. Inmitten des Stöhnens und Geschreis ließ ihn ein klirrender Laut herumfahren. Die übrigen Krieger hielten Abstand zu ihm. Die Schamanin war wieder aufgestanden. Vor ihr lag der Dolch. Ganz langsam setzte sie einen Fuß auf die Waffe.

Der Elf blickte auf. Die Wunde in der Kehle des alten Weibes hatte sich geschlossen. Ihre Augen glommen fiebrig.

Farodin senkte den Blick. Doch es war zu spät. Gegen seinen Willen machte er einen Schritt zurück. Sie hatte von ihm Besitz ergriffen.

Krachend schlugen die Fensterläden auf. Eisige Luft strömte in das Turmzimmer.

»Glaubtest du wirklich, du könntest immer wieder den Herzog töten? Und glaubtest du, ich würde das bis ans Ende aller Tage dulden?« Sie schüttelte den Kopf. »Seit Jahrhunderten wusste ich, dass du wiederkommen würdest. Es ist deine Überheblichkeit, die dich das Leben kosten wird, Elf. Der Glaube, du könntest uns ein ums andere Mal besiegen. Nicht einmal Emerelle ist so vermessen wie du.«

Der Wille der Schamanin zwang Farodin, den Kopf zu heben und ihr ins Gesicht zu sehen. Er machte einen weiteren Schritt zurück, dann noch einen …

Farodin versuchte verzweifelt, gegen den Zauber anzukämpfen, der ihm die Bewegungen seines Körpers diktierte. Aber er war hilflos wie ein kleines Kind, das sich trotzig gegen den Griff eines Erwachsenen aufbäumte. Und er spürte ihre Anwesenheit in seinen Gedanken. Sie nahm seine Erinnerungen in sich auf!

Die Schamanin zwang ihn, auf eines der Fenstersimse zu steigen. Klirrende Kälte schlug ihm entgegen. Ein dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Das war gut. Nein! Er durfte nicht … Er versuchte an Noroelle zu denken.

Das alte Trollweib lächelte. »Die gefangenen Elfen sind geflohen. Sie haben auch den Menschensohn mitgenommen.« Sie sah Farodin forschend an. Der Elf versuchte seine Gedanken zu leeren. Er dachte an ein weites, weißes Schneefeld. Doch scheinbar ohne Mühe bemächtigte sich die Schamanin seiner Erinnerungen. »Die Flüchtlinge wollen zu einem Boot, das in der Höhle auf der anderen Seite des Fjords verborgen liegt.«

»Schickt Suchtrupps zum Strand«, befahl Orgrim einer Wache bei der Tür. »Und lasst auch zwei Schiffe klar zum Auslaufen machen.«

»Du bist in guter Gesellschaft, Herzog.« Auf wunderbare Weise übertönte die Stimme der Alten das Toben des Sturms. »Er hat auch schon Fürsten seines eigenen Volkes ermordet. Im Auftrag seiner Königin. Hast du Angst vor dem Tod, Henker?«, fragte sie neugierig.

Plötzlich furchten zwei steile Falten ihre Stirn. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Der Devanthar …«

Farodin spürte, wie ihre Macht über ihn plötzlich nachließ, ja, wie sie sich erschrocken aus seinen Erinnerungen zurückzog.

Sein Körper gehorchte jetzt wieder ganz ihm. Farodin legte die Hände auf das vereiste Sims des Fensters. Erwartete sie, dass er ängstlich einen Satz nach vorn machte? Er war vollkommen im Gleichgewicht. In Sicherheit. Er neigte den Kopf wie ein Höfling. »Ihr gestattet, dass ich meine Gedanken für mich behalte?« Mit diesen Worten stieß er sich rücklings vom Fenstersims ab. Gegen den Herzog hätte er nichts weiter auszurichten vermocht. Es war besser, auf diese Weise zu sterben, als willenlos den Trollen ausgeliefert zu sein.

Farodin stürzte in die Finsternis. Sein Rücken schlug hart gegen einen der Strebepfeiler, die den Turm stützten. Er glitt daran ab und fiel tiefer und tiefer. Halb betäubt versuchte er seinen Sturz zu kontrollieren, seinen Körper anzuspannen, um dann vorzuschnellen und nach einem Sims zu greifen. Doch im Fallen hüllte ihn sein flatternder Umhang ein wie ein Leichentuch. Er behinderte seine Bewegungen. Noch wenige Augenblicke, dann würde er tatsächlich sein Leichentuch sein.

Plötzlich gab es einen Ruck. Etwas griff nach Farodins Kehle, als wollte es ihm den Kopf abreißen. Er bäumte sich auf. Der Sturz hatte abrupt ein Ende gefunden. Seine Hände und Füße tasteten ins Leere. Für einige Herzschläge war er völlig orientierungslos. Dann begriff der Elf, dass er von etwas herabhing, hilflos wie ein Katzenjunges, das von seiner Mutter im Nacken gepackt wurde.

Farodin langte über seinen Kopf. Dort fand er Halt. Seine Finger krallten sich in eisverkrusteten Stein. Ein Wasserspeier! Sein Umhang hatte sich am vorgereckten Kopf des steinernen Ungeheuers verfangen. Zitternd zog Farodin sich hoch und gelangte in die relative Sicherheit eines steinernen Simses, aus dem der Wasserspeier hervorragte. Er löste die Brosche des Umhangs, der ihm das Leben gerettet hatte. Sein Hals war vom Stoff aufgescheuert. Die Nackenmuskeln brannten und waren gezerrt. Er konnte den Kopf kaum noch bewegen. Unversehens wurde ihm bewusst, was für ein Glück er gehabt hatte. Eigentlich hätte der Schlag ihm das Genick brechen müssen!

Farodin versuchte einzuschätzen, auf welcher Höhe des Turms er sich befand, doch im dichten Schneetreiben konnte er nur wenige Schritt weit sehen. Tief war sein Sturz sicherlich nicht gewesen, sonst hätte ihn der Ruck umgebracht. Unschlüssig, was zu tun war, blinzelte er sich den Schnee aus den Augen. Dicht vor ihm verschwand ein Stützbogen in der Finsternis. Das Sims, auf das er sich gerettet hatte, war kein Ort, an dem er lange verweilen konnte. Von hier gab es keinen Weg in den Turm hinein. Er musste klettern, wenn er sich in Sicherheit bringen wollte. Blieb er hier, würden ihn die Trolle auf kurz oder lang finden.

Der böige Wind zerrte an dem Umhang, den Farodin nun in Händen hielt. Er ließ ihn in die Finsternis davonflattern. Beim Klettern würde er ihn nur behindern.

Vorsichtig streckte sich der Elf und ließ sich auf den Stützbogen gleiten. Stück um Stück rutschte er daran hinab. Bald traf der Bogen auf einen breiten Pfeiler, der senkrecht in die Tiefe führte.

Vorsichtig tastete Farodin mit den Füßen in die Finsternis. Der Pfeiler war von steinernen Fratzen gesäumt. Schnee und Eis hatten sich auf ihnen festgesetzt. Unendlich langsam kletterte der Elf hinab. Der raue Stein zerschnitt ihm die Finger. Bald betäubte die Kälte seine Hände. Immer unsicherer wurde sein Griff.

Als er den nächsten Stützbogen erreichte, der sich mit dem Pfeiler vereinigte, verharrte er für einen Moment auf einem Sims. Er konzentrierte sich darauf, ein Wärmepolster unter seinen Kleidern entstehen zu lassen. Es dauerte lange, bis die Magie sich seinem Willen fügte. Das Zaubern fiel ihm nie leicht. Vor allem nicht, wenn er erschöpft war. Als ihm wärmer wurde, drohte der Schlaf ihn zu übermannen. Farodin lehnte sich gegen das Mauerwerk und sah in das Schneetreiben zu seinen Füßen.

Vier oder fünf Schritt tiefer gab es ein Bleiglasfenster, hinter dem das matte Licht eines Barinsteins schimmerte. Farodin überlegte, wie er es bis dorthin schaffen konnte. Aus der Turmwand ragten hier einige steinerne Streben. Sie waren wohl einmal dafür vorgesehen gewesen, Balkone zu tragen, die man dann doch nicht gebaut hatte. Zwei Hand breit und mehr als einen Schritt lang stachen sie aus dem Mauerwerk hervor. Eine dieser Streben befand sich unmittelbar über dem Fenster.

Farodin fasste einen verzweifelten Plan. Jeweils fünf Streben lagen mit einem Abstand von etwas mehr als zwei Schritt nebeneinander. Ein wenig tiefer ragten noch einmal fünf Streben aus der Wand. Sie waren so angeordnet, dass sie genau übereinander lagen. Schlug der erste Versuch fehl, gab es noch Hoffnung, sich festzuhalten … Nein, der erste Versuch musste glücken! Zweifelnd musterte Farodin die schneebedeckten Steine. Um sie überhaupt erreichen zu können, musste er von dem massigen Stützpfeiler zurück zur Mauer des Turms gelangen.

Farodin kletterte auf einen der Stützbogen, die in steilem Winkel hin zur Turmwand führten. Zoll um Zoll kroch er vorwärts, bis er die Mauer erreichte. Dort ging er in die Hocke. Ein gutes Stück unter ihm ragte jetzt eine der Querstreben aus der Wand. Sie lag etwa vier, vielleicht fünf Schritt tiefer. Farodin fluchte. Er würde springen müssen. Und die Wahrscheinlichkeit, auf dem vereisten Stein Halt zu finden, war nicht groß.

Lange starrte er hinab. Er spürte, wie ihm die Kälte in die Glieder kroch. In dem Augenblick, in dem er aufgehört hatte, sich auf den Wärmezauber zu konzentrieren, war er wieder verloschen. Seine Finger wurden taub. Er durfte nicht länger warten!

Farodin landete auf der Strebe, doch seine Sohlen fanden keinen Halt. Halb stürzte er, halb stieß er sich ab, überschlug sich und landete mit gegrätschten Beinen auf der tiefer gelegenen Strebe. Der Schlag in sein Gemächt trieb ihm Tränen in die Augen.

Stöhnend löste er den Gürtel von der Hüfte und schlang ihn einmal um den Stein. Dann zog er das Hemd aus und verknotete einen Ärmel mit dem Gürtel. Wie mit Messern schnitt der eisige Wind in seinen nackten Rücken. Das Bleiglasfenster lag nun schräg unter ihm.

Farodin knüpfte einen dicken Knoten in das Ende des zweiten Ärmels und hoffte inständig, dass die Nähte des Hemdes solide waren. Dann schwang er sich von dem Sims. Mit einem Ruck straffte sich das Hemd. Das Leder des Gürtels knirschte auf dem rauen Stein. Pendelnd nahm der Elf Schwung. Doch der böige Wind brachte ihn immer wieder aus dem Takt. Das Fenster lag nun fast auf einer Höhe mit ihm. Langsam verloren seine steifen Finger den Halt. Noch ein Schwung … Dann ließ er los.

Klirrend zerbarst das Fenster unter seinen Stiefeln. Glas schnitt ihm in die Arme. Er prallte hart auf den Boden und rollte sich ab. Warmes Blut sickerte aus einem Schnitt in seiner Stirn.

Schwer atmend blieb er liegen. Er war davongekommen! Zunächst vermochte er nichts anderes zu tun, als einfach nur die Decke über sich anzustarren. Er lebte! Offenbar hatte bei dem Heulen des Sturms niemand gehört, wie das Fenster zerbrochen war.

Es dauerte einige Zeit, bis Farodin sich des tiefen Dröhnens bewusst wurde, das durch den Turm hallte. Ein Gong schlug. Das Feuer!

Rauchschwaden zogen an dem Barinstein unter der Decke vorbei. Der Qualm wurde schnell dichter. Benommen setzte Farodin sich auf. Seine Augen tränten.

Er riss sich einen Streifen Stoff von der Hose und presste ihn sich auf Mund und Nase. Der Rauch würde ihm die Flucht erleichtern, wenn er ihn nicht umbrachte.

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