Die Offenbarung

Nuramon hatte sich nur notdürftig um Mandreds und Liodreds Wunden kümmern können, als die Königin mit Obilee und etwa fünfzig Kriegern auf ihre Galeere zurückkehrte. Die neue Leibwache sicherte das Schiff, während sich die Kampfgefährten achtern um die Königin scharten. Yulivee und eine andere junge Elfe brachten Emerelles Wasserschale aus ihrer Kajüte.

Obilee flüsterte Nuramon zu, dass die Königin gegen ihren Rat zurückgekehrt war, noch ehe sich die Kunde vom Tod des Priesters verbreitet hatte. Nuramon wunderte es nicht, dass Emerelle schneller als alle anderen davon erfahren hatte. Ihr Blick reichte weit, selbst ohne den Wasserspiegel.

Mandred und Liodred blickten neugierig in das Wasser des Spiegels. Ein vages Bild erschien, das unter der Oberfläche zu schwimmen schien. Yulivee musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas sehen zu können. Obilee schien die Macht des Spiegels bereits zu kennen. Sie stand ruhig da und schien mehr Blicke für die Anwesenden zu haben als für das, was im Wasser Kontur annahm. Nomja hingegen machte große Augen. Es war für sie gewiss das erste Mal, dass ihr die Ehre gewährt wurde, in den Spiegel der Königin zu blicken. Nuramon erging es ebenso.

Durch das Wasser vermochte die Königin an jeden Ort des Schlachtfelds zu blicken. Auf dieser Seite der Barriere aus Langschiffen hatten sich die Kämpfe beruhigt. Kurz zeigte der Spiegel das Bild Pelverics, der neben dem Leichnam Dijelons kniete. Nuramon hatte keine guten Erinnerungen an Dijelon. Er war es gewesen, den die Königin ausgesandt hatte, um Guillaume den Armen Noroelles zu entreißen und ihn zu töten. Nuramon berührte der Tod des Kriegers wenig.

Emerelle fuhr mit den Fingerspitzen durchs Wasser. Das Bild verschwamm und fügte sich zu einem neuen. Da war Ollowain! In der Mitte der Barriere aus Schiffen kämpfte er verbissen um den Zugang zu einer feindlichen Kogge. Viele Fjordländer hatten sich erneut in die Schlacht geworfen und standen ihm zur Seite. Es war gut, dass die Menschen am Kampf teilnahmen, denn in vielen Elfenmienen stand die Angst. Was auf der _Elfenglanz_ geschehen war, hatte sich herumgesprochen. Zwar hatte die Königin die Kunde verbreiten lassen, dass sie noch lebe und der Priester tot sei, doch es war zu befürchten, dass es weitere Priester mit derselben Macht unter den Feinden gab.

Unter den tastenden Fingern der Königin zerrann das Spiegelbild, und eine neue Szene zeigte sich. Es war ein großes Schiff, das in hellen Flammen stand. Trolle sprangen über die Reling und versuchten sich zu retten, doch selbst auf dem Wasser war Feuer. So grausam war das Bild, dass Emerelle Yulivee beiseite nahm, damit sie den Schrecken nicht mit ansehen konnte.

Nuramon blickte auf und sah am Horizont zwei Feuersäulen. Ihm wurde übel. Was für eine Waffe war das? Waren die Tjuredpriester dabei, die ganze Flotte der Trolle zu verbrennen? Eine dritte Flammensäule griff in den Himmel. Hoffentlich war Farodin auf keinem dieser Schiffe! In diesem Inferno halfen weder Mut noch Geschicklichkeit, um dem Tod zu entrinnen.

Das Bild im Spiegel verging, und ein neues entstand. Nun sah man das Flaggschiff des Trollkönigs. Zu erkennen war es am Banner, zwei weiße Kriegshämmer, die sich auf schwarzem Grund kreuzten. Das Schiff hielt geradewegs auf einen Dreimaster der feindlichen Flotte zu.

»Sie werden dem Angriff der Trolle nicht widerstehen«, sagte Emerelle mit fester Stimme.

Nuramon blickte zu den Flammen am Horizont. Der Sieg war ihm schon so nah erschienen!

Wieder und wieder fuhr die Königin mit der Hand durch das Wasser, und mit jedem Mal zeigte sich ein neuer Ort im Spiegel. Die Schlacht war noch längst nicht gewonnen. Die Trolle hatten zwar das Blatt gewendet, und den Feinden war der Rückweg abgeschnitten. Doch einer jener mächtigen Zauberpriester des Tjured reichte aus, um den Kämpfen eine neue Wendung zu geben.

»Lasst uns sehen, wer der Anführer der Feinde ist«, sagte die Königin und schaute nach Westen. »Welches Schiff ist es wohl?« Ein wahrer Wald von Masten drängte sich im Fjord. Auf den meisten Priesterschiffen hatte man die Segel eingeholt, da sie in einem Gefecht, in dem es nicht mehr galt, seinen Gegner auszumanövrieren, nur noch störten.

Mandred deutete auf eines der wenigen Schiffe, bei dem man die Segel nicht eingeholt hatte. »Der Dreimaster da!«

Die Königin berührte das Wasser, und ein neues Bild fügte sich zusammen. Es zeigte die Brücke eines Schiffes. Dort stand ein Priester.

Erschrocken zuckte die Hand der Königin zurück. »Besitzt er die gleiche Macht?«, fragte Obilee.

»Nein! Eine viel schlimmere …« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Bei allen Alben! Du bist also zurückgekehrt.«

»Wer ist das?«, fragte Yulivee.

Bevor Emerelle antworten konnte, sprach Mandred: »Diese blauen Augen kenne ich!«

Auch Nuramon kamen die Augen bekannt vor. Der Mann war groß und kräftig, hatte langes blondes Haar und war in ein nachtblaues Gewand gekleidet, wie es die Tjuredpriester schon zu Guillaumes Tagen zu tragen pflegten.

»Das ist der Devanthar«, hauchte die Königin.

»Bei Luth!«, knurrte Mandred und packte seine Axt fester.

In Obilees Gesicht stand Hass geschrieben, in Nomjas Angst. Die Einzige, die offensichtlich nicht wusste, was die Worte der Königin bedeuteten, war Yulivee. Sie schaute in die Runde.

In diesem Augenblick begriff Nuramon, warum sich der Tjuredglaube über die Jahrhunderte so sehr verändert hatte. Wie aus einer Religion, die Liebe predigte und deren Priester Heiler waren, ein Glaube werden konnte, dessen Ordensritter Reich um Reich unterworfen hatten und alles Fremde mit unbändigem Hass verfolgten. Jetzt hatte diese Kirche ihr wahres Gesicht gezeigt!

Mit einem Mal trat ein Mann an die Seite des Devanthars: ein Priester mit goldener Maske, die ein bekanntes Gesicht zeigte.

»Da!«, rief Mandred.

Obilee zuckte zusammen. »Nein … Das ist Noroelles Gesicht!«

»Guillaume!«, sagte Nuramon vor sich hin.

»Das also ist der Gegner!«, sprach Emerelle. »Jetzt fügt sich alles zusammen! Die Krieger in Aniscans, die Lügen über Guillaumes Tod, die Macht der Priester. All das steht in diesen blauen Augen des Devanthars geschrieben, wie eine Rune der Alben.« Plötzlich beugte sich Emerelle vor, als wollte sie irgendetwas genauer betrachten. Nuramon merkte, dass ihre Hände zitterten. »Seht ihr! In seiner Hand! Ein Albenstein! Beim Glanz der Alben! Er bereitet etwas Großes vor.«

Nuramon starrte auf den Stein. Es war nicht der Feueropal der Dschinnenkrone, sondern ein durchscheinender goldener Edelstein, in dem fünf Adern verliefen: ein faustgroßer Chrysoberyll.

Nun ergab alles einen Sinn. Der Devanthar war das Haupt der Tjuredpriester. Nuramon dachte an all die neuen Pfade, die Fargon durchzogen und die ihr Zentrum in der Hauptstadt des Königreichs hatten, in Algaunis. Der Dämon missbrauchte die Menschen, um an den Albenkindern Rache für die Vernichtung der Devanthare zu nehmen. Und die Menschen in Fargon und all den anderen unterjochten Königreichen glaubten gewiss, ihrem Gott Tjured zu dienen.

Die Königin schlug ihren Mantel zurück und löste einen Beutel von ihrer Hüfte. Daraus holte sie einen grauen Stein.

Nuramon erschauerte vor Ehrfurcht. Zum ersten Mal sah er den Albenstein der Königin, jenes Artefakt, dessen Macht ihm seinen innigsten Wunsch erfüllen konnte. Reilif hatte Recht gehabt. Die Furchen auf Emerelles Stein verliefen übereinander. Er war rau, und in ihm wohnte eine rote Glut. Nuramon vermochte seine Macht nicht zu spüren. Die Magie der Königin überstrahlte sie, und seine Sinne reichten nicht aus, um die Kraft der Königin von der des Steins zu unterscheiden.

Emerelle wandte sich an Yulivee. »Du musst nun genau aufpassen, was ich tue, mein Kind! Sieh und lerne!«

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