Der letzte Weg

Farodin zerrte das Messer aus dem Auge des Trolls. Er wischte die Klinge an dem groben Wollmantel des Toten sauber und schob sie zurück in das Futteral, das er um den linken Unterarm geschnallt trug. Dann packte er den Troll bei den Schultern. Seine Muskeln spannten sich zum Zerreißen, als er den Troll langsam, Zoll um Zoll, zum Rand der Mole zog und ihn in das dunkle Wasser gleiten ließ.

»Mögest du lange darauf warten, wiedergeboren zu werden«, zischte er. Dann lief er ein Stück die Anlegestelle hinauf. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es hier früher ausgesehen hatte. Die Mole war mit einem neuen Pflaster versehen und verlängert worden. Hoffentlich hatte man nicht noch mehr verändert!

Voller Verachtung blickte er zu den riesigen schwarzen Schiffen auf. Ihnen fehlte jede Eleganz! Sie waren einfach nur massig. Der Bug und das Heck sahen aus, als hätte man eigentlich Belagerungstürme bauen wollen und kein Schiff. Drohend erhoben sie sich über das Wasser. Welchen Feind wollten die Trolle mit diesen Schiffen wohl bekämpfen?

Hoch über ihm auf der Nachtzinne erklang hundertstimmiges Gelächter. Ob Mandred durchgehalten hatte? Oder war der Menschensohn längst tot?

Sein Plan war einfach nicht durchdacht gewesen. Zu glauben, dass sich hier in all den Jahrhunderten nichts verändert hätte! Farodin hatte schon drei verborgene Pforten zu dem Labyrinth von Geheimgängen, die den Felsen und den Turm durchzogen, vermauert vorgefunden. Und es war altes Mauerwerk. Selbst die Trolle hatten begriffen, von wo er gekommen war, als er einst ihren Heerführer ermordete. Und nun war auch noch die Mole erneuert!

Ohne große Hoffnung stieg er eine Treppe zum Wasser hinab. Er nahm den Umhang ab, rollte ihn und band ihn sich wie eine Schärpe um die Hüften. So würde er ihn weniger behindern. Darauf bedacht, kein verräterisches Geräusch zu machen, ließ er sich langsam in die eisige Umarmung des Wassers gleiten. Er musste sich ganz darauf konzentrieren, dass sich seine Kleider nicht voller Wasser sogen und ihn in die Tiefe zerrten.

Ihm blieb wenig Zeit für seine Suche. Nicht lange, und die Kälte würde ihn allem Zauber zum Trotz lähmen, dachte Farodin verzweifelt. Er tastete sich ein Stück weit die Mauer entlang und tauchte dann unter. Schon nach wenigen Schwimmstößen fand er, wonach er gesucht hatte. Eine dunkle Öffnung in der Mole. Diesen Eingang hatten die Trolle offensichtlich vergessen. Vielleicht hatten sie auch nie um ihn gewusst.

Ein gefluteter Tunnel führte vom Hafen zu einer Grotte, die tief unter dem Turm lag. Von dort gab es mehrere Wege, die hinauf zum verborgenen Labyrinth in den Mauern des Turms führten. Es hieß, die Nachtzinne sei einst von Kobolden erbaut worden, die von den Trollen in Sklaverei verschleppt worden waren. So wie auf Emerelles Burg hatten sie auch hier hunderte Geheimgänge angelegt, in denen sie sich außer Sicht ihrer Herren bewegen konnten. Diese Tunnel waren gerade hoch genug, dass Farodin geduckt in ihnen gehen konnte; ein Troll aber würde niemals hierher gelangen. Es war das vollkommene Versteck!

Der Elf war völlig durchgefroren, als er die weiße Grotte erreichte. Er wusste nicht, wie die Kobolde diesen Platz einst genannt haben mochten. Er hatte ihn damals in den langen Stunden des Wartens so getauft. Decke und Wände der Grotte waren von schneeweißen Kalkablagerungen überzogen. Lange Stalaktiten reichten von der Decke hinab. An einigen Stellen waren Barinsteine in die Felsen eingelassen und verbreiteten auch Jahrhunderte, nachdem die heimlichen Bauherren gestorben waren, ein warmes, gelbes Licht.

Farodin streifte seine Kleider ab und trocknete sie mit Hilfe des Zaubers, mit dem er sich sonst gegen die Kälte schützte.

Der breite Gürtel und die ledernen Armschienen, in denen seine Wurfmesser steckten, waren gut eingefettet. Das Wasser hatte ihnen nichts anhaben können.

Die Jahrhunderte der Erfahrung hatten Farodin gelehrt, dass schwere Wurfmesser für ihn die beste Waffe im Kampf gegen Trolle waren. Ihre Leiber waren so massig, dass es eine Kunst war, ihnen tödliche Verletzungen beizubringen. Farodin hatte schon Trolle gesehen, die mit Pfeilen gespickt gewesen waren und dennoch weitergekämpft hatten. Ein Wurfmesser, das sie ins Auge traf, das war sein bevorzugter Weg, sie schnell und lautlos zu töten.

Wenn er in all den Jahrhunderten seiner Fehde etwas gelernt hatte, dann war es die Regel, dass man sich keinem Troll im Nahkampf stellen sollte. Ein einziger Treffer mit ihren schweren Keulen oder Äxten mochte reichen, einen Elfen zu zerschmettern, wohingegen ein Schwerthieb gegen die Bestien meist nur geringe Wirkung zeigte. Auch war es unmöglich, ihre Hiebe zu parieren. Die Wucht ihrer Schläge brach jeden Arm, der sich ihnen entgegenstemmte. Man konnte ihnen nur ausweichen oder ihnen am besten erst gar nicht nahe kommen.

Wenn man sie mit einem Streich töten wollte, musste man ihre Kehle treffen. Doch schon allein wegen ihre Größe war es schwer, solche Hiebe zu setzen. Die einzige Wahl war ein schräg nach oben geführter Stich zwischen den Rippen hindurch ins Herz. Dies mochte gelingen, wenn man ihre Deckung erst einmal unterlaufen hatte, doch so nah sollte man einem Troll niemals kommen, wenn einem das Leben lieb war.

Farodin hockte sich auf den kalten Boden und spreizte die Arme leicht ab. Er leerte seine Gedanken und versuchte sich ganz auf die geheimen Koboldpfade zu konzentrieren. Fast jede Kammer in der Nachtzinne konnte man auf diesen Wegen erreichen. Wo würde Mandred sein? Und gab es die Pfade noch? Oder hatten die Trolle sie aufgespürt und die verborgenen Pforten vermauert, so wie sie es draußen am Fuß der Steilklippe getan hatten?

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