9

Über dem hochaufragenden, zerklüfteten Bergkamm der Drachenzähne hatte sich der Nachthimmel von Tiefblau zu Grau aufgehellt; das Funkeln von Mond und Sternen ließ allmählich nach, und der Himmel im Osten erstrahlte schwach in der herannahenden Morgendämmerung.

Allanons dunkle Augen ließen den Blick über die unüberwindliche Bergwand schweifen, die sich um ihn her erhob, über Klippen und Gipfel verwitterten, alten Gesteins, das von Wind und Zeit kahlgefegt und zerfressen war. Dann fiel sein Blick rasch, fast ängstlich zu der Stelle, wo die Felsmassen sich vor ihm teilten. Darunter lag das Schiefer-Tal, die Schwelle zur verbotenen Halle der Könige, der Heimstatt der Geister aller Zeitalter. Er stand an dessen Rand und hielt die schwarzen Gewänder eng um seine große, magere Gestalt geschlagen. Plötzliche Wehmut zeichnete sein Gesicht. Ein Wirrwarr schwarzer Steine, die wie undurchsichtiges Glas glänzten, zog sich zermahlen und blindlings verstreut zum Talboden und bildete einen zerklüfteten Weg. Inmitten der Steinwüste lag ein See, dessen trübes Gewässer von stumpfem, grünlichem Schwarz war und dessen Oberfläche in der leeren, windlosen Stille in trägem Sog kreiste — wie ein Kessel Brühe, den eine unsichtbare Hand langsam und mechanisch rührte.

Vater, flüsterte er lautlos.

Ein plötzliches Scharren von Stiefeln auf losen Steinen ließ ihn sich rasch umschauen, und er dachte wieder an die beiden, die mit ihm reisten. Sie tauchten nun aus dem Schatten der Felsen unten auf und blieben neben ihm stehen. Schweigend starrten sie in das öde Tal hinab.

»Ist es das?« fragte Rone Leah knapp.

Allanon nickte. Mißtrauen prägte die Worte des Hochländers und lauerte in seinen Augen. Es war stets offensichtlich. Er unternahm keinen Versuch, es zu verbergen.

»Das Schiefer-Tal«, erklärte der Druide ruhig. Er setzte sich in Bewegung, den gewundenen Pfad über den steinübersäten Hang hinabzuklettern. »Wir müssen uns beeilen.«

Mißtrauen und Argwohn standen auch in den Blicken des Mädchens aus dem Tal, obgleich es versuchte, sich diese Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Jene, die mit ihm reisten, waren stets voller Mißtrauen. Shea Ohmsford und Flick hatten es empfunden, als er sie auf die Suche nach dem Schwert von Shannara geführt hatte, und es hatte auch Wil Ohmsford und das Elfenmädchen Amberle geprägt, die er das Blutfeuer suchen ließ. Vielleicht war es berechtigt. Vertrauen war etwas, das man sich erwerben mußte, das niemand blindlings schenkte, und um es zu erwerben, mußte man offen und ehrlich sein. Das war er niemals — durfte es nicht sein. Er war der Hüter von Geheimnissen, die sich mit niemandem teilen ließen, und er mußte stets die Wahrheit verschleiern, denn Wahrheit ließ sich nicht erzählen, nur erfahren. Es war schwer, das, was er wußte, für sich zu behalten, doch anderweitig vorzugehen, hätte geheißen, das Vertrauen zu verspielen, das ihm geschenkt worden war, und das zu gewinnen er hart gearbeitet hatte.

Sein Blick wanderte kurz zurück, um sich zu versichern, daß das Talmädchen und der Hochländer ihm folgten; dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den verstreut herumliegenden Steinen zu seinen Füßen zu, und er tat jeden Schritt in wohlerwogenem Schweigen. Es wäre leicht, das Vertrauen zu vertun, alles preiszugeben, was er vom Schicksal jener wußte, die er beriet, die Geheimnisse, die er wahrte, zu offenbaren und die Ereignisse auf eine andere Art bekannt werden zu lassen, als es ihm befohlen war.

Doch er wußte, daß er dazu niemals in der Lage war. Er gehorchte einem höheren Lebens- und Pflichtengrundsatz. Das war sein Leben und seine Bestimmung. Wenn das bedeutete, daß er ihr Mißtrauen erdulden mußte, dann war daran nichts zu ändern. So hart es war, es stellte den notwendigen Preis dar.

Aber ich bin so müde, dachte er. Vater, ich bin so müde.

Am Grunde des Tales blieb er stehen. Das Mädchen aus Shady Vale und der Hochländer hielten neben ihm, und er drehte sich zur Seite und sah sie an. Ein Arm hob sich im Innern des dunklen Gewandes und wies auf die Gewässer des Sees.

»Das Hadeshorn«, flüsterte er. »Dort erwartet mich mein Vater, und ich muß seinem Ruf folgen. Ihr bleibt hier stehen, bis ich euch rufe. Bewegt euch nicht von der Stelle. Was immer geschieht, rührt euch nicht. Bis auf euch und mich leben hier nur die Toten.«

Keiner der beiden antwortete. Sie nickten zustimmend, und ihre Augen wanderten voller Unbehagen dorthin, wo die Wasser des Hadeshorn lautlos strudelten. Er betrachtete ihre Gesichter noch einen Augenblick lang eingehend, ehe er sich umdrehte und davonschritt.

Ein seltsames Gefühl der Erwartung durchflutete ihn, als er sich dem See näherte, fast so, als wäre er am Ziel einer langen Reise angelangt. Als er zurückdachte, fand er, daß es wohl immer so war. Es war jenes seltsame Gefühl, nach Hause zu kommen. Paranor war einst der Sitz der Druiden gewesen. Doch die anderen Druiden waren nun dahin, und er fühlte sich hier mehr zu Hause als in der Burg. Hier nahmen alle Dinge ihren Anfang, und hier fanden sie ihr Ende. Hierher kam er zurück, den Schlaf zu suchen, der sein Leben erneuerte, jedesmal, wenn er seine Reise durch die Vier Länder beendet hatte, hier, wo seine sterbliche Hülle sich halb in dieser Welt und halb in der des Todes befand. Hier stießen beide Welten aufeinander, hier war die schmale Schnittstelle, die ihm kurzen Zugang gewährte zu allem Vergangenen und allem Zukünftigen. Und vor allem konnte er hier seinen Vater treffen.

Gefangen, ausgestoßen und auf die Auslieferung wartend!

Er verdrängte den Gedanken. Dunkle Augen hoben sich kurz zu der leichten Aufhellung am östlichen Himmel und wanderten dann zum See zurück. Shea Ohmsford war einst vor vielen Jahren hierher gekommen, zusammen mit seinem Halbbruder Flick und den anderen der kleinen Gruppe, die aufgebrochen war, das Schwert von Shannara zu suchen. Es war prophezeit worden, daß sie einen verlieren würden, und so war es geschehen. Shea war die Wasserfälle an der Drachenfalte hinabgerissen worden. Der Druide erinnerte sich noch wohl an das Mißtrauen und den Argwohn, welche die anderen ihm gegenüber zeigten. Und doch hatte er Shea und Flick und Wil Ohmsford gern gehabt. Shea war ihm fast wie ein Sohn gewesen — wäre es vielleicht wirklich gewesen, hätte das Schicksal ihm vergönnt, einen Sohn zu bekommen. Wil Ohmsford war mehr ein Waffenbruder gewesen, der mit ihm zusammen die Verantwortung bei der Suche trug, durch welche der Ellcrys wiederhergestellt und die Elfen gerettet werden sollten.

Nachdenkliche Falten traten auf sein Gesicht. Nun war da Brin, ein Mädchen mit einer Macht, die alles überstieg, was dessen Vorfahren zu ihrer Zeit besessen hatten. Welche Bedeutung sollte es für ihn bekommen?

Er hatte nun das Seeufer erreicht und blieb stehen. Einen Augenblick lang schaute er in das unergründlich tiefe Wasser und wünschte... Dann hob er langsam die Arme zum Himmel; sein Körper verstrahlte Kraft, und der Hadeshorn begann ruhelos zu brodeln. Die Wasser zogen schnellere Kreise, begannen zu kochen und zu zischen, daß Gischt in die Höhe spritzte. Rings um den Druiden erbebte und polterte das öde Tal, als erwachte es aus einem langen, traumlosen Schlaf. Dann stiegen aus den Tiefen des Sees dunkle, schreckliche Schreie auf.

Komm zu mir, rief der Druide lautlos. Sei frei!

Die Schreie wurden höher, schriller, unmenschlich — gefangene Seelen, die aus ihrer Knechtschaft riefen, um erlöst zu werden. Das ganze düstere Tal erfüllte sich mit ihrem Klagen, und die Gischt der trüben Wasser des Hadeshorn zischten deutlich vor Erleichterung.

Komm!

Aus den wogenden, dunklen Gewässern erhob sich der Schatten von Brimen, sein magerer, skelettartiger Körper als durchschimmerndes Grau, im Leichenhemd und vom Alter gebeugt, vor dem nächtlichen Hintergrund. Die schreckliche Gestalt erstand aus den Wassern und blieb vor Allanon auf der Oberfläche des Sees stehen. Langsam senkte der Druide die Arme und schlug die schwarzen Gewänder eng um sich, damit ihm wärmer würde; innerhalb seiner Kapuze hob er das dunkle Gesicht, um nach den leeren, blicklosen Augen seines Vaters zu suchen.

Ich bin da.

Dann hob der Schatten die Arme. Obgleich sie Allanon nicht berührten, empfand er ihre kalte Umarmung ihn wie Tod umfangen. Langsam und sorgenvoll erklang die Stimme seines Vaters.

- Das Zeitalter geht zu Ende. Der Kreis hat sich geschlossen -

Die Kälte in ihm wurde schlimmer und ließ ihn wie zu Eis erstarren. Die Worte flössen weiter wie eins dahin, und obwohl er sie alle mit jedem schrecklichen Detail vernahm, waren sie aufgereiht und zusammengezerrt wie kräftige Knoten an einem Strick. Er hörte sie in stiller Verzweiflung an, hatte Angst wie niemals zuvor und begriff schließlich, was geschehen sollte, geschehen mußte und geschehen würde. In seinen harten, schwarzen Augen standen Tränen.

In furchtsamer Stille standen Brin Ohmsford und Rone Leah an der Stelle, wo der Druide sie zurückgelassen hatte, und beobachteten das Auftauchen von Brimens Schatten aus den Tiefen des Hadeshorn. Kälte durchbohrte sie, die von keinem umherfegenden Wind stammte, denn es wehte keiner, sondern von der Erscheinung des Geistes. Gemeinsam beobachteten sie ihn, sahen, wie er zerrissen und skeletthaft vor Allanon stand, und wurden gewahr, wie er die Arme hob, als wollte er den Druiden umfangen und seine schwarze Gestalt in die Tiefe zerren. Von seinen Worten hörten sie nichts; die Luft um sie her war erfüllt von den schrillen Schreien aus dem See. Das Gestein bebte und ächzte unter ihren Füßen. Wenn sie gekonnt hätten, wären sie geflüchtet und hätten nicht einmal zurückgeschaut. In diesem Augenblick waren sie überzeugt, daß der Tod entfesselt war und unter ihnen umging.

Dann hatte es unvermittelt ein Ende. Der Schatten von Brimen drehte sich um und versank wieder langsam in den trüben Gewässern. Die Schreie wurden schriller, zu einem angstvollen Jammern und verstummten dann schließlich. Der See brodelte und kochte erneut einen Augenblick, glättete sich dann, und schließlich zogen die Wasser wieder ihre friedlichen Kreise.

Im Osten brach der Scheitel der Sonne über den zerklüfteten Rücken der Drachenzähne und verströmte silbergraues Licht durch die ersterbenden Schatten der Nacht.

Brin hörte Rone deutlich aufatmen, und sie faßte nach seiner Hand. Am Rande des Hadeshorn fiel Allanon auf die Knie und verharrte so mit gesenktem Kopf.

»Rone!« wisperte sie heiser und wollte loslaufen. Der Hochländer packte sie mahnend beim Arm, eingedenk der Anweisung des Druiden, doch sie riß sich los und lief zum See. Augenblicklich stürzte er hinter ihr her.

Gemeinsam rannten sie zu dem Druiden, kamen schlitternd auf dem lockeren Gestein zum Halten und beugten sich neben ihm hinab. Er hielt die Augen geschlossen, und sein dunkelhäutiges Gesicht war bleich. Brin ergriff eine seiner großen Hände und stellte fest, daß sie eiskalt war. Der Druide schien sich in Trance zu befinden. Das Talmädchen warf Rone einen fragenden Blick zu. Der Hochländer zuckte mit den Schultern. Brin beachtete ihn nicht weiter, legte ihre Hände auf die Schultern des großen Mannes und schüttelte ihn sanft.

»Allanon«, sagte sie leise.

Die dunklen Augen öffneten sich flatternd und sahen in die ihren. Einen Augenblick lang durchschaute sie ihn klar. In seinem Blick stand schreckliche, unkontrollierte Furcht. Angst war darin zu lesen und Ungläubigkeit. Es erschreckte sie dermaßen, daß sie schnell von ihm zurückwich. Dann verschwand all das, was sie gesehen hatte; es wich dem Ärger.

»Ich wies euch doch an, ihr solltet dortbleiben.« Er stand unbeholfen auf.

Sein Unmut war ihr gleichgültig, und sie beachtete ihn gar nicht. »Was ist geschehen, Allanon? Was habt Ihr gesehen?«

Einen Moment lang schwieg er, und sein Blick wanderte noch einmal über die trüben Wasser des Sees. Er schüttelte langsam den Kopf. »Vater«, flüsterte er.

Brin schaute Rone rasch von der Seite an. Der Hochländer zog die Stirn kraus.

Sie versuchte es noch einmal und faßte leicht nach dem Ärmel des Druiden. »Was hat er Euch gesagt?«

Leere, schwarze Augen richteten sich auf die ihren. »Daß uns die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt, Talmädchen. Daß wir von allen Seiten gejagt werden, und daß sich daran nichts ändert bis zum Ende. Das Ende steht fest, aber er mochte mir nicht offenbaren, wie es ausgeht. Nur, daß es kommen wird, daß du es miterlebst und daß du für unsere Sache gleichzeitig die Retterin und die Zerstörerin bist.«

Brin starrte ihn an. »Was soll das heißen, Allanon?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Sehr nützlich.« Rone richtete sich auf und wandte den Blick in die Berge.

Brin sah weiter den Druiden an. Da war noch etwas. »Was hat er sonst noch gesagt, Allanon?«

Doch wieder schüttelte der Druide den Kopf. »Nichts mehr. Das war alles.«

Er log. Brin begriff es sofort. Es war noch etwas anderes zwischen ihnen besprochen worden, etwas Finsteres und Schreckliches, das er nicht bereit war, preiszugeben. Der Gedanke machte ihr Angst, und die Gewißheit war ein Omen, daß sie ebenso wie ihr Vater und ihr Großvater zuvor zu einem Zweck benutzt werden sollte, den sie nicht durchschaute.

Ihre Gedanken kehrten zu dem zurück, was er davor geäußert hatte. Retterin und Zerstörerin ihrer Sache — beides würde sie sein, hatte der Schatten verkündet. Aber wie war das möglich?

»Eines hat er mir noch berichtet«, fing Allanon plötzlich wieder zu sprechen an, doch Brin fühlte, daß das nicht die Sache war, die er geheimhalten wollte. »Paranor befindet sich in den Händen der Mordgeister. Sie haben die Sperrvorrichtungen überwunden und den Zauber durchbrochen, der den Zugang sonst schützt. Die Burg fiel vor zwei Nächten. Nun durchsuchen sie die Säle nach den Geschichtsbüchern der Druiden und den Geheimnissen der Altforderen. Was sie finden, wird die Macht stärken, die sie bereits besitzen.«

Er schaute sie einen nach dem anderen an. »Und sie werden sie früher oder später entdecken, wenn ihnen nicht Einhalt geboten, wird. Das darf auf keinen Fall geschehen.«

»Ihr erwartet ja wohl nicht, daß wir das verhindern?« erkundigte Rone sich schnell.

Die schwarzen Augen wurden schmäler. »Sonst vermag es niemand.«

Der Hochländer lief rot an. »Wie viele sind dort denn genau?«

»Ein Dutzend Geister. Und eine Kompanie Gnomen.«

Rone wollte es nicht glauben. »Und die sollen wir aufhalten? Ihr und ich und Brin? Nur wir drei? Und wie genau sollen wir das machen?«

In den Augen des Druiden stand plötzlich schreckliche Wut. Rone Leah ahnte, daß er einen Schritt zu weit gegangen war, doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Er wich nicht von der Stelle, als der große Mann auf ihn zutrat.

»Prinz von Leah, du hast von Anbeginn an mir gezweifelt«, warf ihm Allanon vor. »Ich ließ das durchgehen, weil du das Talmädchen gern hast und mitgekommen bist als ihr Beschützer. Aber nun ist es genug. Dein ständiges Infragestellen meiner Absichten und der Notwendigkeiten, die ich sehe, hat nun die Grenze erreicht! Das Ganze hat wenig Sinn, wenn du in deinem Innern bereits eine vorgefaßte Meinung gegen mich hast!«

Rone sprach mit ruhiger Stimme. »Ich habe keine vorgefaßte Meinung gegen Euch. Ich habe nur eine feste Meinung, was Brin anbelangt. Wenn die beiden in Konflikt geraten, stehe ich auf Brins Seite, Druide.«

»Und genau dort sollst du auch bleiben!« erwiderte der andere mit dröhnender Stimme und riß Leahs Schwert aus seiner Scheide, wo es auf dem Rücken des Hochländers gegurtet war. Rone wurde kreideweiß und war fest davon überzeugt, daß der große Mann ihn töten wollte. Brin stürzte nach vorn und schrie auf, doch der Druide hob rasch die Hand, ihr Einhalt zu gebieten. »Bleib zurück, Talmädchen, das ist eine Sache zwischen mir und dem Prinzen von Leah!«

Seine Augen waren wild und durchdringend auf Rone geheftet. »Würdest du sie ebenso beschützen, wie ich das könnte? Und wenn es möglich wäre, wie meinesgleichen Widerstand leisten?«

Rones Gesicht verhärtete sich vor Entschlossenheit über einer angsterfüllten Grimasse. »Das würde ich.«

Allanon nickte. »Dann will ich dir die dazu notwendige Macht verleihen.«

Eine große Hand packte Rone fest am Arm und schleuderte den Hochländer mühelos an den Rand des Hadeshorn. Dort gab er ihm das Schwert von Leah zurück und wies auf das grüne Wasser.

»Tauche die Schwertklinge ins Wasser, Prinz von Leah«, befahl er. »Aber halte deine Hand und den Griff draußen. Selbst die geringste Berührung mit dem Hadeshorn bedeutet für sterbliches Fleisch den Tod.«

Rone Leah starrte ihn unsicher an.

»Tu, was ich dir sage!« fuhr der Druide ihn an.

Rone biß die Zähne zusammen. Langsam senkte er die Klinge des Schwertes von Leah, bis sie ganz in die strudelnden Wasser des Sees eingetaucht war. Sie glitt mühelos hinab — als wäre der See grundlos und als markierte die Uferlinie den Rand eines glatten Gefälles. Sobald das Metall den See berührte, begannen die Wasser ringsherum leise zu brodeln, zu zischen und zu gurgeln, als ob Säure das Metall säuberte. Trotz seiner Furcht zwang Rone sich, die Klinge ruhig im Wasser zu halten.

»Genug«, wies ihn der Druide an. »Zieh sie heraus.«

Langsam zog Rone das Schwert aus dem See. Die Klinge, einst poliertes Eisen, war schwarz geworden. Das Wasser des Hadeshorn klebte an ihrer Oberfläche und umkreiste sie, als wäre es lebendig.

»Rone«, flüsterte Brin entsetzt.

Der Hochländer hielt das Schwert ruhig und streckte die Klinge von sich; seine Augen waren auf das Wasser geheftet, das auf der Metalloberfläche kreiste und wogte.

»Nun steh fest!« befahl Allanon und hob einen Arm aus den schwarzen Gewändern. »Bleib ruhig stehen, Prinz von Leah!«

Blaues Feuer strömte in einer dünnen, gleißenden Linie von den Fingern seiner Hand. Es lief über die Klinge, trocknete, versengte und entzündete Wasser und Metall und ließ beide zu einem Ganzen verschmelzen. Blaue Flammen loderten in einem Ausbruch glühenden Lichts auf, und doch ging keine Hitze von der Klinge auf den Griff über. Rone Leah wandte den Blick ab, doch seine Hände hielten das Schwert fest umklammert.

Einen Augenblick später war es vorbei, und der Druide ließ seinen Arm wieder sinken. Rone Leah blickte an seinem Schwert hinab. Die Klinge war sauber, ein hochglänzendes, funkelndes Schwarz mit harter, glatter Schneide.

»Sieh genau hin, Prinz von Leah!« befahl ihm Allanon.

Er tat wie geheißen und auch Brin beugte sich neben ihm hinab. Zusammen schauten sie in die schwarze, spiegelnde Oberfläche.. Tief im Innern des Metalls strudelten träge, grüne Lichter.

Allanon trat auf sie zu. »Darin ist der Zauber von Leben und Tod zu einem vermischt. Diese Macht gehört nun dir, Hochländer; du wirst verantwortlich dafür sein. Du sollst ebenso Brin Ohmsfords Beschützer sein wie ich. Du wirst ebensolche Macht innehaben wie ich. Dieses Schwert wird sie dir verleihen.«

»Wie?« fragte Rone leise.

»Wie alle Schwerter kann dieses schneiden und parieren — nicht gegen Fleisch und Blut oder Eisen und Stein, sondern Magie. Die böse Magie der Mordgeister. Zerschlägt man diese Magie oder wehrt sie ab, kann sie nicht wirksam werden. Dazu hast du dich nun verpflichtet. Du hast als Schutzschild vor diesem Mädchen zu stehen, von nun an bis zum Ende dieser Reise. Du wirst ihr Beschützer sein, und ich habe dich dazu gemacht.«

»Aber warum... warum wollt ihr mir...?« stammelte Rone.

Doch der Druide drehte sich nur um und ging davon. Rone schaute ihm mit fassungslosem Gesicht hinterdrein.

»Das ist unfair, Allanon!« rief Brin der sich entfernenden Gestalt nach, als sie plötzliche Wut darüber packte, was er Rone angetan hatte. Sie starrte hinter ihm her. »Welches Recht habt Ihr...?«

Sie sollte den Satz niemals zu Ende sprechen. Es kam zu einer plötzlichen, furchterregenden Explosion, die sie von den Füßen riß und zu Boden schleuderte. Ein tosendes, rotes Flammenmeer verschlang Allanon und er verschwand. Viele Meilen südlich davon stolperte Jair Ohmsford mit erschöpftem und schmerzendem Körper aus den nächtlichen Schatten in eine Dämmerung voll unheimlichem Nebel und Zwielicht. Bäume und Dunkelheit schienen zu vergehen, beiseite geschoben wie ein großer Vorhang, und da brach der neue Tag an. Er war weit und leer, ein unheimliches Gewölbe aus schwerem Nebel, das innerhalb seiner unermeßlichen Mauern die ganze Welt aussperrte. Fünfzig Meter von seinem Standort begann der Nebel und alles andere hörte auf. Schläfrige Augen blickten verständnislos und sahen einen Pfad, übersät mit Reisig und grünlichen Pfützen, der sich das kurze Stück in den Nebel hinein erstreckte, und ihm war noch immer nicht klar, was geschehen war.

»Wo sind wir?« murmelte er.

»Im Nebelsumpf«, murmelte Spinkser neben ihm. Jair warf dem Gnomen einen benommenen Blick zu, und der erwiderte ihn aus ebenso müden Augen. »Wir haben uns zu nah am Rand gehalten und sind in einen Kessel geraten. Wir werden ihn entlang zurückgehen müssen.«

Jair nickte und versuchte, seine Gedankenfetzen zusammenzufügen. Plötzlich tauchte Garet Jax schwarz und schweigsam neben ihm auf. Die harten, ausdruckslosen Augen strichen kurz über die seinen hinweg und dann hinaus in den Sumpf. Wortlos nickte der Waffenmeister Spinkser zu, und der Gnom machte kehrt. Jair schleppte sich hinter ihm her. In Garet Jaxens Blick waren keine Anzeichen von Müdigkeit zu sehen.

Sie waren die ganze Nacht endlos durch das Labyrinth der Schwarzen Eichen marschiert. Der Talbewohner erinnerte sich jetzt kaum mehr als entfernt und vage daran, ein lückenhaftes Stück Zeit, das in der Erschöpfung unterging. Nur sein fester Wille hielt ihn auf den Beinen.

Nach einer Zeit war sogar die Furcht von ihm abgefallen, und die Gefahr einer Verfolgung schien nicht mehr so unmittelbar. Es kam ihm vor, als hätte er sogar beim Gehen geschlafen, denn er konnte sich an nichts erinnern. Und doch hatten sie nicht geschlafen, wie er wußte. Sie waren nur endlos gelaufen...

Eine Hand riß ihn vom Rande des Sumpfs zurück, als er zu nahe vorbeitaumelte. »Paß auf, wohin du trittst, Taljunge.« Garet Jax ging neben ihm.

Er murmelte etwas in Erwiderung und wankte weiter. »Er ist tot vor Erschöpfung, aber bleibt auf den Beinen«, hörte er Spinkser knurren, doch es kam keine Antwort. Er rieb sich die Augen.

Spinkser hatte recht. Er war fast am Ende seiner Kräfte. Er konnte nicht viel länger mehr durchhalten.

Und doch tat er es. Er ging noch Stunden, wie es schien, schleppte sich durch den Nebel und das graue Zwielicht, stolperte blindlings hinter Spinksers untersetzter Gestalt her und war sich der schweigsamen Gegenwart von Garet Jax neben sich kaum bewußt. Alles Zeitgefühl war aus ihm gewichen. Er wußte nur noch, daß er auf den Beinen war und sich weiter quälte. Ein Schritt folgte auf den ändern, ein Fuß dem anderen und jedesmal war es eine weitere, neue Anstrengung. Und der Weg nahm kein Ende.

Bis...

»Verdammter Mist!« murmelte Spinkser, und plötzlich schien der ganze Sumpf nach oben aufzubrechen. Wasser und Schleim schössen in die Höhe und regneten auf den entsetzen Talbewohner hernieder. Ein Brüllen zerriß die Stille des Tagesanbruchs, ein heiserer, durchdringender Schrei, und etwas Riesenhaftes ragte fast direkt vor Jair empor.

»Ein Sumpfhäusler!« hörte er Spinkser schreien.

Jair taumelte rückwärts und war völlig verwirrt und zu Tode erschreckt angesichts des massigen Dings, das sich da vor ihm erhob, und sah nur noch einen schuppigen, morasttriefenden Körper, einen Kopf, der lediglich aus einem weit aufgerissenen, zähnefletschenden Maul zu bestehen schien, und die vorgereckten, krallenbewehrten Vorderpfoten. Er stolperte nun wie von Sinnen zurück, aber seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, sie waren vor Erschöpfung zu taub, um angemessen zu reagieren. Das riesenhafte Geschöpf stürzte sich auf ihn, sein Schatten verdunkelte sogar das Halblicht, und sein Atem stank roh und faulig.

Dann stieß ihn etwas in die Seite, so daß er umfiel und aus der Reichweite der Klauen des Ungeheuers rollte. Völlig benommen gewahrte er Spinkser an seinem vorherigen Platz stehen, der das gezückte Kurzschwert wild nach dem riesigen Untier schwenkte, das da auf ihn herabstieß. Doch das Schwert war eine jämmerlich unzulässige Waffe. Das Monster schlug sie fort, daß sie in hohem Bogen aus der Hand des Gnomen flog. Im nächsten Augenblick schloß sich eine große Krallenklaue um Spinksers Leib.

»Spinkser!« kreischte Jair und versuchte sich hochzurappeln.

Garet Jax handelte schon. Er sprang als verschwommener Schatten hinzu, stieß seinen schwarzen Stock in das aufgerissene Maul des Geschöpfs und rammte ihn tief in das weiche Gewebe des Schlundes. Der Sumpfhäusler brüllte vor Schmerz, die Kiefern klappten über dem Stab zusammen und brachen ihn in Stücke. Die Klauenhände griffen nach den Splittern in seinem Maul und ließen Spinkser zu Boden fallen.

Wieder tat Garet Jax einen Sprung auf das Ungeheuer zu, diesmal mit gezücktem Kurzschwert. Er stand so rasch auf der Schulter des Untiers, außer Reichweite der fuchtelnden Klauen, daß Jair ihm gar nicht recht mit Blicken folgen konnte. Er grub sein Schwert tief in die Kehle des Sumpfhäuslers. Dunkles Blut schoß hervor. Dann sprang er rasch ab. Der Sumpfhäusler war nun verletzt und litt, wie sein Gebrüll hören ließ, unter Schmerzen. Er machte ruckartig kehrt und taumelte blindlings zurück in Nebel und Dunkelheit.

Spinkser rappelte sich benommen und fassungslos hoch, Garet Jax dagegen trat zu Jair und zerrte ihn schnell auf die Beine. Der Talbewohner hatte die Augen weit aufgerissen und gaffte den Waffenmeister voller Ehrfurcht an.

»Noch nie... noch nie habe ich jemanden... sich so schnell bewegen sehen!« stammelte er.

Garet Jax achtete nicht darauf. Mit fest um seinen Kragen geschlossener Hand zerrte er den Talbewohner in den Wald, und Spinkser huschte schnell hinterdrein.

Innerhalb von Sekunden hatten sie die Lichtung hinter sich gelassen. Rote Feuer loderten um den Druiden, hüllten ihn in karmesinzüngelnde Flammen und flackerten unheilvoll vor dem Hintergrund des ersten, grauen Tageslichts. Benommen und halb geblendet von der Explosion rappelte Brin sich auf die Knie hoch und beschirmte mit der Hand ihre Augen. Inmitten des Feuers hockte der Druide im glitzernden, schwarzen Gestein des Talbodens, und eine schwache, blaue Aura hielt die Flammen zurück, die ihn umschlossen. Ein Schild, so begriff Brin, sein Schutz gegen den Horror, der ihn vernichten würde.

Verzweifelt sah sie sich nach dem Verursacher dieses Grauens um und entdeckte ihn in nicht zwanzig Metern Entfernung. Dort stand finster vor dem schwachen Gold der Sonne, die sich gerade über den Horizont schob, eine hohe, schwarz umrissene Gestalt mit erhobenen und vorgereckten Armen, aus denen rotes Feuer sprühte. Ein Mordgeist. Sie wußte auf der Stelle, was das war. Er war lautlos über sie gekommen, hatte sie in ihrer Arglosigkeit erwischt und den Druiden niedergerungen. Allanon hatte keine Chance sich zu verteidigen und lebte nun nur noch dank seines Instinkts.

Brin sprang auf die Beine. Sie kreischte wie von Sinnen das schwarze Wesen an, das ihn angriff, doch der Geist rührte sich nicht, und das Feuer hielt unvermindert an. In beständigem, unablässigem Strom schoß es von seinen ausgestreckten Händen zu der Stelle, wo der Druide hockte, loderte rings um seinen zusammengekauerten Körper und hämmerte auf das schwache blaue Schild ein, das es noch zurückhielt! Karmesinrotes Licht waberte und wurde von der Spiegeloberfläche des Talgesteins himmelwärts reflektiert, und die ganze, von den Felswänden eingekesselte Welt schien wie in Blut getaucht.

Dann stürzte Rone Leah nach vorn, sprang vor Brin und blieb wie ein geducktes Tier stehen.

»Teufel!« heulte er voller Wut.

Er schwenkte die schwarze Metallklinge des Schwertes von Leah und dachte in diesem Augenblick nicht im geringsten darüber nach, wem er hier half oder um wessentwillen er sein eigenes Leben bereitwillig aufs Spiel setzte. In diesem Augenblick war er der Urenkel von Menion Leah, so schnell und verwegen wie sein Ahne gewesen sein sollte, und der Instinkt dominierte über seinen Verstand. Er stieß den Schlachtruf seiner Vorfahren aus längst vergangenen Jahrhunderten aus und ging zum Angriff über.

»Leah! Leah!«

Er sprang ins Feuer, das Schwert sauste nieder und zerschlug den Ring, der Allanon einschloß. Sogleich barsten die Flammen, als wären sie aus Glas und fielen vor der niedergekauerten Gestalt des Druiden in Scherben zu Boden. Das Feuer schoß noch immer von den Händen des Mordgeistes; doch wie Eisen von einem Magneten wurde es nun von der Klinge angezogen, die der rothaarige Hochländer führte. Es wallte im wilden Bogen zu dem schwarzen Metall und brannte an ihm herunter. Und doch berührte kein Feuer Rones Hand; es war, als absorbierte es das Schwert. Der Prinz von Leah stand hoch aufgerichtet zwischen Geist und Druiden, das Schwert von Leah senkrecht vor sich, von dessen Klinge das karmesinrote Feuer absprang.

Allanon erhob sich ebenso schwarz und bedrohlich wie das Wesen, das ihn aufgespürt hatte, und war nun von den Flammen befreit, die ihn umschlossen hatten. Magere Arme hoben sich aus den Gewändern heraus, blaues Feuer sprang hervor. Es traf den Mordgeist, riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn zurück, als wäre er von einem Rammbock getroffen.

Schwarze Gewänder blähten sich, und ein entsetzliches, lautloses Kreischen hallte in Brins Gehirn wider. Noch einmal flammte das Feuer des Druiden auf, und einen Augenblick später war das schwarze Ding, auf das es gerichtet war, zu Staub zerfallen.

Das Feuer erlosch zu dahinziehenden Rauchfahnen und zerstreuter Asche, und Stille erfüllte das Schiefer-Tal. Das Schwert von Leah sank herab, und das schwarze Eisen klirrte deutlich auf dem Gestein, als es schließlich zu Boden fiel. Rone Leah neigte den Kopf; ein verwunderter Ausdruck stand in seinen Augen, als sein Blick Brin suchte. Sie kam zu ihm gelaufen, schlang die Arme um ihn und drückte ihn an sich.

»Brin«, flüsterte er schwach. »Dieses Schwert... diese Macht...«

Er konnte nicht weiter sprechen. Allanons sehnige Hand, schloß sich freundlich um seine Schulter.

»Hab’ keine Angst, Prinz von Leah.« Die Stimme des Druiden klang erschöpft, aber beruhigend. »Die Macht untersteht tatsächlich dir. Du hast bewiesen, daß du sie beherrschst. Du bist wirklich der Beschützer des Talmädchens — und bist zumindest diesmal auch der meine gewesen.«

Die Hand verweilte dort noch einen Augenblick, dann ging der große Mann den Weg zurück, den .sie gekommen waren.

»Es war nur der eine«, rief er zu ihnen zurück. »Wären noch andere da, hätten wir sie inzwischen zu Gesicht bekommen. Kommt. Unsere Aufgabe hier ist erfüllt.«

»Allanon...« begann Brin hinter ihm herzurufen.

»Komm, Talmädchen. Die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern. Paranor braucht alle Hilfe, die wir ihm bieten können. Wir müssen sofort dorthin.«

Ohne einen Blick zurück machte er sich an den Aufstieg aus dem Tal. Brin und Rone Leah folgten in stiller Schicksalsergebenheit.

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