Die Nacht sank schwarz, neblig und lautlos über Capaal hernieder. Die Berghöhen verdeckten Mond und Sterne, und nur die Öllampen der Zwerge und die Wachfeuer der Gnomen spendeten Licht in der tiefen Finsternis. Frost bildete sich auf Gestein und Sträuchern, wo die Feuchtigkeit weiß gefror, als die Temperatur weiter fiel. Eine unangenehme Stille hing über allem.
Von der Brustwehr der Zwergenfestung blickten Jair und Elb Foraker auf die Schleusen und Dämme hinab, welche die Kluft zwischen den Bergen, wo der Silberfluß strömte, schlössen.
„Die Anlage ist jetzt über fünfhundert Jahre alt“, erklärte der Zwerg, und seine Stimme klang tief und rauh vor dem nächtlichen Schweigen. „Wurde zu Zeiten von Raybur erbaut, als unser Volk noch Könige hatte. Nach dem Ende des Zweiten Krieges der Rassen.“ Jair starrte wortlos über die Zinnen in die Dunkelheit unten und folgte mit den Blicken den Umrissen des Komplexes im schwachen Licht der Fackeln und Lampen auf seinem Gestein. Es waren drei Dämme, die sich als breite Bänder gegen das Bett des Silberflusses wölbten, wo der sich in die darunter liegende Schlucht ergoß. Eine Reihe von Schleusen regulierte diesen Strom, deren Mechanik in ihrem Innern saß und durch die Dämme verborgen war, und die Festung beschützte beides. Die Burg erhob sich auf dem hohen Damm, spannte sich von einem Ende bis zum anderen und kontrollierte alle Gänge, die hineinführten. Hinter dem Staudamm dehnte sich der Cillidellan weit in die Dunkelheit. Die roten Wachfeuer des Belagerungsheeres umgürteten ihn, und doch lag er eigentümlich finster in der mondlosen Schwärze dieser Nacht. Zwischen dem Staudamm und den unteren Ebenen ergoß sich der Silberfluß auf dem Weg von den Höhen nach unten in zwei kleine Auffangbecken. Nackte Felswände flankierten beide Enden der unteren Stauebenen, und der einzige Weg hinab führte über Laufstege und durch unterirdische Passagen, die durch den Fels verliefen.
„Die Gnomen würden diese Anlage gerne in ihren Besitz bringen“, grunzte Foraker, wobei sein Arm in einer ausholenden Geste über den Komplex hinwegstrich. „Sie kontrolliert fast den ganzen Wasservorrat für die Länder westlich vom Regenbogensee. Ohne die Dämme würden zur Regenzeit Überschwemmungen auftreten, wie es vor der Errichtung der Schleusen der Fall war.“ Er schüttelte den Kopf. „In einem schlimmen Frühjahr könnte sogar Culhaven fortgespült werden.“
Jair schaute sich langsam um und war beeindruckt von der Größe der gesamten Anlage und voller Ehrfurcht angesichts der Anstrengungen, unter denen sie errichtet worden sein mußte. Foraker hatte ihm bereits anläßlich einer Besichtigung das Funktionieren der Schleusen und Dämme gezeigt und die Maschinen und die Aufgaben derer, die sie warteten, erklärt. Jair war dankbar für diese Führung.
Spinkser war damit beschäftigt, Zwergenkarten von den Gebieten nördlich vom Rabenhorn zu überarbeiten — Karten, wie der Gnom schnell auf den ersten Blick festgestellt hatte, die völlig ungenau waren. Bestrebt, die Notwendigkeit einer Rückkehr in den Lagerkeller, wo der Mwellret eingesperrt war, zu umgehen und deshalb seine eigene Erfahrung zur Verfügung zu stellen, hatte Spinkser sich einverstanden erklärt, die Karten mit Ergänzungen zu versehen, damit die kleine Gruppe in bezug auf die Gebiete, die sie bei ihrer bevorstehenden Reise durchwandern müßte, angemessen beraten wäre. Edain Elessedil hatte sich entschuldigt und war alleine unterwegs. Als Foraker dann Jair angeboten hatte, ihm etwas von den Schleusen und Dämmen zu zeigen, hatte der Talbewohner diese Einladung bereitwillig angenommen. Jair vermutete, daß diese Führung auch dazu gedacht war, ihn davon abzulenken, daß Garet Jax immer noch nicht zurückgekommen war. Aber das war schon in Ordnung so. Er wollte lieber nicht über den abwesenden Waffenmeister nachdenken.
„Die Klippen verhindern, daß die Gnomen zu den unteren Dämmen vordringen können“, sagte Foraker, und sein Blick war wieder auf die Wachfeuer in der Ferne gerichtet. „Die Festung kontrolliert alle Zugänge. Unsere Vorfahren wußten, was sie taten, als sie Capaal erbauten. Solange die Burg steht, sind Schleusen und Dämme sicher. Und solange Schleusen und Dämme sicher sind, ist es auch der Silberfluß.“
„Abgesehen davon, daß er vergif tet wurde“, bemerkte Jair.
„Ja, abgesehen davon.“ Der Zwerg nickte. „Doch es wäre schlimmer, wenn der ganze Cillidellan sich in die Schlucht ergösse. Dann würde die Verseuchung schneller voranschreiten — bis weit in den Westen.“
„Wissen die anderen Länder das nicht?“ fragte Jair ruhig.
„Doch.“
„Man sollte meinen, daß sie dann hier sein müßten, euch beizustehen.“
Foraker kicherte humorlos. „Das sollte man meinen. Aber nicht jeder ist gewillt, sich der Wahrheit zu stellen, verstehst du? Manche möchten sich vor ihr verstecken.“
„Haben irgendwelche Völker euch Hilfe zugesagt?“
Der Zwerg zuckte mit den Schultern. „Ein paar. Die Westland-Elfen schicken ein Heer unter Andor Elessedil. Doch es steht noch zwei Wochen entfernt. Callahorn verspricht Unterstützung; Helt und eine Handvoll anderer kämpfen bereits an unserer Seite. Von den Trollen haben wir noch nichts gehört — aber die Nordgebiete sind weit und die Stämme dort verstreut. Vielleicht helfen sie uns noch an den Nordgrenzen.“
Er verstummte. Jair wartete einen Augenblick, ehe er fragte: „Und das Südland?“
„Das Südland?“ Foraker schüttelte langsam den Kopf. „Das Südland hat die Konföderation und seinen Koalitionsrat. Ein Haufen Dummköpfe. Kleinliche interne Streitigkeiten und Machtkämpfe binden ihre ganzen Energien, Und das neue Südland kann die Völker anderer Länder nicht brauchen. Die menschliche Rasse kehrt auf ihren Entwicklungsstand zur Zeit des Ersten Krieges zurück. Gäbe es jetzt einen Dämonen-Lord — ich fürchte, die Föderation würde sein willfähriger Anhänger.“
Jair zuckte innerlich zusammen. Im Ersten Krieg der Rassen hatte der Dämonen-Lord die menschliche Rasse seinem Willen unterworfen und sie überredet, die anderen Rassen anzugreifen. Die Menschheit war in jenem Krieg vernichtend geschlagen worden und hatte sich noch immer nicht von der Demütigung und den bitteren Verlusten erholt. Mit ihrer isolationistischen Politik und Praxis hatte die Föderation sich den größten Teil des Südlandes und der Menschheit Untertan gemacht und sich die Rolle ihres Sprachrohrs angemaßt.
„Callahorn steht euch immer noch bei“, erklärte Jair schnell. „Die Grenzbewohner sind ein anderer Menschenschlag.“
„Nur die Grenzbewohner werden vielleicht nicht genügen.“ Foraker schnaubte. „Nicht einmal die ganze Legion, du hast draußen die Gesamtheit der Stämme gesehen. Vereint stellen sie eine Macht dar, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Und sie verfügen über die Hilfe dieser schwarzen Wesen, unter deren Befehl sie stehen...“ Er schüttelte finster den Kopf.
Jair zog die Stirn kraus. „Aber wir haben einen eigenen Verbündeten, der den Mordgeistern widerstehen kann. Wir haben Allanon.“
„Ja, Allanon“, murmelte Foraker und nickte dann wieder mit dem Kopf.
„Und Brin“, fügte Jair hinzu. „Wenn sie erst einmal den Ildatch gefunden haben...“
Er verstummte, als die Mahnung des Königs vom Silberfluß ihm wie ein bedrohliches Flüstern in den Sinn kam. Blätter im Wind, hatte er gesagt. Deine Schwester und der Druide. Sie werden beide verloren sein.
Er verdrängte den Gedanken. Es wird nicht soweit kommen, gelobte er. Ich werde sie vorher finden. Ich werde sie finden. Ich werde den Silberstaub in den Himmelsbrunnen schütten, um die Wasser zu reinigen, den Sehkristall hinterherwerfen und dann... Er machte eine unsichere Pause. Was dann? Er wußte es nicht. Irgend etwas. Er würde etwas unternehmen, das bewirkte, daß die Prophezeiung des alten Mannes nicht Wirklichkeit würde.
Aber da war zuerst die Reise nach Norden, rief er sich düster ins Gedächtnis. Und vorher mußte Garet Jax zurückkommen...
Foraker ging wieder an den Zinnen entlang, hielt das bärtige Gesicht auf den Boden gerichtet und hatte die Hände in die Taschen seines Reisemantels gestopft, den er um seinen kräftigen Körper trug. Jair holte ihn ein, als er eine Reihe breiter Steinstufen auf eine tieferliegende Rampe hinabstieg.
„Könnt Ihr mir etwas von Garet Jax erzählen?“ bat der Talbewohner plötzlich.
Der Zwerg hielt seinen Kopf gesenkt. „Was willst du denn wissen?“
Jair wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht. Irgend etwas.“
„Irgend etwas?“ grunzte der andere. „Ein bißchen vage, findest du nicht? In welcher Art soll dieses Etwas denn sein?“
Jair dachte einen Augenblick darüber nach. „Etwas, das kein anderer weiß. Etwas über ihn persönlich.“
Foraker trat an eine Zinne mit Blick über die dunkle Fläche des Cillidellan und stützte die Ellbogen auf das Gestein, um in die Nacht hinauszustarren. Jair blieb still neben ihm stehen und wartete.
„Du möchtest ihn verstehen, nicht wahr?“ fragte Foraker schließlich.
Der Talbewohner nickte langsam. „Zu mindest ein bißchen.“
Der Zwerg schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht recht, ob das möglich ist, Ohmsford. Es ist, als wollte man einen... einen Falken verstehen. Du siehst ihn, siehst, was er darstellt, was er macht. Du bewunderst ihn, stellst dir Fragen über sein Wesen. Aber ihn jemals verstehen wirst du nicht können — nicht wirklich. Man muß er selbst sein, um ihn zu begreifen.“
„Ihr scheint ihn zu verstehen“, versuchte Jair ihm weiterzuhelfen.
Forakers grimmiges Antlitz wandte sich ihm ruckartig zu. „Glaubst du das wirklich, Ohmsford? Daß ich ihn verstehe?“ Er schüttelte noch einmal den Kopf.
„Nicht besser, als ich den Falken verstehe. Vielleicht sogar weniger. Ich kenne ihn, weil ich eine Zeitlang mit ihm gelebt, mit ihm gekämpft, mit ihm Männer ausgebildet habe. In dieser Hinsicht kenne ich ihn. Ich weiß auch, was er ist. Aber das ist nicht einmal ein Körnchen der Wahrheit, wenn es darum geht, ihn zu begreifen.“
Er zauderte. „Garet Jax stellt so etwas wie eine andere Lebensform dar, verglichen mit dir, mir oder jedem anderen, den du hier nennen möchtest. Eine besondere und einzigartige Lebensform, weil er das einzige Exemplar davon ist.“ Seine Augenbrauen zuckten hoch. „Auf seine Art ist er ein Zauberer. Er vermag Dinge, die kein anderer Mensch sich jemals zugetraut, ja, die ein anderer nicht einmal versucht hätte. Er überlebt Situationen, die jeden anderen umbringen würden — und er überlebt sie immer wieder. Wie beim Falken läßt sein Instinkt ihn in Höhen steigen, wo kein anderer ihn zu fassen bekommt. Ein Wesen für sich. Ihn verstehen? Nein, das würde ich mir nicht anmaßen.“
Jair schwieg einen Augenblick. „Und doch kam er um Euretwillen ins Ostland“, meinte er schließlich. „Zumindest führt er das als Grund an. Also muß er Euch gegenüber so etwas wie Freundschaft empfinden. Ihr müßtet euch doch irgendwie ähneln.“
„Vielleicht.“ Der andere zuckte mit den Schultern. „Aber das bedeutet nicht, daß ich ihn begreife. Außerdem — was er tut, tut er aus Gründen, die ganz allein bei ihm liegen und nicht notwendigerweise mit denen übereinstimmen, die er anführt — das weiß ich mit Sicherheit. Er ist nicht nur meinetwegen hier, Ohmsford. Er hat auch noch andere Beweggründe.“ Er tätschelte Jair auf die Schulter. „Ich denke, er ist ebenso sehr um deinet- wie um meinetwillen hier. Aber warum, weiß ich nicht. Vielleicht weißt du es.“
Der Talbewohner dachte nach und zögerte. „Er sagte, er wollte mein Beschützer sein, weil der König vom Silberfluß ihm das verheißen hatte.“ Er verstummte.
„Gut und schön.“ Foraker nickte. „Aber verstehst du ihn aus dieser Kenntnis heraus einen Deut besser? Ich nicht.“ Er hielt inne und ließ den Blick wieder über den See schweifen. „Nein, er behält seine Gründe für sich, und er würde sie mir nicht verraten.“
Jair hörte ihn kaum. Ihm war etwas eingefallen, und ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er drehte sich schnell um. Er war gedanklich wie gelähmt. Gab es Gründe, die Garet Jax Foraker nicht, ihm selbst dagegen wohl anvertrauen würde? Hatte der Waffenmeister nicht genau das in jener zweiten finsteren, kalten Regennacht hinter Culhaven getan, als die beiden hinter der Kammlinie zusammengehockt hatten? Die Erinnerung erwachte langsam zum Leben. Ich möchte, daß du das begreifst... Das hatte Garet Jax zu ihm gesagt. Der Traum versprach mir eine wichtigere Probe meiner Fähigkeiten als alles bisher Dagewesene. Eine Chance zu prüfen, ob ich wirklich der Beste bin. Was könnte ich sonst tun... ?
Jair sog tief die kalte Nachduft ein. Vielleicht verstand er Garet Jax besser, als er glaubte. Vielleicht verstand er ihn so gut, wie ein Mensch ihn nur verstehen konnte.
„Da ist etwas, das nicht viele wissen.“ Foraker drehte sich plötzlich um. Jair verdrängte seine Grübeleien. „Du sagtest, er wäre in den Schwarzen Eichen auf dich gestoßen. Ich frage mich, was er dort überhaupt suchte? Schließlich kam er von Osten aus Callahorn.“
Jair nickte langsam. „Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. Ich vermute, die Schwarzen Eichen liegen ziemlich weitab vom Weg vom Grenzgebiet in den Anar.“ Er zögerte. „Was hat er dort gemacht?“
Foraker lächelte schwach. „Mach dir klar, ich stelle nur Mutmaßungen an. Er hat mir nicht mehr verraten als dir. Aber die Seenplatte im Norden zwischen Leah und der Tiefebene von Clete war seine Heimat. Dort ist er geboren und aufgewachsen. Früher, vor langer Zeit, hatte er dort Familie. Zumindest ein paar Angehörige. Hat lange nicht mehr darüber gesprochen, aber vielleicht ist dort noch jemand am Leben. Oder er sucht nur die Erinnerungen.“
„Familie“, wiederholte Jair leise und schüttelte dann den Kopf. „Hat er Euch berichtet, um wen es sich dabei handelte?“
Der Zwerg stieß sich von der Brustwehr ab. „Nein. Hat es nur einmal erwähnt, das war alles. Aber jetzt weißt du etwas von diesem Mann, das sonst niemand weiß — außer mir natürlich. Hilft dir das, ihn besser zu verstehen?“
Jair lächelte. „Wahrscheinlich nicht.“
Foraker wandte sich um, und sie gingen gemeinsam an den Zinnen entlang zurück. „Habe auch nicht damit gerechnet“, murmelte der Zwerg und zog seinen Mantel um sich, als der Wind ihnen entgegenpustete, sobald sie aus dem Schutz der Mauer traten. „Komm wieder mit mir nach drinnen, Ohmsford, dann mache ich dir einen Becher heißes Bier. Wir werden gemeinsam warten, daß unser Falke zurückkehrt.“
Foraker klopfte ihm mit seiner Hand liebevoll auf die Schulter, und er lief rasch hinterdrein.
Die Nacht verstrich mit öden, sich in die Länge ziehenden Stunden und umwölkt von düsteren Vorahnungen. Nebel kroch auf Katzenpfoten von den Höhen herab, verdichtete sich, legte sich schwer über Schleusen und Dämme und hüllte die Gnomen-Heere in Schleier feuchten, klebrigen Dunstes, bis der helle Schein der Wachfeuer nicht mehr zu sehen war.
Jair Ohmsford, der immer noch auf die Rückkehr von Garet Jax wartete, schlief um Mitternacht ein. Er saß zusammengesackt in einem hochlehnigen Kapitänssessel in der Halle eines Wachturms, während Foraker, Spinkser und Edain Elessedil sich leise über ihren Bechern heißen Biers unterhielten; eine einzige Kerze kämpfte gegen die wachsende Dunkelheit an, und er döste einfach ein. Eine Minute lang war er aufgewacht, lauschte in erschöpfter Gelöstheit dem Summen ihrer Stimmen und hielt die Augen gegen das Licht geschlossen, in der nächsten Minute schlief er bereits wieder.
Es dämmerte schon fast, als der Elfenprinz ihn wachrüttelte.
„Jair. Er ist wieder da.“
Der Talbewohner rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich hoch. Kaum sichtbar im Schummerlicht der zu Ende gehenden Nacht glühten im Kamin auf der anderen Seite des Zimmers sanft die Holzkohlen eines ersterbenden Feuers. Draußen prasselte der Regen ans Mauerwerk.
Jair blinzelte. Er ist wieder da. Garet Jax.
Er stand hastig auf. Bis auf seine Stiefel war er voll bekleidet, und die schnappte er nun schnell und zog sie an.
„Es ist noch keine halbe Stunde her, daß er zurückkam.“ Der Elf stand neben ihm, und seine Stimme klang gedämpft, als befürchtete er, einen anderen im Raum zu wecken. „Helt war natürlich bei ihm. Sie haben hinter den Tunneln einen Weg nach Norden ausgekundschaftet.“
Er machte eine Pause. „Aber es ist noch etwas anderes geschehen, Jair.“ Der Talbewohner blickte gespannt hoch. Kurz nach Mitternacht begann es zu regnen, und damit verzog sich auch der Nebel. Als es kurz vor Sonnenaufgang wieder hell wurde, waren auch die Gnomen wieder da — alle. Sie hatten sich dicht am Ufer des Cillidellan von einem Ende des Damms bis zum anderen dutzendweise zusammengefunden und stehen einfach nur da und warten ab.
Jair war auf den Beinen. „Was haben sie vor?“
Edain Elessedil schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Keiner scheint es zu wissen. Doch sie stehen nun seit Stunden da draußen. Die Zwerge sind alle verteidigungsbereit und oben auf der Brustwehr. Komm mit und sieh es dir selbst an.“
Sie liefen aus dem Turmzimmer das Labyrinth von Korridoren hinab, bis sie durch eine Tür in den Innenhof auf dem Mittelstück des Damms gelangten. Ein eisiger Wind fegte über den Cillidellan, und der Regen prickelte auf ihren Gesichtern, als sie weitereilten. Noch war es Nacht, das Licht der Vordämmerung war zwischen den Berggipfeln im Osten als schwacher, grauer Dunst zu erkennen. Die Zwerge hatten an den Wällen von Damm und Festung Aufstellung genommen. Umhänge und Kapuzen schützten sie gegen das Wetter, die Waffen hielten sie gezückt in Händen. Ganz Capaal war in tiefstes Schweigen gehüllt.
Als sie den Festungsteil erreichten, der das Nordende des Staudammes schützte, führte Edain Jair eine Reihe von Steinstufen hinauf und über Zinnen zu einem Wachturm hoch über dem Gebäudekomplex. Hier schien der Wind stärker zu wehen, und der Regen fiel kräftiger durch die graue Nacht.
Als sie vor einer eisenbeschlagenen Tür anhielten, die Zugang zum Turm gewährte, schob sich eine Gruppe Zwerge an ihnen vorbei und machte sich an den Abstieg der daneben liegenden Treppe. Sie wurden befehligt von einem grimmig wirkenden Zwerg mit leuchtend rotem Haar und Bart, der eine Rüstung aus Leder und ein Kettenhemd trug.
„Radhomm, der Befehlshaber der Zwerge!“ flüsterte Edain Jair zu.
Eilig drängten sie sich durch die Eichentür in den darunterliegenden Turm, und sperrten das Wetter hinter sich aus, sobald sie drinnen standen. Schwacher Lampenschein durchdrang trübe die Düsternis im Innern, wo eine Handvoll Gestalten in Umhängen vor ihnen aus dem Nichts aufzutauchen schien.
„Tz, der würde immer schlafen, wenn man ihn ließe“, hörte er Spinkser murren.
„Gut, dich wiederzusehen, Jair Ohmsford“, begrüßte ihn eine tiefe Stimme, und Helts massige Hand streckte sich ihm entgegen, um die seine zu ergreifen.
Dann stand Garet Jax vor ihm, so schwarz wie die Nacht um ihn her und so unnachgiebig und unveränderlich wie das Gestein der Berge. Sie sahen einander an, und es fiel kein Wort zwischen ihnen. Das magere Gesicht des Waffenmeisters war angespannt, und er umfaßte Jairs Schultern sanft mit beiden Händen; in seinen Augen strahlte eine eigentümliche, ungewohnte Herzlichkeit. Sie war nur für eine kleine Sekunde zu sehen; in der nächsten war sie schon wieder verschwunden. Die Hände sanken herab, und Garet Jax drehte sich wieder in die Dunkelheit um.
Hinter ihnen wurde die Tür aufgestoßen, und ein völlig vom Regen durchnäßter Zwerg stürzte auf den kleinen Holztisch zu, wo Elb Foraker sich über einen Stapel Karten beugte. Sie unterhielten sich leise und gedämpft; dann war der Melder so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
Foraker trat sogleich zu Jair, und die anderen Mitglieder der Gruppe versammelten sich um sie. „Ohmsford“, sagte er ruhig, „man hat mir gerade gemeldet, daß der Mwellret entwichen ist.“
Betroffene Stille trat ein. „Wie konnte das passieren?“ knurrte Spinkser wütend und schob sein derbes Gesicht ins Licht.
„Durch einen Gestaltwandel.“ Foraker wandte kein Auge von Jair. „Er benutzte ihn, sich in einen schmalen Lüftungsschacht zu zwängen, der die unteren Stockwerke versorgt. Es ist irgendwann im Lauf der Nacht geschehen. Niemand weiß, wo er sich jetzt aufhalten mag.“
Jair wurde es eiskalt. Es bestand kein Zweifel daran, was der Zwerg ihm indirekt mit dieser unerfreulichen Neuigkeit mitteilen wollte. Selbst im Gefängnis des Lagerkellers hatte der Mwellret den Elfenzauber gespürt und Jair zwingen können, ihn zu offenbaren. Wenn er nun frei wäre...
„Er wäre jederzeit in der Lage gewesen, sich zu befreien“, meinte Edain Elessedil. „Es muß einen Grund geben, daß er es gerade jetzt getan hat.“
Und ich könnte dieser Grund sein, stimmte Jair ihm insgeheim zu. Foraker ist sich dessen ebenfalls bewußt. Deshalb hat er solchen Wert darauf gelegt, es mir als erstem mitzuteilen.
Garet Jax tauchte wieder aus der Finsternis auf, plötzlich und entschlossen. „Wir brechen sofort auf“, riet er. „Wir haben schon zuviel Zeit verloren. Unsere Mission liegt im Norden. Was immer hier geschehen wird, wir brauchen nicht daran teilzuhaben. Jetzt, wo sich alle Gnomen um den See versammelt haben, müßte es ziemlich einfach sein...“
OOOOOOMMMMMMMMM!
Erschreckt schauten die Mitglieder der kleinen Gruppe sich rasch um. Ein gewaltiger Klageschrei drang tief und qualvoll an ihre Ohren, um dann in der Stille der Dämmerung zu verhallen. Er schwoll an, als ob Tausende von Stimmen ihm Leben verliehen und stieg trotz Regen und Wind hinauf in die Berge um Capaal.
„Gütige Geister!“ schrie Spinkser, dessen derbes, gelbes Gesicht sich verzerrte, als er diesen Schrei erkannte.
Alle sechs stürzten aus der Tür und scharten sich innerhalb von Sekunden um die Zinnen draußen, wo Wind und Regen ihnen entgegenpeitschten, als sie über die Wasser des Cillidellan nach Norden blickten.
OOOOOMMMMMM!
Das Klagen wurde schriller, zu einem langgezogenen, anhaltenden Heulen, das durch die Berghöhen hallte. Rund um die Uferlinie des Cillidellan stimmten Gnomen in den finsteren Gesang ein, und ihre Stimmen vermischten sich zu einer einzigen, als sie sich dem trüben See zuwandten und die Luft mit dem unheilvollen Geräusch erfüllten.
Unten tauchte Radhomm auf der tieferliegenden Brustwehr auf, brüllte Befehle, und Melder liefen nach allen Seiten davon, die er zu seinen Hauptmännern beorderte. Es herrschte hektische Aktivität, als die Garnison sich bereitmachte, allem Bevorstehenden entgegenzutreten. Jairs Hand fuhr zu seinem Hemd, um sich zu vergewissern, daß Silberstaub und Sehkristall noch an ihrem Platz waren.
Garet Jax packte Spinkser am Mantel und zog ihn zu sich heran. „Was geht hier vor?“ In den Augen des Gnomen stand unmißverständliche Angst. „Eine Anrufung... eine Anrufung an die schwarze Magie! Ich habe es schon einmal miterlebt — auf Graumark!“ Der Gnom wand sich in der eisernen Umklammerung. „Doch es bedarf der Nähe der Wandler, Waffenmeister! Sie müssen mitwirken!“
„Garet!“ Foraker riß den anderen grob herum und deutete zum nahen Cillidellanufer, das keine hundert Meter von der Wölbung des Staudamms begann. Der Waffenmeister ließ Spinkser los. Aller Augen wanderten zu der Stelle, auf die der Zwerg deutete.
Zwischen den am Ufer versammelten Gnomen hervor traten drei schwarz verhüllte Gestalten, die sich groß und deutlich von der aufsteigenden Dämmerung abzeichneten.
„Mordgeister!“ flüsterte Spinkser mit belegter Stimme. „Die Wandler sind hier.“