Zwei Schwerter und Erinnerungen

Nuramon war in der Kammer der Gaomee. Die Königin hatte ihm diese ein letztes Mal zur Verfügung gestellt. Und es hatte ihn zutiefst überrascht, ein Abbild seiner selbst an der Wand zu finden. Zwar hatte man jedem, der in dieser Kammer die Nacht vor der Elfenjagd verbracht hatte, eine Szene in dem umlaufenden Fries gewidmet, doch Nuramon war nicht darauf vorbereitet gewesen, sein eigenes Antlitz an der Wand zu erblicken. Was ihn vor allem wunderte, war die Art und Weise, wie er abgebildet war: Er stand da, hielt seine beiden Schwerter in Händen und drohte einem Schatten, der einen goldenen Edelstein umhüllte; dies war der Devanthar mit seinem Albenstein. Entweder war dieses Gemälde irgendwann nach der Seeschlacht entstanden, oder der Blick der Königin hatte weit in die Zukunft gereicht.

Nuramon musterte die Gesichtszüge seines Abbilds. Es waren die eines mutigen Elfen, der jeder Gefahr gewachsen schien, dabei aber nicht grimmig wirkte. Dieser Elf wäre gewiss ein guter Anführer. Die Frage war nur, ob Nuramon morgen diesem Abbild gerecht werden konnte. Der heutige Tag ließ nicht so recht darauf schließen. Er war anstrengend gewesen, besonders weil sein Gedächtnis immer noch verworren war.

Er hatte viel Verantwortung an Nomja übertragen. Und dabei hatte er die Bogenschützin noch nicht einmal gesehen, sondern sich nur über Boten mit ihr ausgetauscht. Sie befand sich im Heerlager an der rechten Flanke, gut fünf Wegstunden von Emerelles Burg entfernt. Sie und Wengalf hatten über die Aufstellung der Krieger gesprochen, und Nuramon hatte alles in ihre Hände gelegt.

Statt zu befehligen, hatte er hier in der Kammer gesessen und nachgedacht. Seine Sippe hatte ihn besucht, um ihn auszustatten; auf seinen Wunsch hin hatten sie ihm eine Plattenrüstung überlassen, die der Drachenrüstung der Gaomee nachempfunden war. Bald darauf hatte er sie verabschiedet, wohl auch deshalb, weil niemand mehr da war, den er von früher kannte. Der alte Elemon war längst ins Mondlicht gegangen, und selbst die Jüngeren wie Diama waren lange fort. Unter ihren Nachkommen war Nuramon zur Legende geworden. Welch eine Enttäuschung würden sie morgen erleben, wenn der große Nuramon, der mit seinen Gefährten einen Devanthar besiegt hatte, wie ein ganz gewöhnlicher Elf in die Schlacht reiten und nichts ihn über andere erheben würde!

Er musste lachen. Damals, als er zum ersten Mal in dieser Kammer gewesen war, hatte ihn die Abneigung seiner Sippe gequält. Und nun war es ihm unangenehm, dass sie ihm mit Ehrfurcht und Anerkennung begegneten? Das konnte doch nicht wahr sein! Seine Erinnerung sagte ihm, dass ihm Anerkennung keineswegs fremd war. Er hatte sie schon früher erfahren, besonders bei den Zwergen. Aber das war in einem anderen Leben gewesen …

Ganz allmählich ordneten sich seine Erinnerungen; nicht mehr lange, und er würde die Steinchen des Mosaiks zusammensetzen können. Im Augenblick gab es einfach zu viel, das es zu verstehen galt. So entsann er sich daran, einst eine Elfe namens Ulema geliebt zu haben. Aus dieser Liebe war ein Kind hervorgegangen, das sie Weldaron genannt hatten. Dies war der Name seines Sippenbegründers. Sollte er, Nuramon, gar der Vater von Weldaron sein? Das konnte er nicht glauben.

Auch verwirrten ihn all die Gefühle, die er einst für Emerelle gehegt hatte, die diese aber nie hatte erwidern können. Gewiss, viele Elfen sahen Emerelle und träumten insgeheim von ihrer Liebe. Es gab keine Frau, über die es mehr Liebesgedichte und Minnelieder gab, als die Elfenkönigin …

Das Geräusch von Schritten vor der Tür rief in ihm die Erinnerung an die Nacht vor dem Auszug der Elfenjagd wach. Nuramon wandte sich um; er ahnte, wer da zu ihm kam. Und als sich die Tür öffnete und er Emerelle erblickte, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die Königin war zu ihm gekommen, wie in jener Nacht, in der für ihn alles begonnen hatte. Wie damals trug sie das graue Gewand einer Zauberin, und ihr dunkelblondes Haar wellte sich sanft über ihre Schultern. Er blickte in ihre hellbraunen Augen und fand auch dort den Glanz jener längst vergangenen Nacht.

Sie schloss die Tür hinter sich und lächelte ihm entgegen, als wartete sie auf eine Regung seinerseits.

»Emerelle«, sagte er und blickte sie lange an. »Es ist kein Zufall, dass du zu mir kommst, oder?«

»Nein. Nichts, was wir sagen oder tun, ist Zufall. Hier schließt sich der Kreis, Nuramon, Vater des Weldaron und Sohn der Valimee und des Deramon.«

Als die Königin die Namen seiner ersten Eltern nannte, kehrte die Erinnerung an sie zurück. Sein Vater war ein Krieger gewesen, seine Mutter eine Zauberin. Sie waren früh ins Mondlicht gegangen, doch sie hatten ihn geliebt, wie nur die ersten Albenkinder ihre Söhne und Töchter geliebt hatten. »So alt bin ich?«, fragte er.

Die Königin nickte. »Ich wusste seit langem, dass dir eines Tages ein bedeutendes Schicksal zukommen würde. Du warst damals einer meiner Kampfgefährten. Wir haben uns in Ischemon kennen gelernt, im Kampf gegen die Sonnendrachen. Damals gab es noch keine Königin. Ich war noch auf der Suche nach meiner Bestimmung, und wir gingen gemeinsam zum Orakel Telmareen. Was sie sagte, das weißt du.«

Nuramon erinnerte sich an alles, wovon die Königin sprach. Ihre Worte waren wie Zauberformeln, die ihm Vers um Vers das Gedächtnis ordneten und all die Empfindungen von einst zurückbrachten. Selbst die Lichtgestalt des Orakels hatte er plötzlich wieder vor Augen, und ihre Stimme hallte nach so langer Zeit noch in seinen Ohren: _Wähle dir deine Verwandtschaft! Kümmere dich nicht um dein Ansehen! Denn alles, was du bist, das ist in dir_.

Die Königin trat nun direkt vor ihn, ihr Blick wanderte zwischen seinen Augen hin und her. »In jenen Tagen gab es nur wenige Regeln. Wir mussten sie uns selbst schaffen, und deswegen hast du dich in all deinen Leben immer schwer damit getan, nach den Regeln der anderen zu leben. Erinnerst du dich, was ich dir sagte, bevor du deinen letzten Atemzug getan hast?«

Damals war er durch das brennende Licht eines Sonnendrachen verwundet worden. Nun entsann er sich der Worte Emerelles und sprach sie aus: »_Beim Orakel sah ich dich und das mächtige Kind_. Yulivee! Du hast damals schon Yulivee gesehen?«

»Ja. Ich wusste seither, dass du sie eines Tages zu mir führen würdest. Doch ich wusste nicht, wann. Und so übte ich mich in Geduld. Ich musste so lange warten und Dinge sagen und tun, die nicht von Herzen kamen. Doch alles, was ich in jener Nacht vor der Elfenjagd sagte, ist die Wahrheit. Allerdings musste ich dir einige Dinge verschweigen, so wie die Orakel es zu tun pflegten. Nun aber sollst du sie erfahren, so du sie nicht schon weißt. Komm!« Sie fasste seine Hand und führte ihn zu der Steinbank. Dort setzten sie sich nieder. »Ich kann nicht nachfühlen, was du nun empfindest, denn ich bin nie gestorben. Meine Erinnerungen sind die eines einzigen langen Lebens. Doch ich weiß, dass es nicht leicht ist, mit all den Erfahrungen zurechtzukommen. Du musst wachsen, um es zu begreifen. Und das ist eine deiner Stärken.« Sie ließ seine Hand los und deutete hinauf zur Decke, zum Abbild der Gaomee. »Ich habe dir damals mit Bedacht die Kammer der großen Gaomee zugeteilt. Mir war bewusst, dass dir eine lange Reise bevorsteht. Es war der richtige Zeitpunkt, dir ihr Schwert zu geben. Doch ich sagte dir nicht, was es mit dieser Waffe auf sich hat.« Emerelle erhob sich, schritt hinüber zu Nuramons Bett und holte seine beiden Schwerter. Dann kehrte sie an seine Seite zurück und zog das Kurzschwert der Gaomee. »Die Zwerge haben dir gewiss etwas über die Waffe gesagt.«

»Sie sagten mir, sie sei von einem Zwerg namens Teludem für einen Elfen geschmiedet worden.« Nuramon bekam einen Verdacht und fragte: »War diese Waffe etwa einst ein Geschenk an mich?«

»Nein, die Zwerge schenkten sie mir. Sie sagten, sie würden in die Andere Welt gehen, um sich dort ein Reich zu suchen, in dem Wengalf König bleiben konnte. Es war eine Zeit, in der ich niemanden neben mir dulden durfte, damit das geschehen konnte, was nun sein wird. Wir trennten uns im Zorn. Doch Wengalf ist kein Narr. Er schenkte mir die Waffe und sagte, dass ich sie ihm schicken solle, wenn ich bereit sei, ihn als König zu respektieren.«

»Davon haben mir die Zwerge nie etwas gesagt«, erwiderte Nuramon.

»Ich gab die Waffe Gaomee, weil sie aus dem Geschlecht stammte, dem es bestimmt war, den Zwergen nahe zu kommen.« Die Königin schien auf eine Regung seinerseits zu warten.

Plötzlich wurde Nuramon klar, was sie meinte. »Gaomee stammt aus meiner Sippe?«

»Sie stammt nicht nur aus deiner Sippe. Sie war deine Tochter.«

Diese Kunde traf Nuramon wie ein Schlag. Gaomee war seine Tochter! »Ich erinnere mich nicht an sie.«

»Du warst längst gestorben, als Diyomee sie gebar.«

»Diyomee!«, sprach Nuramon vor sich hin. Es war eine unglückliche Liebe gewesen. Ihr Vater hatte ihn gehasst, und Nuramons Nebenbuhler hatte ihn in einem Duell erschlagen.

»Die Familie verstieß Diyomee. So entschloss ich mich, sie bei mir aufzunehmen. Sie gebar das Kind, gab ihr den Namen Gaomee und ging ins Mondlicht. Ich habe mich des Neugeborenen angenommen. Und als ich sie zur Elfenjagd berief, da spürte ich, dass es richtig war, Gaomee das Kurzschwert anzuvertrauen. Ich erzählte ihr alles über ihren Vater, und sie bewunderte dich für deine Taten in Ischemon. Nur so konnte sie den Drachen Duanoc besiegen.«

»Ich wurde doch wiedergeboren. Wieso kam sie nicht zu mir?«

»Sie wagte es nicht. Sie fürchtete sich davor, dass du sie zurückweisen könntest. Doch bevor sie ihre Liebe fand und ins Mondlicht ging, vertraute sie mir das Schwert an und sagte, ich solle es für dich aufbewahren und es dir geben, wenn die Zeit reif wäre. Und das habe ich getan.« Sie steckte Gaomees Waffe fort. »Du hast das Schwert zu den Zwergen gebracht, und so wussten sie bald, welches Ende dieses Zeitalter nehmen würde. Sie erfuhren von Dareen, wann sie in ihre alten Hallen zurückzukehren hätten.« Emerelle zog nun das Langschwert, Nuramons alte Waffe. »Thorwis und Wengalf waren weise. Sie gaben dir dein altes Schwert, und als ich es bei dir sah, wusste ich, dass du bei den Zwergen gewesen warst. So wurdest du zum Boten des Schicksals. Du sagtest mir mit dieser Waffe, dass die Zwerge kommen würden. Und du hast mich daran erinnert, woher diese Waffe stammt.«

»Das weißt du?«, fragte Nuramon überrascht.

»Erinnerst du dich etwa nicht?«

Nuramon überlegte. Das Schwert hatte ihn durch manches Leben begleitet. Seine Kampfgefährten hatten es zu seiner Sippe gebracht, wo es auf ihn gewartet hatte. Doch wo kam es her?

»Zerbrich dir nicht den Kopf«, meinte Emerelle und steckte das Schwert zurück in die Scheide. »Es ist ein Geschenk von mir gewesen. Jedem meiner Kampfgefährten schenkte ich einst eine Waffe.«

Nuramon konnte sich nicht erinnern, und das ärgerte ihn.

Die Königin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Deine Erinnerung wird wiederkehren. Du wirst deine Zeit brauchen, um alles zu entdecken. Es ist eine ganz besondere Reise. Sie ist von einer anderen Art als jene, die du bisher erlebt hast. Halte es wie die Zwerge. Nimm meine Worte so lange in dein Gedächtnis auf, bis du dich selbst erinnerst.«

Nuramon starrte auf die Waffe, die neben der Königin lag. »Dann ist die Magie in diesem Schwert deine Magie.«

Emerelle lachte. »Ich war damals eine andere, so wie Yulivee früher eine andere war. Selbst der Devanthar wird den Zauber deines Schwertes nicht erkannt haben.«

Nuramon blickte zu Boden. Was die Königin ihm offenbarte, stieß tausend Pforten auf, und er wusste nicht, in welche Welt er zuerst eintreten sollte. Emerelle hatte Recht: Es war eine Reise. Sie führte ihn durch vergessene Gefilde. »Wie soll es nun weitergehen?«, fragte er. »Ich fühle mich verloren, so als hätte ich mich auf meinem langen Weg verirrt.«

»Dabei sollten dir meine Worte Halt geben«, entgegnete sie. »Sie sollten dir zeigen, dass du mehr bist, als du glaubst, und dass du so viel mehr sein kannst, als du es dir je erträumt hast.«

Die Königin sprach, als drohte ihm keine Gefahr, als wäre sein Weg fortan ohne jedes Hindernis. »Werde ich morgen sterben?«, fragte Nuramon und merkte, wie Emerelle überrascht die Augenbrauen hob.

»Nuramon, du weißt, dass ich dir das nicht sagen würde, selbst wenn ich es wüsste. Der Ausgang einer Schlacht ist auch für mich nicht zu überschauen. Zu oft ändert sich dabei das Schicksal. Zu viele Schwerter, zu viele Pfeile und zu viele Bewegungen machen es mir unmöglich, das Ende von allem zu sehen. Ich kann nicht einmal erkennen, ob wir Albenmark retten werden. Ich weiß nur, was sein sollte. Und das muss ich verschweigen, weil es sonst nicht eintreten kann. Ich weiß, was dich bewegt. Du fürchtest, du und Farodin, ihr könntet beide sterben.«

»Ja. Noroelle wäre dann verloren, und ich würde in ein neues Leben hineingeboren, in dem ich mich an Noroelles bitteres Schicksal erinnern würde, ohne jemals etwas für sie tun zu können. Warum vermagst du dein Urteil nicht aufzuheben? Warum muss der Zauber, der Albenmark von der Anderen Welt trennt, direkt nach dem ersten Zauber gesprochen werden?«

»Weil ich meinen Tod sah, wenn wir nur das Land jenseits der Shalyn Falah abtrennen.« Emerelles Blick reichte ins Leere. »Ein Pfeil trifft mich, und dann kann der Zauber nimmermehr gesprochen werden. Die Tjuredpriester aber werden andere Tore nach Albenmark öffnen, wenn wir unsere Welt nicht von der ihren trennen.« Sie blinzelte und sah Nuramon wieder an. »Noroelle muss dort bleiben, wo sie ist, damit ich leben kann.

Doch glaube nicht, dass ich aus Selbstsucht handle. Mir geht es nur um Albenmark. Auch die Königin kennt Mitgefühl und leidet, wenn sie Dinge sagen und tun muss, die den Wünschen ihres Herzens widersprechen.« Emerelle legte ihm die Hand auf die Schulter. »Und mein Herz sagt mir, dass es für Noroelle Hoffnung geben muss. Deswegen gebe ich dir ein Versprechen.« Ihre Augen glänzten. »Wenn Farodin und du sterben solltet, dann werde ich Yulivee meinen Thron anvertrauen und an eurer statt Albenmark den Rücken kehren.«

Nuramon hätte alles erwartet, aber nicht dies. »Das würdest du tun?«, fragte er.

Die Königin nickte. »Ja, denn so sehr ich all die Jahrhunderte dem Schicksal ergeben war, so unerträglich wäre es, in einem blühenden Zeitalter zu leben und dich und Farodin als Wiedergeborene zu sehen. Auch Obilees Trauer könnte ich nicht länger ertragen. Es wäre eine Schuld, mit der ich nicht leben könnte. Du siehst, für Noroelle bleibt Hoffnung, wenn wir nur den morgigen Tag gewinnen.«

Nuramon fasste die Hand der Königin und küsste sie. »Ich danke dir, Emerelle. Das nimmt mir die Angst vor der Schlacht.« Er schaute auf die beiden Schwerter. »Ich möchte dir Gaomees Schwert geben, denn du hast Recht: Hier schließt sich der Kreis.«

»Nein. Nicht für das Schwert. Du musst die Waffe behalten. Sie hat ihren Zweck für Albenmark erfüllt, doch für dich ist sie ein Zeichen deines Weges. Und dieser ist noch nicht an seinem Ende angelangt.« Sie küsste ihn zum Abschied auf die Stirn und erhob sich. »Überlebe die Schlacht und finde Noroelle! Danach kannst du die Waffe erleichtert aus den Händen geben.« Mit diesen Worten verließ die Königin das Zimmer.

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