19

Am Mittag des folgenden Tages wachte Jair wieder auf. Vielleicht wäre er selbst dann noch nicht zu sich gekommen, wären da nicht Hände gewesen, die ihn nicht allzu sanft aus dem Schlummer schüttelten, und eine rauhe Stimme, welche an seinem Ohr flüsterte: „Wach auf, Junge. Du hast lange genug geschlafen! Komm schon, wach auf!“

Widerstrebend bewegte er sich in den Decken, in die er gehüllt lag, rollte sich auf den Rücken und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Grauer Sonnenschein sickerte durch ein schmales Fenster über seinem Kopf, so daß er in die Helligkeit blinzeln mußte.

„Nun mach schon, der Tag ist bald vorbei! Und dank dir habe ich ihn ganz hier eingesperrt zugebracht!“

Jairs Augen suchten den Sprecher und fanden eine stämmige, wohlvertraute Gestalt neben seinem Bett stehen. „Spinkser?“ flüsterte er ungläubig.

„Na, wer denn sonst“, gab der andere knapp zu.

Jair zwinkerte. „Spinkser?“

Schlagartig erinnerte er sich mit einer Flut von Bildern an die Ereignisse der vorangegangenen Nacht: Die Flucht vor den Gnomen in den Bergen um Capaal, wie die kleine Gruppe auseinandergerissen wurde, der lange Fall mit Garet Jax in den Cillidellan und ihre Bergung aus dem Wasser durch die Zwerge. Du bist jetzt in Sicherheit, hatte der Waffenmeister ihm zugeflüstert. Er blinzelte noch einmal. Aber Spinkser und die anderen...

„Spinkser!“ rief er, als er endlich voll zu sich kam. Hastig setzte er sich auf. „Spinkser, du lebst!“

„Natürlich lebe ich. Sehe ich vielleicht wie ein Geist aus?“

„Aber wie hast du...?“ Jair ließ die Frage unvollendet im Raum stehen und packte ängstlich nach dem Arm des Gnomen. „Was ist mit den anderen? Was ist aus ihnen geworden? Sind sie wohlauf?“

„Immer mit der Ruhe, ja?“ Der Gnom machte gereizt seinen Arm los. „Sie sind alle wohlauf und hier, also mach dir keine Sorgen mehr. Der Elf hat einen Pfeil in die Schulter abbekommen, aber er wird es überleben. Der einzige, der im Augenblick in Gefahr ist, bin ich. Und zwar weil ich mit dir hier eingeschlossen bin und mich zu Tode langweile. Wirst du vielleicht endlich aus diesem Bett steigen, damit wir hinaus können?“

Jair hörte gar nicht alles, was der Gnom ihm mitgeteilt hatte. Alle sind wohlauf, wiederholte er immer wieder. Alle haben es geschafft. Wir haben keinen einzigen verloren, obgleich es sehr wahrscheinlich erschien. Er atmete vor Erleichterung tief auf. Plötzlich kam ihm wieder in den Sinn, was der König vom Silberfluß prophezeit hatte. Einen Hauch Zauberkraft für alle, die dich begleiten, hatte der alte Mann gesagt. Körperkraft, die den anderen verliehen wurde. Vielleicht hatte dieser Hauch Zauberkraft, diese Stärke dazu geführt, daß alle die Nacht lebend überstanden hatten.

„Nun steh doch schon auf, los, aufstehen!“ Spinkser hüpfte vor Ungeduld auf und ab. „Was soll das, nur so herumzusitzen?“

Jair schwenkte die Beine aus dem Bett und schaute sich in dem Raum um, wo er sich befand. Es war eine schmale Steinkammer, die spärlich mit Bett, Tisch und Stühlen möbliert war, und die Wände waren kahl bis auf einen breiten Wappenwandbehang, der von Haltern an der schrägen Decke hing. Ein zweites Fenster war am anderen Ende der Wand, an der Jairs Bett stand, zu sehen, und eine einzelne Holztür befand sich geschlossen ihm gegenüber. In einer Ecke barg ein kleiner Kamin mit Eisengitter einen Stapel brennender Holzscheite.

Er schaute Spinkser an. „Wo sind wir?“

Spinkser warf ihm einen Blick zu, als wäre er ein völliger Idiot. „Na, was glaubst du denn? Wir sind in der Zwergenfestung!“

Wo sonst? dachte Jair wehmütig. Langsam stand er auf und prüfte noch, wie er bei Kräften war, als er sich streckte und neugierig aus dem Fenster hinter sich schaute. Durch den schmalen, vergitterten Schlitz sah er, wie die trübgraue Fläche des Cillidellan sich in einen dick nebel- und wolkenverhangenen Tag dehnte. Weit entfernt zwischen den dahinziehenden Schwaden konnte er das Flackern von Wachfeuern am Seeufer erkennen.

Gnomen-Wachfeuer.

Dann fiel ihm auf, wie still alles war. Er befand sich in der Festung Capaal, der Zwergenzitadelle, die über die Schleusen und Dämme wachte, welche den Strom des Silberflusses nach Westen regulierten, jener Burg, die einen Tag zuvor unter dem schweren Ansturm der Gnomen-Heere gestanden hatte. Wo waren diese Heere nun? Weshalb wurde Capaal nicht mehr angegriffen?

„Spinkser, was ist aus der Belageru ng geworden?“ fragte er ruhig. „Warum ist alles so still?“

„Woher soll ich das wissen?“ keifte der andere. „Mir erzählt doch keiner etwas!“

„Was geht denn da draußen vor sich? Was hast du beobachtet?“

Spinkser setzte sich mit einem Ruck auf. „Du hast nicht ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe, wie? Was ist los — taub geworden oder was? Ich halte mich hier in diesem Raum mit dir auf, seit sie euch gestern abend aus dem See gefischt haben! Eingesperrt wie ein gewöhnlicher Dieb! Habe dem verdammten Grenzbewohner da draußen das Leben gerettet, und wie belohnt man meine Mühe? Ich werde mit dir eingesperrt!“

„Nun, ich...“

„Ein Gnom bleibt ein Gnom, denken die! Trau bloß keinem von uns! Also sitze ich hier, spiele die Glucke für dich, während du hier in aller Gemütsruhe schlummerst. Den ganzen Tag habe ich darauf gewartet, daß du dich endlich entschließt aufzuwachen. Und wahrscheinlich würdest du immer noch schlafen, wenn ich nicht endgültig die Geduld verloren hätte!“

Jair wich zurück. „Du hättest mich doch früher wecken können...“

„Wie denn?“ platzte der andere heraus. „Woher sollte ich denn wissen, was dir fehlte? Hätte ja alles mögliche sein können! Ich mußte dich doch sicherheitshalber schlafen lassen. Hätte ich vielleicht ein Risiko eingehen sollen? Dieser schwarze Teufel von Waffenmeister hätte mir das Fell über die Ohren gezogen!“

Jair mußte unwillkürlich grinsen. „Nun beruhige dich doch, ja?“

Der Gnom biß die Zähne zusammen. „Ich werde mich beruhigen, sobald du dich aus dem Bett und in deine Kleider bequemst. Hinter der Tür steht ein Wachposten und paßt auf mi ch auf. Aber jetzt, wo du wach bist, können wir ihn vielleicht überreden, uns beide hinauszulassen! Dann kannst du dich auf deine eigenen Kosten amüsieren! Jetzt zieh dich an!“

Mit einem Achselzucken streifte Jair das Nachtzeug ab, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und begann, seine eigenen Sachen anzuziehen. Er war überrascht, aber erfreut, Spinkser wieder so redselig vorzufinden, auch wenn seine Gesprächigkeit sich zumindest im Moment auf eine Schimpfkanonade gegen den Talbewohner beschränkte. Spinkser schien wieder mehr der alte zu sein, eher wieder der zungenfertige Bursche aus der ersten Nacht, als Jair im Hochland sein Gefangener war - der Bursche, den Jair liebgewonnen hatte. Er war sich nicht ganz sicher, wieso der Gnom sich gerade jetzt entschlossen hatte, aus seinem Schneckenhaus herauszukommen, aber er war erfreut, den alten Spinkser wieder bei sich zu haben.

„Tut mir leid, daß du mit mir hier eingesperrt warst“, getraute er sich nach einer Weile zu sagen.

„Hoffentlich“, brummelte der andere. „Weißt du, sie haben mich hier hereingesteckt, damit ich mich um dich kümmere. Die müssen wohl glauben, ich gäbe ein gutes Kindermädchen ab oder so was.“

Jair grinste. „Ich würde meinen, damit haben sie ja recht.“

Der Ausdruck, der darauf über das Gesicht des Gnomen strich, ließ Jair sich schnell mit versteinerter Miene abwenden. Er kicherte innerlich, und machte sich gerade daran, seine Stiefel heranzuholen, als ihm plötzlich der Sehkristall und der Silberstaub einfielen. Er hatte beim Anziehen keinen der beiden Gegenstände gesehen. Er hatte sie auch nicht in seinen Taschen gefühlt. Das Grinsen, das er sich gestattet hatte, verschwand sogleich aus seinem Gesicht. Er tastete seine Kleider ab. Nichts! Hektisch klopfte er sein Bettzeug, die Laken und alles andere, was herumlag, ab. Die Kristallkugel und der Silberstaub waren fort. Dann dachte er an die vergangene Nacht und den langen Sprung in den Cillidellan zurück. Hatte er sie im See verloren?

„Suchst du etwas?“

Jair erstarrte. Spinkser fragte ihn, und aus seiner Stimme klang geheuchelte Besorgnis. Jair drehte sich um. „Spinkser, was hast du mit...?“

„Ich?“ fiel der andere ihm schnell ins Wort, und gespielte Unschuld zeichnete sein listiges Gesicht. „Dein hingebungsvolles Kindermädchen?“

Jair war wütend. „Wo sind sie, Spinkser? Wo hast du sie hingesteckt?“

Nun war der Gnom an der Reihe zu grinsen. „So vergnüglich das ist — und glaub mir, es ist vergnüglich —, ich habe Besseres zu tun. Falls du den Beutel und den Kristall suchst, die hat der Waffenmeister. Hat sie vergangene Nacht an sich genommen, als sie dich hier hereinbrachten und auszogen. Wollte sie mir natürlich nicht anvertrauen.“

Selbstzufrieden verschränkte er die Arme vor der Brust. „Aber lassen wir das nun. Oder benötigst du auch noch Hilfe beim Ankleiden?“

Jair errötete, zog sich fertig an, trat dann wortlos an die Holztür und klopfte. Als sie geöffnet wurde, erklärte er dem wachestehenden Zwerg, daß sie gerne den Raum verlassen würden. Der Zwerg zog die Stirn kraus, wies sie an, zu warten, warf Spinkser einen mißtrauischen Blick zu und zog die Tür wieder entschieden ins Schloß.

Mit wachsender Neugier, warum draußen nicht gekämpft wurde, und Ungeduld in bezug auf die allgemeine Entwicklung, mußten sie eine geschlagene Stunde warten, ehe die Tür zu dem Zimmer sich ein zweites Mal auftat und der Wachsoldat ihnen winkte, ihm zu folgen. Sie traten schnell aus dem Zimmer, bogen einen fensterlosen Gang hinab, der an Dutzenden von Türen vorüberführte, die mit der identisch waren, die sie gerade hinter sich gelassen hatten, stiegen eine Reihe von Treppen hinauf und gelangten auf eine Brustwehr mit Ausblick auf die trüben Wasser des Cillidellan. Vom See her wehte ihnen Wind und leichte Gischt in die Gesichter, und die Mittagsluft war kalt und beißend. Auch hier herrschte ein stiller, erwartungsvoller Tag, eingehüllt in Nebel und tiefhängende Wolken, die zwischen den Gipfeln dahinzogen, in deren Schutz Schleusen und Dämme lagen. Zwergenposten patrouillierten auf den Mauern und ließen wachsame Blicke durch den Dunst schweifen. Von den Gnomen-Heeren war bis auf das en tfernte Flackern der Wachfeuer als rötliche Lichtflecken inmitten des Grau nichts zu erkennen.

Der Zwerg führte sie von der Brüstung hinab und bog auf einen weiten Innenhof, der die Mitte des hohen Damms überspannte, der den Cillidellan staute. Nördlich und südlich ihres Weges ragten die Türme und Wälle der Zwergenfestung in einen bleiernen Himmel und verloren sich im Nebel. Der Tag verlieh der Zitadelle ein unheimliches, gespenstisches Aussehen und hüllte sie in Zwielicht und Dunst, daß sie fast wie die Ausgeburt eines Traums erschien, die im Augenblick des Erwachens zu verschwinden droht. Hier waren wenige Zwerge zu sehen, der weite Hof lag einsam und verlassen. In regelmäßigen Abständen führten Treppen in den Fels hinab — schwarze Tunnel, die nach Jairs Vermutungen zu den inneren Mechanismen der Schleusen führten.

Sie hatten den Hof fast überquert, als ein Ruf sie herumfahren ließ und Edain Elessedil auf sie zugerannt kam, um sie zu begrüßen. Mit breitem Grinsen und dick verbundenem Arm und Schulter trat er sogleich mit ausgestreckter Hand auf Jair zu.

„So sind wir letztendlich doch wieder gesund und munter beisammen, Jair Ohmsford!“ Er legte seinen gesunden Arm um den anderen, als sie sich umdrehten, ihrem schweigsamen Führer zu folgen. „Ich hoffe, es geht dir jetzt besser?“

„Viel besser.“ Jair erwiderte das Lächeln. „Und was macht dein Arm?“

„Nur ein kleiner Kratzer. Ein bißchen steif, mehr nicht. Aber was für eine Nacht! Ein Glück, daß wir alle gut durchgekommen sind. Und der hier!“ Er deutete auf Spinkser, der einen Schritt hinter ihnen hertrottete. „Sein Entkommen war eine Art von Wunder.

Hat er es dir erzählt?“

Jair schüttelte den Kopf, und sogleich informierte ihn Edain Elessedil über alles, was Spinkser und Helt bei ihrer haarsträubenden Durchquerung des Gnomenlagers in der vorangegangenen Nacht widerfahren war. Jair lauschte mit wachsender Verwunderung und drehte sich mehr als einmal nach dem Gnomen um. Hinter einer Maske bemühter Gleichgültigkeit wirkte Spinkser ein wenig verlegen angesichts all der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit.

„Es war der einfachste Ausweg, das ist alles“, erklärte Spinkser barsch, als der überschwengliche Elf seine Erzählung zu Ende gebracht hatte. Jair war klug genug, die Sache nicht weiter aufzubauschen.

Ihr Führer geleitete sie die Treppe zum nördlichen Wachturm hinauf und dann durch zwei Doppeltüren in einen Innenhof voller Pflanzen und Bäume, die in einem künstlich angelegten Beet aus schwarzer Erde unter einem Glasdach unterm freien Himmel gediehen. Selbst hier im Hochgebirge bewahrten die Zwerge etwas von ihrer Heimat, dachte Jair voller Bewunderung.

Hinter dem Garten dehnte sich eine Terrasse, auf der Tische und Bänke standen.

„Wartet hier!“ befahl der Zwerg und ließ sie stehen.

Als er fort war, wandte Jair sich wieder an Edain. „Warum wird heute nicht gekämpft, Elfenprinz? Was ist mit den Gnomen-Heeren?“

Edain Elessedil wiegte den Kopf hin und her. „Keiner weiß so recht, was geschehen ist. Die Schleusen und Dämme werden nun seit fast einer Woche belagert. Jeden Tag stürmten die Gnomen gegen beide freiliegenden Seiten der Festung an. Doch heute ist kein Angriff erfolgt. Die Gnomen versammeln sich an ihren Belagerungslinien und beobachten uns — mehr nicht. Es sieht aus, als warteten sie auf etwas.“

„Das gefällt mir gar nicht“, brummelte Spinkser.

„Den Zwergen auch nicht“, antwortete Edain gelassen. „Sie haben Kuriere nach Culhaven geschickt, und Späher schleichen durch die unterirdischen Gänge in den Rück en der Gnomen-Armee, um sich umzusehen.“ Er zögerte und schaute dann Jair an. „Garet Jax ist auch da draußen.“

Jair erschrak. „Tatsächlich? Warum? Wohin ist er gegangen?“

„Ich weiß es nicht.“ Der Elfenprinz schüttelte langsam den Kopf. „Er hat mir nichts gesagt. Ich glaube nicht, daß er uns verlassen hat. Ich denke, er schaut sich nur um. Er hat Helt mitgenommen .“

„Dann sind sie selbst auf Erkundungsgang.“ Spinkser zog die Stirn kraus. „Dazu wäre er imstande.“

„Wer weiß?“ Der Elf versuchte ein rasches Lächeln. „Der Waffenmeister behält seine Absichten für sich, Spinkser.“

„Den treiben undurchschaubare Beweggründe und undurchschaubare Absichten“, murmelte der Gnom vor sich hin.

Sie blieben einige Augenblicke schweigsam stehen, blickten einander nicht an und hingen ein jeder ihren eigenen Mutmaßungen über Garet Jaxens Unternehmungen nach. Dann fiel Jair ein, daß Spinkser ihm erzählt hatte, der Waffenmeister befände sich nun im Besitz des Sehkristalls und des Silberstaubs. Das bedeutete, wenn Garet Jax etwas zustieße, wären die Zauberkräfte des Königs vom Silberfluß verloren. Und damit auch Jairs einzige Chance, Brin zu helfen.

Sie fuhren herum, als hinter ihnen das Geräusch einer sich öffnenden Tür zu vernehmen war. Von außerhalb der Festung erschien Foraker. Er kam schnell auf sie zu und begrüßte jeden mit Handschlag.

„Ausgeschlafen, Ohmsford?“ fragte er barsch, und Jair nickte. „Gut. Ich habe darum gebeten, daß man uns das Essen hier auf der Terrasse serviert, warum suchen wir uns also nicht einen Platz aus und setzen uns?“

Er deutete auf den nächsten Tisch, und die anderen drei gesellten sich zu ihm. Die Bäume und Sträucher des Gartens ließen das graue Nachmittagslicht noch dunkler wirken, so daß Kerzen entzündet wurden, um die Düsternis zu vertreiben. Augenblicke später wurde eine Mahlzeit, bestehend aus Rindfleisch, Käse, Brot, Suppe und Bier gebracht, und sie begannen zu essen. Jair stellte überrascht fest, wie hungrig er war.

Als sie fertig waren, schob Foraker sich vom Tisch zurück und machte sich daran, seine Taschen zu durchwühlen. „Ich habe etwas für dich.“ Er warf Jair einen kurzen Blick zu. „Aha, da haben wir es ja.“

Er hielt den Beutel mit Silberstaub und den Sehkristall an der Silberkette in der Hand. Er schob beide über den Tisch hinweg dem Talbewohner zu. „Garet trug mir auf, dir das zu geben. Er betonte, ich sollte es gut aufbewahren, bis du wieder wach würdest. Und ich sollte dir auch etwas ausrichten. Er bat mich, dir zu sagen, du hättest vergangene Nacht Mut bewiesen.“

Der Talbewohner errötete vor Überraschung, und eine plötzliche, intensive Woge von Stolz überflutete ihn. Er schaute befangen zu Edain Elessedil und Spinkser, dann zurück zu dem Zwerg.

„Wo steckt er jetzt?“ stotterte er.

Foraker zuckte mit den Schultern. „Er ist mit dem Grenzbewohner losgezogen, um einen Pfad zu erkunden, der uns von der Festung nordwärts hinter die Belagerungslinien der Gnomen führt. Er möchte sich vergewissern, daß er sicher ist, ehe wir alle aufbrechen.

Und wir ziehen morgen abend bei Einbruch der Nacht los. Wir können das Ende der Belagerung nicht abwarten, sie kann noch Monate andauern. Wir sitzen seiner Ansicht nach schon zu lange fest.“

„Wobei einige von uns fester saßen als andere“, knurrte Spinkser unmißverständlich.

Foraker sah ihm mit grimmig zusammengezogenen Brauen ins Gesicht. „Wir haben für Euch gebürgt, Gnom — alle, die mit Euch von Culhaven kamen. Radhomm, der dieser Garnison vorsteht, hätte unser Wort genügt. Doch innerhalb dieser Mauern sind auch Leute, die das anders sehen — welche, die Freunde und Menschen, die sie liebten, durch die Gnomen verloren haben, die uns da draußen belagern. Für sie mochte unsere Zusicherung vielleicht nicht ausreichen. Ihr mußtet bewacht werden, nicht als Gefangener, sondern zu Eurem Schutz. Eure Sicherheit ist uns nicht gleichgültig, ob Ihr das nun glaubt oder nicht, und insbesondere nicht Ohmsford hier!“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, brummte Spinkser finster. „Und ich brauche niemandes Besorgnis — und die des Jungen schon gar nicht.“

Foraker erstarrte. „Da wird er sich aber besonders freuen!“ fauchte er.

Spinkser verstummte. Er zieht sich wieder in sich selbst zurück, dachte Jair; er schirmt sich von allem ab, was um ihn herum geschieht. Nur wenn er mit mir alleine ist, scheint er bereit zu sein, aus seinem Schneckenhaus herauszukriechen. Nur dann kehrt ein kleines Stückchen von dem alten Spinkser wieder, als den ich ihn kennengelernt habe. Den Rest der Zeit ist er ein Außenseiter, ein einsamer Wolf, zu dem er sich selbst gemacht hat und der seine Rolle als Mitglied unserer kleinen Gruppe nicht akzeptiert. „Hat die Zwerge unsere Nachricht eigentlich erreicht?“ fragte Edain Elessedil Foraker. „Von der Zerstörung der Brücke am Keil?“

„Das hat sie.“ Der Zwerg wandte seinen finsteren Blick von Spinkser ab. „Dein Plan war wohl erwogen, Elfenprinz. Hätten wir das Ausmaß der Belagerung und die Stärke des Heeres, das sie durchführt, besser gekannt, wären wir vielleicht aus der Sache herausgekommen.“

„Befinden wir uns denn hier in Gefahr?“

„Nein, die Festung ist sicher. Die Lager sind voll, so daß wir einer Belagerung monatelang standhalten könnten, wenn es nötig wäre. Und im Bergkessel hier vermag keine Armee ihre Schlagkraft voll zu entfalten. Gefahren drohen uns nur außerhalb dieser Mauern, sobald wir unsere Reise nach Norden fortsetzen.“

Spinkser murmelte etwas Unverständliches neben ihm und trank den Rest seines Bieres. Foraker betrachtete den Gnomen, und seine Gesichtsmuskeln spannten sich. „In der Zwischenzeit ist noch etwas zu erledigen — und das müssen wir beide machen, Ihr, Gnom, und ich.“

Spinkser blickte mißtrauisch hoch. „Was soll das sein, was wir tun müßten — Zwerg?“

Forakers Gesicht verfinsterte sich weiter, aber seine Stimme blieb ruhig. „Es gibt jemanden innerhalb dieser Mauern, der vorgibt, das Schloß der Mordgeister gut zu kennen — jemanden, der behauptet, es besser als jeder andere zu kennen. Falls das stimmt, wäre es möglicherweise von großem Nutzen für uns.“

„Falls das stimmt, braucht ihr mich nicht mehr!“ keifte Spinkser. „Was habe ich damit zu tun?“

„Die Kenntnisse nutzen nur etwas, wenn sie wahr sind“, fuhr Foraker vorsichtig fort. „Und der einzige, der das überprüfen kann, seid Ihr.“

„Ich?“ Der Gnom lachte ohne alle Heiterkeit. „Ihr würdet mir so weit trauen, daß ich entscheide, ob man Euch die Wahrheit sagt oder nicht? Warum solltet Ihr? Oder wollt Ihr mich prüfen? Das dürfte wohl das Wahrscheinlichere sein. Ihr wollt meine Aussagen mit denen des anderen vergleichen!“

„Spinkser!“ mahnte Jair den Gnomen, und errötete vor Zorn und Enttäuschung.

Spinkser hob zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders und schwieg.

Darauf sprach Foraker leise und deutlich: „Hätte ich Euch prüfen wollen, dann nicht in der Gegenüberstellung mit diesem.“

Stille herrschte am Tisch. „Wer ist es denn?“ erkundigte Spinkser sich schließlich.

Der Zwerg zog die buschigen Brauen zusammen. „Ein Mwellret.“

Spinkser erstarrte. „Ein Mwellret?“ stieß er hervor. „Eine Echse?“

Er sagte das mit solchem Abscheu, daß Jair Ohmsford und Edain Elessedil einander erstaunt ansahen. Keiner der beiden hatte jemals einen Mwellret gesehen. Keiner von beiden hatte bislang überhaupt von der Existenz eines solchen Wesens gehört, und beide fragten sich angesichts der Reaktion des Gnomen auf die bloße Erwähnung des Namens, ob sie vielleicht besser auch ahnungslos geblieben wären.

„Einer von Radhomms Patrouille fand ihn ein oder zwei Tage vor der Belagerung ans Seeufer angespült“, fuhr Foraker fort und hielt Spinksers Blick stand. „Er war mehr tot als lebendig, als sie ihn herauszogen. Murmelte etwas in der Art, die schwarzen Wandler hätten ihn vom Rabenhorn vertrieben. Behauptete, er wüßte Möglichkeiten, wie sie zu vernichten wären. Die Patrouille brachte ihn hierher. Wir hatten nicht die Zeit, ihn vor der Belagerung wieder loszuwerden.“ Er machte eine Pause. „Bislang gab es keine Gelegenheit, den Wahrheitsgehalt seiner Angaben zu überprüfen.“

„Wahrheit!“ fauchte Spinkser. „Echsen kennen keine Wahrheit!“

„Die Rache an jenen, die ihn seiner Ansicht nach getäuscht haben, mag so etwas wie Wahrheit ans Tageslicht fördern. Wir können ihm diese Rache bieten — ein Geschäft, möglicherweise. Denk genau nach. Er muß die Geheimnisse vom Rabenhorn und Graumark kennen.

Er war einst in diesen Bergen zu Hause. Das Schloß hat früher einmal ihm gehört.“

„Nichts hat jemals ihm gehört!“ Spinkser fuhr starr vor Wut aus seinem Stuhl hoch. „Sie haben sich alles genommen, die Echsen! Haben ihr Schloß auf den Leichen meines Volkes errichtet! Haben die Gnomenstämme, die in den Bergen lebten, zu Sklaven gemacht! Sie haben ebenso schwarze Magie eingesetzt wie die Wandler! Diese schwarzen Teufel, eher würde ich mir selbst die Kehle durchschneiden, ehe ich ihnen nur einen Augenblick lang traue!“

Jair wollte einschreiten und stand ebenfalls auf. „Spinkser, was...?“

„Einen Augenblick, Ohmsford“, fiel Foraker ihm ins Wort. Das grimmige Gesicht wandte sich wieder Spinkser zu. „Gnom, ich vertraue dem Mwellrets ebensowenig wie Ihr. Aber wenn der uns etwas nützen kann, nehmen wir alle Hilfe an, die wir bekommen können. Unsere Aufgabe ist ohnehin schon schwierig genug. Und sollten wir feststellen, daß der Mwellret lügt... nun, dann wissen wir, was mit ihm zu geschehen hat.“

Spinkser stierte einen Augenblick lang wortlos vor sich auf den Tisch und setzte sich dann langsam wieder. „Es ist Zeitvergeudung. Macht es ohne mich. Laßt Euch von Eurer eigenen Urteilskraft leiten, Foraker.“

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, das wäre Euch lieber, als hinter Schloß und Riegel zu sitzen. Ich dachte, davon hättet Ihr möglicherweise genug.“ Er ließ eine Pause eintreten und beobachtete, wie Spinksers dunkle Augen hochschössen, um in die seinen zu blicken. „Abgesehen davon vermag meine Urteilskraft nicht zu entscheiden, ob der Mwellret die Wahrheit spricht. Ihr seid der einzige, der uns da helfen kann.“

Einen Augenblick lang sprach keiner ein Wort. Spinksers Blick war immer noch auf Foraker geheftet. „Wo ist der Mwellret jetzt?“ fragte er schließlich.

„In einem Lagerraum, der als sein Gefängnis dient“, antwortete Foraker. „Er kommt niemals heraus, nicht einmal, um sich die Füße zu vertreten. Er mag Luft und Licht nicht.“

„Ein schwarzer Teufel!“ murmelte der Gnom als Entgegnung. Dann seufzte er. „Nun gut. Also Ihr und ich.“

„Und diese beiden auch, wenn sie wollen.“ Foraker deutete auf Jair und Edain.

„Ich komme mit“, erklärte Jair spontan.

„Ich auch“, stimmte der Elfenprinz zu.

Foraker stand auf und nickte. „Ich führe euch gleich hin.“

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