Vor der Pforte des Orakels

Gemächlich schritt Nuramon auf einem Albenpfad vor seinem Hengst Felbion her. Er konnte spüren, wie die Macht des Pfades von einem Albenstern angezogen wurde. Hoffnung erfüllte ihn, nun endlich das Orakel Dareen zu erreichen. Wieder und wieder war er falschen Fährten gefolgt. Die Menschen von Angnos vermochten Zauber von Trugbild nicht zu unterscheiden, und das, was sie Orakel nannten, war nichts weiter als ein Schwindel. Er hatte dort nichts erfahren, was er sich nicht auch selbst hätte sagen können. Seit diesen enttäuschenden Erfahrungen suchte Nuramon nach einem alten Orakel, das längst schwieg oder das keinem mehr Zugang gewährte.

Der Weg von Iskendria nach Angnos und die Reise durch das Königreich waren mühsam gewesen. Er hatte Städte und Dörfer umgangen und sich nur einzelnen Reisenden und Einsiedlern gezeigt. Für einen Elfen hielt ihn niemand. Er trug eine Kapuze, die seine Ohren und Teile seines Gesichts verdeckte. Seine Stimme war noch immer die eines Elfen, aber wer von den Menschen hatte je einen Elfen sprechen hören? Sie hielten ihn gewiss für einen geheimnisvollen Reisenden aus einem fernen Land, was in gewisser Hinsicht ja der Wahrheit entsprach.

Während seiner Reisen hatte er sich den Verlauf der Albenpfade eingeprägt und kannte in Angnos bald so viele, dass er das Wagnis eingegangen war, von einem Albenstern zum anderen zu springen, ohne die Welt zu wechseln. Er war erstaunt, wie leicht es ihm fiel. Der Zauber war der gleiche, nur musste man einen Pfad auswählen, der diese Welt nicht verließ. Und dennoch war ihm kein Erfolg beschieden gewesen.

Seit kurzem nun durchreiste er ein Gebiet, dessen Pfade ihm neu waren. Seit Tagen hatte er keinen Menschen mehr gesehen, wohl aber Zeichen von Albenkindern. Diese bestanden in Veränderungen, die nur Elfenhände hätten vornehmen können. Das Wachstum der Pflanzen an manchen Orten erinnerte ihn an Albenmark, und auch die ungewöhnliche Fruchtbarkeit in diesem Landstrich ließ ihn vermuten, dass sich irgendwo eine magische Quelle befand, die der Noroelles ähnlich war. All diese Zeichen verbanden sich mit der lichten und rauen Natur, die auf ihrem steinigen Grund sonst nur wenig Grün hervorbrachte.

Als er an die Wüste dachte, fragte er sich, ob er dieser Welt nicht insgeheim Unrecht tat. Dieses Meer aus Sand hatte ihm gezeigt, dass es auch in der Menschenwelt Landschaften gab, die von großer Schönheit waren.

Der Albenpfad, dessen Macht er nun unter seinen Füßen spürte, führte langsam ansteigend direkt auf einen Berg zu. Er wies jedoch nicht auf die Bergspitze, und so mochte es sein, dass er geradewegs durch den Fels hindurchführte.

Als Nuramon den Aufstieg hinter sich gebracht hatte und direkt vor der Felswand stand, in welcher der Albenpfad verschwand, fragte er sich, ob das Orakel, nach dem er suchte, sich nicht im Innern des Berges befinden könnte. Er verließ den Pfad und machte sich daran, an Felbions Seite den Berg zu umrunden. Dabei hielt er Ausschau nach einer Höhle oder einem verborgenen Gang, der in den Fels hineinführte. Er kreuzte zwei weitere Albenpfade, die beide ebenfalls im Berg verschwanden. Als er auf den vierten Pfad stieß, auf dem er den bekannten Kraftfluss spüren konnte, zweifelte er nicht länger daran, dass sich die Pfade irgendwo im Fels zu einem Albenstern kreuzten.

Auf halbem Weg um den Berg herum traf Nuramon auf einen Albenpfad, der vom Fels fortführte. Das musste jener sein, der ihn hier heraufgeführt hatte, um den Albenstern zu kreuzen, und nun wieder seinen Lauf durch die Welt nahm. Er verfolgte den Pfad bis dicht an den Berg zurück, war aber enttäuscht, als er statt eines Höhleneingangs eine massive Felswand vorfand.

Angestrengt musterte Nuramon den Fels. Da funkelte etwas im Sonnenlicht! Er ging dem Funkeln entgegen. Nach einigen Schritten sah er es: Irgendjemand hatte Edelsteine in die Wand eingefügt! Er wusste nicht, was ihn mehr erstaunte: dass die Edelsteine so groß waren wie Äpfel oder dass diese nicht längst geraubt worden waren.

Links war ein Diamant tief in die Wand eingelassen, rechts daneben ein Rubin, der gesplittert war, aber noch in seiner Fassung aus Fels steckte. Daneben befand sich wiederum ein Kristall, in dem sich dunkle Fäden spannten und den Stein schwarz färbten. Es schien ein Bergkristall zu sein, in dem finstere Mineralien eingeschlossen waren. Unter dem Rubin steckte der letzte Edelstein. Es war ein Saphir.

Der Rubin stellte die Mitte dieses Bildnisses dar. Er war durch eine fingertiefe Furche im Fels mit den anderen Edelsteinen verbunden. Da er gesplittert war, vermutete Nuramon zunächst, dass irgendjemand versucht hatte, den Stein aus dem Fels zu lösen, jedoch gescheitert war. Dann aber tadelte Nuramon sich für seine Vermutung, denn er spürte, dass sich direkt vor ihm sieben Albenpfade kreuzten. Der Edelstein war an sieben Stellen gebrochen. Der Rubin war der Albenstern! Und jede Bruchstelle stand für einen Pfad.

Links neben dem Diamanten und rechts neben dem Bergkristall waren Schriftzeichen in die Wand gemeißelt. Die Zeichen beim Diamanten konnte er lesen. Da stand auf Elfisch: »_Singe das Lied der Dareen, du Kind der Sonne! Singe von ihrer Weisheit, mit deiner Hand im Lichte! Singe die Worte, die einst du sprachst, und Seite an Seite tretet ein_.«

Das Orakel! So viele Pfade hatte er beschriften, so lange Zeit gesucht. Und nun … Nuramon überlegte, was das Lied der Dareen sein könnte. Da fielen ihm die Worte ein, die Meister Reilif, der schwarz gewandete Hüter des Wissens, ihm in Iskendria gesagt hatte. Es waren die Worte Yulivees gewesen.

Er legte seine Hand auf den Diamanten und sang: »_Du kamst zu uns. Deine Stimme kam. Du zeigtest uns die Sterne. Sie funkelten. Wir konnten sehen_.«

Mit einem Mal leuchtete der Diamant auf, und ein gleißendes Licht strömte durch die Furche dem Rubin entgegen, drang in ihn ein und ließ ihn leuchten. Dann trat ein rotes Licht unten aus dem Rubin aus und strebte dem Saphir entgegen. Als der rote Lichtfluss auf den Saphir traf, sprühte er Funken. Das rote Licht vermochte nicht in den Edelstein einzudringen.

Als Nuramon seine Hand vom Diamanten löste, verging der gleißende Lichtstrom zwischen Diamant und Rubin, und auch der rote Fluss zwischen Rubin und Saphir verblasste.

Die linke Hälfte des Rätsels war gelöst.

Nuramon betrachtete die Schrift neben dem Bergkristall. Sie war ihm fremd. Er hatte zwar den Verdacht, die Sprache zu kennen, und hielt es sogar für möglich, dass es eine aus Albenmark war, aber die Schrift bestand nur aus wenigen Zeichen, die sehr kompliziert und daher wenig einprägsam waren. Dies war das eigentliche Rätsel.

Er legte die Hand auf den Edelstein und sang erneut die Worte Yulivees. Doch nichts geschah. Er kehrte noch einmal zu der Elfenschrift zurück. Sie sprach ihn an, doch eintreten sollte er mit jemandem Seite an Seite. Im Lied war auch von uns und wir die Rede. Wer immer dieser andere war, er konnte die fremde Schrift lesen, musste den schwarzen Stein berühren und das Lied singen. Vielleicht war sein Lied ja deswegen so kurz, weil es nur ein Teil eines größeren war. Den einen Teil musste er singen, den anderen der Gefährte. Doch um wen mochte es sich dabei handeln? Vielleicht um einen Menschen?

Nuramon betrachtete das Gebilde vor sich im Ganzen. Der Rubin war der Albenstern, der Saphir galt als Stein des Wassers und der Quellen. Hier stand er gewiss für eine Quelle des Wissens und damit für Dareen, das Orakel. Der Diamant war das Zeichen für ihn oder jemanden wie ihn. Er war der Stein des Lichtes. »_Du Kind der Sonne_«, hieß es vor ihm an der Wand. Wenn er aber ein Kind der Sonne war, dann mochte sich die andere Schrift auf ein Kind der Nacht beziehen. Der Bergkristall galt zwar nicht als Stein der Nacht, doch das schwarze Gespinst in ihm mochte darauf hinweisen.

Plötzlich kam Nuramon eine Idee. Er war ein Albenkind und wurde hier als Kind der Sonne bezeichnet. In alten Zeiten hatte man die Elfen auch _Kinder der Lichtalben_ genannt. Von seinem Haus in der Eiche aus konnte er in die Berge blicken, in denen einst die Kinder der Dunkelalben gelebt hatten. Ein Kind der Dunkelalben! Das musste er finden und es dazu bewegen, mit ihm gemeinsam dieses Tor zu öffnen.

Die Kinder der Dunkelalben waren vor langer Zeit aus Albenmark in die Andere Welt gezogen, um sich ein neues Heim zu suchen. Es gab einige Geschichten über sie, aber diese gerieten langsam in Vergessenheit. Denn die Weisen sagten, die Unterscheidung zwischen Licht- und Dunkelalben ergebe keinen Sinn, und man solle sie ebenso vergessen wie das Volk, das sich auf die Dunkelalben berief. Ganz konnte man die Erinnerung an die Kinder der Dunkelalben und die Gerüchte um sie jedoch nicht auslöschen. Manche behaupteten, sie wären bösartig und es hätte in den frühen Tagen viele Kämpfe mit ihnen gegeben. Sie hätten den Glanz Albenmarks nicht ertragen und wären deswegen in diese trübe Welt gegangen. Andere sagten, sie wären harmlos, wenn man sie nicht reizte, und sie wären in die Andere Welt ausgezogen, um sich dort etwas Neues zu schaffen. Die Ältesten schwiegen, obwohl sie allein die Wahrheit kannten. So blieben die Kinder der Dunkelalben ein Geheimnis.

Wo sollte er nach diesem geheimnisvollen Volk suchen? Wie das Tor zu Noroelle konnten sie sich überall in dieser Welt befinden. Nuramon seufzte. Er war so klug wie zuvor. Er konnte seine Suche nur auf eine Weise fortsetzen: auf Elfenweise. Er würde nach dem verlorenen Volk und nach Noroelle suchen. Irgendwann würde er eines von beiden finden. Und vielleicht ergab sich eine neue Spur, an die er noch nicht gedacht hatte. Jedenfalls würde er nicht zu Farodin zurücklaufen, um ihm auf seinem sandigen Pfad zu folgen!

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