Der Herbst war übers Land gekommen, und überall erstrahlten und glänzten die Farben der Jahreszeit im warmen Sonnenschein. Es war ein klarer, kühler Tag in den Ostlandwäldern, wo der Mangold-Fall aus dem Wolfsktaag herabschoß und der Himmel sich in tiefem Blau wölbte. Der Morgen hatte Frost gebracht, und schmelzender Rauhreif hing noch im hohen Gras, auf der harten Erde und den moosbewachsenen Steinen am Flußufer entlang und vermischte sich mit der Gischt von den schäumenden Wassern des Flußbettes.
Brin machte am Rand dieser Wasser halt, um ihre Gedanken zu sammeln.
Es war nun eine Woche her, daß die kleine Freundesgruppe das Rabenhorn verlassen hatte. Mit der Vernichtung des Ildatch, dem Untergang der schwarzen Magie und all jener Dinge, die sie hervorgebracht hatte, waren die Gnomen-Jäger, die Graumark verteidigt hatten, in die Berge Und die Waldgebiete des tiefen Anar geflüchtet — zurück zu den Stämmen, von denen man sie geholt hatte. So waren Brin, Jair und ihre Freunde allein in der Festung zurückgeblieben, hatten die Leichname des Grenzländers Helt, des Zwergen Elb Foraker und des Elfenprinzen Edain Elessedil gefunden und zur Ruhe gebettet. Nur Garet Jax hatten sie zurückgelassen, wo er gestorben war, denn mit der Zerstörung des Croagh war jeglicher Zugang zum Himmelsbrunnen abgeschnitten. Vielleicht war es richtig, daß der Waffenmeister dort blieb, wo kein anderer Sterblicher jemals einen Fuß hinsetzen könnte, hatte Jair feierlich erklärt. Vielleicht sollte es für Garet Jax im Tode nicht anders sein als im Leben.
In jener Nacht hatten sie in den Wäldern unterhalb Graumark südlich der Stelle, wo die Festung sich ans Rabenhorn schmiegte, gelagert, und hier hatte Brin den anderen von ihrem Versprechen erzählt, zu Allanon zurückzukehren, wenn der Ildatch zerstört und ihre Aufgabe erfüllt wäre. Jetzt, da ihre Reise in den Maelmord abgeschlossen war, mußte sie ihn ein letztes Mal aufsuchen. Es gab noch Fragen, die zu beantworten waren, und Dinge, die sie wissen mußte.
Und so hatten alle sie begleitet — ihr Bruder Jair, Rone, Kimber, Cogline, die Moorkatze Wisper und sogar der Gnom Spinkser. Sie waren mit ihr wieder aus dem Rabenhorn gewandert, südwärts zwischen den öden Flächen des Altmoors und dem Gebirge entlanggezogen, hatten den Tofferkamm zu den Wäldern des Dunkelstreif überquert, das Tal vom Kamin passiert und waren dann dem gewundenen Verlauf des Mangold-Stroms westwärts gefolgt, bis sie die kleine Lichtung erreicht hatten, wo Allanon sein letztes Gefecht ausgetragen hatte. Diese Reise hatte eine ganze Woche in Anspruch genommen, und am Abend des siebten Tages hatten sie am Rand der Lichtung ihr Lager aufgeschlagen.
Nun stand sie ruhig im Frost des frühen Morgens und starrte hinaus über die Strömung des Flusses. In der Senke der kleinen Lichtung hinter ihr warteten die anderen geduldig. Sie waren nicht mit ihr ans Flußufer gekommen; sie hatte es nicht gewollt. Das war eine Sache, die sie allein hinter sich bringen mußte.
Wie soll ich ihn nur rufen? fragte sie sich. Soll ich singen? Soll ich den Zauber des Wünschliedes gebrauchen, damit er weiß, daß ich hier bin? Oder wird er kommen, ohne daß ich ihn rufen muß, weil er weiß, daß ich warte... ?
Wie zur Antwort beruhigten sich die Wasser des Mangold-Stroms vor ihr, die Oberfläche wurde so glatt wie Glas. Rings umher schwiegen die Wälder, und selbst das ferne Donnern der Wasserfälle wurde leiser und verstummte. Langsam begannen die Wasser zu brodeln, sich zu kräuseln und zu schäumen wie der umgerührte Inhalt eines Kessels, und ein einziger, süßer Schrei stieg in die Morgenluft.
Dann fuhr Allanon aus dem Mangold-Strom auf mit seiner hochgewachsenen, mageren, aufrechten Gestalt in den schwarzen Gewändern. Er schritt über die reglosen Wasser des Flusses, hob den Kopf in der dunklen Kapuze, und sein Blick war hart und durchdringend. Er sah nicht aus wie Brimen damals; sein Körper wirkte eher fest als durchschimmernd, war nicht wie der Geist seines Vaters in Nebelfetzen gehüllt, und er war frei von dem Leichentuch, das den alten Mann eng umschlungen hatte. Es war, als lebte er noch, dachte Brin plötzlich, als wäre er niemals gestorben.
Er kam näher und hielt dann inne, um in der Luft über dem Wasser des Flusses zu schweben.
»Allanon«, flüsterte sie.
»Ich habe darauf gewartet, daß du kommst, Brin Ohmsford«, antwortete er leise.
Sie schaute genauer hin und sah nun den schwachen Schimmer des Flußwassers sanft durch die dunklen Gewänder funkeln; nun begriff sie, daß er wirklich tot war und nur sein Geist vor ihr stand.
»Es ist vollbracht«, erklärte sie ihm, und das Sprechen fiel ihr plötzlich schwer. »Der Ildatch ist zerstört.«
Der Kopf in der Kapuze neigte sich leicht zur Seite. »Zerstört durch die Macht des Elfenzaubers, dem das Wünschlied seine besondere Gestalt verlieh. Doch auch durch eine bedeutendere Macht, Talmädchen — durch Liebe, Brin; durch die Liebe, die deinen Bruder an dich band. Er liebte dich zu sehr, um aufzugeben, auch wenn er fast zu spät gekommen wäre.«
»Ja, Allanon, auch durch die Liebe.«
»Retterin und Zerstörerin.« Die schwarzen Augen verengten sich. »Die Macht deiner Magie wollte dich zu beidem machen, und du hast gesehen, wie korrumpierend solche Macht sein kann. Die Verlockung ist so groß und so schwer abzuwägen. Ich hatte dich davor gewarnt, doch diese Warnung hat nicht ausgereicht. Ich habe dich kläglich im Stich gelassen.«
Sie schüttelte rasch den Kopf. »Nein, nicht Ihr habt mich im Stich gelassen. Ich selbst habe mich im Stich gelassen.«
Der Druide hob die Hände im Innern seiner Gewänder, und sie bemerkte, daß sie hindurchsehen konnte. »Ich habe nicht viel Zeit, so hör mich aufmerksam an, Brin Ohmsford. Ich verstand von der schwarzen Magie nicht soviel, wie ich hätte verstehen müssen. Ich habe mich getäuscht — genau wie der Finsterweiher dir sagte. Ich wußte, daß die Magie des Wünschliedes wirken konnte, wovor mein Vater gewarnt hatte — als Segen und als Fluch —, und daß derjenige, der diese Macht innehat, folglich zum Retter und zum Zerstörer werden konnte. Doch du besaßest Herz und Verstand, und ich hielt die Gefahr nicht für so groß, weil diese Eigenschaften dich stützten. Ich habe die Wahrheit über den Ildatch nicht erkannt und nicht begriffen, daß die von der schwarzen Magie ausgehende Gefahr jene überwältigen könnte, die geschaffen waren, sie zu beherrschen. Denn die wirkliche Gefahr stellte immer das Buch dar — es verwandelte alle von Grund auf, die kamen, den Zauber anzuwenden, von der Zeit des Dämonen-Lords bis zu jener der Mordgeister. Alle waren Sklaven des Ildatch gewesen, und dieser Ildatch war nicht nur eine leblose Sammlung von Seiten und Einband, in der die schwarze Magie aufgezeichnet war. Der Ildatch lebte — als Kraft des Bösen, die durch die Verlockungen des Zaubers alle, die ihre Macht suchten, unter ihre Gewalt bringen konnte.«
Allanon beugte sich näher zu ihr, und das Sonnenlicht fiel in Streifen durch die Ränder seiner dunklen Kleider, als wären sie ausgefranst. »Ich wollte von Anfang an, daß du zu dem Buch stößt. Doch ich wollte auch, daß du zuvor einige Prüfungen ablegen solltest. Bei jedem Gebrauch des Wünschliedes bist du der Verlockung der Zaubermacht ein Stück mehr erlegen. Du wußtest, daß dein fortgesetzter Gebrauch des Zaubers falsch war, warst aber trotzdem gezwungen, ihn weiter anzuwenden. Und ich war nicht da, um dir zu erklären, was geschah. Bis zu dem Zeitpunkt, als du in den Maelmord hinabstiegst, glichst du weitgehend allen, die dem Buch gedient hatten, und du glaubtest, daß es so sein müßte. Und genau das war die Absicht des Buches. Es wollte dich ganz für sich haben. Selbst die Macht der Mordgeister war unbedeutend im Vergleich zu der deinen, denn sie waren nicht wie du mit dem Zauber geboren worden. In dir hatte der Ildatch eine Waffe von größerer Macht gefunden als alle, die ihm jemals gedient hatten — selbst als der Dämonen-Lord.«
Brin starrte ihn ungläubig an. »Dann sprach er die Wahrheit, als er sagte, er hätte auf mich gewartet — daß es Bande gäbe, die uns einten.«
»Eine verdrehte Halbwahrheit«, schränkte Allanon ein. »Du warst im Geiste dem Bild sehr nahegekommen, was er dir von dir vorgehalten hat. Er wollte dich überzeugen, daß du tatsächlich das Kind der Finsternis warst, wie du es befürchtet hast.«
»Aber das Wünschlied hätte mich dazu machen können...«
»Das Wünschlied hätte dich... zu allem machen können.«
Sie zögerte. »Und kann es immer noch?«
»Und kann es immer noch. Immer.«
Brin beobachtete, wie die verhüllte Gestalt noch näher auf sie zukam. Einen Augenblick lang glaubte sie, er würde die Arme ausstrecken und sie an sich ziehen. Doch statt dessen hob er das magere Gesicht und schaute an ihr vorüber.
»Am Hadeshorn war mir mein Tod vorhergesagt worden. Mein Dahinscheiden aus diesem Leben stand fest. Doch mit der Vernichtung des Ildatch muß auch die schwarze Magie vergehen. Das Rad der Zeit dreht sich weiter, das Zeitalter geht seinem Ende entgegen. Mein Vater ist endlich erlöst und hat die Ruhe gefunden, die ihm so lange verwehrt war, da er nicht mehr an mich oder seinen Treueschwur gegenüber den Völkern der Vier Länder gebunden ist.«
Der Kopf in der Kapuze neigte sich wieder zu ihr herab. »Und ich gehe nun ebenfalls. Nach mir werden keine Druiden mehr kommen. Doch die Hoffnung, die sie verkörperten, ruht nun in dir.«
»Allanon...«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
»Hör mich an, Talmädchen. Das Blut, das ich auf deine Stirn tupfte, und die dabei gesprochenen Worte haben das bewirkt. Du verkörperst die Hoffnung, die ich und zuvor mein Vater verkörperten. Hab keine Angst vor dem, was das bedeutet. Dir wird deshalb kein Leid geschehen. Die letzten Reste der Magie leben nun in dir und deinem Bruder, im Blut deiner Familie fort. Dort wird sie sicher und behütet ruhen. Im kommenden Zeitalter wird sie nicht benötigt werden. Die Magie wird in dieser Epoche keinen sinnvollen Platz haben. Andere Erfahrungen werden die Völker besser und wahrhaftiger anleiten.
Aber Vorsicht! Eine Zeit wird kommen, in ferner Zukunft und nach dem Leben vieler noch ungeborener Ohmsford-Generationen, da der Zauber wieder gebraucht werden wird. Wie stets wird das Rad der Zeit weiterlaufen. Und dann wird die Hoffnung, die ich auf dich übertragen habe, vonnöten sein, und die Kinder des Hauses Shannara werden gefordert sein, sie bereitzustellen. Bewahre diese Hoffnung gut auf für diese zukünftige Welt.«
»Nein, Allanon, ich will das nicht...«
Doch seine Hand fuhr energisch empor und gebot ihr, zu schweigen. »Es ist geschehen, Brin Ohmsford. Ich habe dich erwählt wie mein Vater einst mich — Kind meines Lebens.«
Schweigend und verzweifelt starrte sie zu ihm empor.
»Hab keine Angst«, flüsterte er.
Sie nickte ratlos. »Ich will es versuchen.«
Er begann, von ihr zurückzugleiten, und seine dunkle Gestalt verblaßte langsam, als das Sonnenlicht heller durch sie hindurchstrahlte. »Leg die Magie ab. Benutze sie nicht mehr, es besteht keine Notwendigkeit mehr dafür. Finde deinen Frieden.«
»Allanon!« rief sie.
Er schwebte zurück über den Mangold-Strom, und die Wasser strudelten sanft unter ihm. »Vergiß mich nicht«, bat er leise.
Er versank in den Fluß, durch die silbrigen Wasser hindurch, und war verschwunden. Der Mangold-Strom rauschte sogleich weiter.
Brin stand reglos am Ufer und starrte aufs Wasser hinaus. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich werde Euch niemals vergessen«, flüsterte sie.
Dann drehte sie sich um und ging davon.