22

Zum Cillidellan kamen die Mordgeister und schwebten ohne erkennbare Bewegung zum Rand des Wassers herab. Mit ihren Kapuzen, unter denen ihre Züge nicht zu erkennen waren, hätten es körperlose Gespenster sein können, hätten nicht schwarzklauige Finger aus ihren Umhängen geragt, die sich mit tödlichem Griff um die knorrigen grauen Stäbe aus poliertem Hexenholz spannten. Der Klageschrei ihrer Gnomen-Anhänger stieg rund um sie auf und mischte sich als Kreischen in das Heulen des Windes; für jene, die von den Zinnen Capaals zusahen, schien es, als hätten sich die Schwarzen Wesen durch das Geräusch materialisiert.

Und dann verstummte das schreckliche Jammern plötzlich, als die Gnomen unvermittelt schwiegen. Das durchdringende Pfeifen des Windes hallte über die öde Weite des Cillidellan, und die Wellen plätscherten, als er über seine Oberfläche strich.

Der vorderste der Mordgeister reckte seinen Stab weit empor, so daß sein skeletthafter schwarzer Arm wie verkohltes Reisig aus der schützenden Robe ragte. Eine seltsame, vibrierende Stille senkte sich über die Berghöhen, und den Verteidigern kam es vor, als hätte sich selbst der Wind gelegt. Dann sank der Stab langsam nieder und deutete auf die geschwärzten Wasser des Sees. Die beiden anderen Stäbe taten es ihm nach, daß das Hexenholz sich berührte und eins wurde in dem Augenblick, da die polierten Spitzen in den Cillidellan eintauchten.

Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann brachen aus den Stäben rote Feuerspeere, deren Flammen in den See hinabschossen und durch seine kühle Finsternis brannten und sengten. Die Wasser wogten und brausten und begannen schließlich zu brodeln. Gnomen kreischten in einer Kakophonie aus Jubel und Angst und taumelten vom Rand des Wassers zurück.

„Das ist die Anrufung!“ schrie Spinkser.

Das rote Feuer loderte durch die trübe, undurchdringliche Schwärze hinab in den tiefsten Winkel des Sees, zu dem sonst niemals Licht hindurchdrang. Wie ein Blutfleck breitete sich der Schein dieser Flammen suchend im Wasser aus. Dampfgey sire brachen mit heftigem Zischen himmelwärts auf, und der ganze See begann zu kochen.

Die Verteidiger auf den Brustwehren der Zwergenfestung standen reglos vor Unentschlossenheit. Etwas würde geschehen, etwas Unaussprechliches, und niemand wußte, wie es aufzuhalten war.

„Wir müssen hier raus!“ riet Spinkser Garet Jax dringlich. Aus seinem Blick sprach Furcht, aber auch gesunder Menschenverstand. „Schnell,, Waffenmeister!“

Unvermittelt erlosch das Feuer aus den Hexenholzstäben. Das graue Holz fuhr aus dem Cillidellan, Krallenhände wurden in die Gewänder zurückgezogen. Doch noch immer brodelten die Wasser fieberhaft; der rötliche Fleck war zu einem Glühen in ferner Tiefe geworden, das weit unter der Oberfläche erstrahlte wie ein aus dem Schlaf gerissenes Auge.

OOOOOMMMMMM!

Erneut erhob sich schrill und erwartungsvoll das Klagegeschrei vom Belagerungsheer der Gnomen. Hände reckten sich in die Höhe und vereinigten sich, als die Stäbe der Mordgeister erneut Zeichen gaben.

Zur Antwort auf das Geheule stieg neuer Dampf vom See auf, und der ganze Cillidellan schien in nie dagewesener Raserei aufzubrechen.

Dann sah es aus, als stiege etwas Riesiges, Unheilvolles aus den Tiefen empor.

„Waffenmeister!“ schrie Spinkser.

Aber Garet Jax schüttelte den Kopf. „Bleibt stehen. Helt, hol die großen Bögen.“

Der Grenzbewohner verschwand sogleich im Wachturm. Jair warf ihm einen kurzen Blick hinterdrein und drehte sich dann wieder zum Cillidellan um — zum ohrenbetäubenden Lärmen der Gnomen und dem gräßlichen Ding, das da aus der Tiefe aufstieg.

Es kam nun schnell und wurde immer größer, je weiter es sich der Oberfläche näherte. Ein von den Geistern gerufenes Böses — aber um was handelte es sich nur? Jair schluckte, als es ihm die Kehle zuschnürte. Was immer es sein mochte, jedenfalls war es monströs, sein Rumpf schien den ganzen Grund des Sees eingenommen zu haben, als es nun heraufschwebte. Langsam begann es Gestalt anzunehmen, ein großes, ungeschlachtes Ding mit Armen, die sich schlängelnd umhertasteten...

Dann brach es mit donnerartigem Getöse durch die Wasseroberfläche und heraus in die graue Morgendämmerung. Ein unförmiger, schwarzer Leib entzog sich der Umarmung des Wassers, und seine Umrisse waren für einen Augenblick lang im Gegenlicht zu erkennen.

Das Geschöpf hatte einen faßförmigen Rumpf und war über und über mit Schlick und Schleim vom Seeboden überzogen und mit Meerestieren und Korallen überwuchert. Vier große Flossenbeine, mit Krallen und Stacheln besetzt, trieben es bei seinem Aufstieg an. Sein Kopf war ein Wust zuckender Tentakel um ein riesenhaftes, schnabelförmiges Maul mit rasiermesserscharfen Zähnen. Saugnäpfe, ein jeder so groß wie eine ausgestreckte menschliche Hand, zogen sich über die Innenseiten der Fangarme, und zur Außenseite hin waren sie vollkommen durch Stacheln und Schuppen geschützt. Direkt hinter den Tentakeln blinzelten rechts und links zwei blutunterlaufene kalte Augen. Das Ding reckte sich beim Auftauchen in die Höhe, und es maß von Kopf bis Schwanz über dreißig Meter und zwölf im Durchmesser.

Entsetzte Aufschreie hallten von den Zinnen von Capaal herab.

„Ein Krake!“ erklärte Foraker. „Nun ist es um uns geschehen!“

Das Geschrei der Gnomen war zu einem Kreischen angeschwollen, dem alle Ähnlichkeit zu etwas Menschlichem abging. Als das Ungeheuer ans Tageslicht aufgetaucht war, verwandelte sich das Jammern in ein Schlachtgeschrei rund um Capaal. Der Krake platschte zurück ins Wasser des Sees, und sein schwarzer Körper zuckte, als er sich unvermittelt zur Dammauer und zu der Festung, die sie schützte, drehte.

„Er greift an!“ flüsterte Garet Jax überrascht. „Ein Wesen, das im Süßwasser nicht leben kann, sondern aus dem Ozean stammt — und doch ist es hier! Gerufen durch die schwarze Magie!“ Seine grauen Augen funkelten kalt. „Aber ich meine, es wird uns nicht kriegen. Helt!“

Sogleich stand der hünenhafte Grenzländer neben ihm und hielt drei große Bögen in der Hand. Garet Jax nahm den einen, ließ dem Grenzbewohner einen und reichte den dritten an Edain Elessedil weiter.

Spinkser drängte sich nach vorn. „Hört mich an! Einem solchen Ding kann man nicht widerstehen! Es ist ein Ungeheuer, das vom Bösen gerufen wurde, und ist selbst für Euch zuviel!“

Aber Garet Jax schien ihn nicht zu hören. „Bleibt bei dem Talbewohner, Gnom. Er untersteht nun Eurer Obhut. Sorgt dafür, daß ihm nichts geschieht!“

Er stieg, mit Helt und Edain Elessedil hinter sich, den Wachturm hinab. Foraker zögerte einen Augenblick, warf Spinkser noch einen mißtrauischen Blick zu und folgte dann ebenfalls.

Der Krake schoß an der Mauer der Zwergenzitadelle hoch, und sein riesenhafter Körper hämmerte mit unglaublicher Gewalt gegen Stein und Mörtel, um sie zu durchbrechen. Die riesigen Tentakel fuhren aus dem Wasser heraus und reckten sich nach den auf dem Wehrgang versammelten Zwergen. Dutzende wurden ins Wasser gerissen und in die Saugnäpfe und Stacheln des Wesens hineingezogen, das sie angriff. Schreie und Jammern erfüllte die Morgenluft, als die Zwerge starben.

Wurfgeschosse regneten auf das schwarze Ding hinab, doch seine Haut schützte es vor jeglicher Verletzung. Unvermindert fegte es die kleinen Gestalten weg, die es aufzuhalten versuchten, riß sie mit peitschenartigen Armen herab und zerschlug die Zinnen, hinter denen sie in Deckung gingen.

Nun schlössen sich auch die Gnomen dem Angriff an; zu beiden Seiten des Hochdamms stürmten sie gegen die Tore und hielten Strickleitern und Enterhaken in Händen. Zwergenverteidiger stürzten an die Brustwehren, um dem erneuten Angriff Widerstand zu leisten.

Doch die Gnomen schienen endgültig in Raserei zu verfallen. Ohne sich um die ihnen zugefügten Verluste zu kümmern, warfen sie sich gegen Tore und Mauern, den Tod nicht achtend.

Und doch steckte hinter diesem scheinbaren Wahnsinn ein Sinn. Während die Zwergenverteidiger auf diese Weise abgelenkt waren, bahnte der Krake sich im Norden seinen Weg an der Mauer empor, wo sie am nächsten an die Tore reichte. Mit einem plötzlichen Satz erhob er sich aus dem Wasser des Sees, und stemmte die Flossenbeine gegen den Damm, wo er in einer Kurve in die Uferlinie des Sees überging. Dicke Fangarme schnellten an den Mauern empor, Saugnäpfe klammerten sich an den Toren fest, und das Ungeheuer zerrte daran. Mit heftigem Splittern von Holz und Eisen barsten die Rahmen und Verriegelungen sprangen auf. Die Tore der Zitadelle brachen aus ihren Angeln und stürzten zusammen, und das Heer der Gnomen strömte mit Triumphgeschrei in die Burg.

Von der Brustwehr des Wachturms beobachteten Jair und Spinkser den Kampf mit wachsendem Entsetzen. Als die Tore erst einmal niedergerissen waren, konnten die Zwerge der Wucht ihrer Angreifer nicht länger standhalten. Innerhalb von wenigen Minuten würde die Festung in der Hand des Feindes sein. Die Verteidiger zogen sich bereits an den Mauern, die nach hinten führten, zurück, wobei sich kleine Scharen um die Hauptleute bildeten im Versuch, dem Ansturm standzuhalten. Doch von der Stelle aus, wo der Talbewohner und der Gnom das Geschehen verfolgten, war klar erkennbar, daß die Schlacht verloren war.

„Wir müssen fliehen, solange wir noch können, Junge!“ drängte Spinkser und faßte nach dem Arm des anderen.

Doch Jair wollte nicht gehen, suchte er doch immer noch nach seinen Freunden und war von den Ereignissen zu schockiert, um zu etwas anderem fähig zu sein. Der Krake war wieder ins Wasser des Sees gerutscht und schleppte seinen Rumpf zur Mitte des Damms. In seinem Kielwasser glitten die Mordgeister zum Rand der zerschmetterten Wälle und hielten mahnend die grauen Stäbe erhoben, als ihre Gnomen-Anhänger nach vorne stürmten. Mit unnachgiebiger Zielstrebigkeit rückten die Gnomen in die Zwergenfestung ein.

„Spinkser!“ schrie Jair plötzlich und deutete mitten ins Schlachtgewimmel. Hoch auf den Zinnen der vordersten Mauer erhob sich aus Rauch und Staub Helts hünenhafte Gestalt. Elb Foraker war an seiner Seite. Den Bogen fest umschlossen stemmte der Grenzbewohner sich gegen die Zinnen, zielte nach unten auf die Stelle, wo die Mordgeister standen, spannte langsam die Bogensehne und ließ los. Als verwaschener Schatten schoß der lange, schwarze Pfeil davon, um sich tief in die Brust des vordersten Geistes zu bohren. Das Geschöpf bäumte sich zitternd auf und wurde von der Wucht des Schusses zurückgeschleudert. Ein zweiter Pfeil folgte dicht auf den ersten, und wieder taumelte der Geist zurück. Entsetzte Schreie stiegen aus der Umgebung des finsteren Wesens auf, und einen Augenblick lang schien das ganze Vorrücken der Gnomen ins Wanken zu kommen.

Doch dann fand der Mordgeist seinen Halt wieder. Eine Krallenhand packte die Pfeile, die in ihm steckten und zog sie mühelos heraus. Das Ungeheuer hielt sie empor, damit alle sie sehen konnten, und zerbrach sie zu Splittern. Dann fuhr der Hexenholzstab in die Höhe, und rote Flammen schössen aus seiner Spitze. Rund um die Wehrgänge loderte Feuer auf und schoß gleichermaßen in Gestein und Verteidiger; Helt und Foraker wichen zurück, als die Flammen sie erreichten, und gingen in einer Lawine von heruntergebrochenem Mauerwerk und Staub unter.

Jair wollte wütend hinzustürzen, aber Spinkser riß ihn herum. „Du kannst nichts tun, um ihnen zu helfen, Junge!“ Ohne irgendein Gegenargument in dieser Frage abzuwarten, zerrte er Jair über die Wälle zu der Steintreppe, die nach unten führte. „Fang lieber an, dir Sorgen um dich selbst zu machen! Wenn wir vielleicht schnell genug sind...“

Dann erblickte er den Kraken. Der hatte sich an der Mitte der Staumauer, wo der breite Innenhof die beiden Festungsteile zu den jeweiligen Enden des Damms vereinigte, aus dem Wasser gehievt, und seine Tentakel und Flossenbeine tasteten über den Stein. Sobald er so weit oben war, daß nur noch der hinterste Teil seines faßartigen Rumpfes im See hing, schwenkte er langsam herum zu der Stelle, wo die Zwergenverteidiger versuchten, aus dem nördlichen Festungsteil zu entkommen . Tentakel ergossen sich als wimmelnde Masse über die Mitte des Staudamms. Innerhalb von Sekunden war der Durchgang völlig blockiert.

„Spinkser!“ schrie Jair warnend und fiel auf die Steinstufen zurück, als ein riesenhafter Fangarm an seinem Kopf vorüberfuhr. Sie rannten wieder die Treppe hinauf, duckten sich in den Schutz der Balustrade, wo diese an die Zinnen stieß. Gischt vom Seewasser, von der Schwanzflosse des Ungeheuers aufgerührt, mischte sich mit Staub und zerschlagenem Gestein und regnete auf sie herab. Unten tasteten und hämmerten die Tentakel des Kraken um die Festungsmauer und packten alles, was in ihre Reichweite kam.

Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei jede Chance, wieder über den Innenhof zu entkommen, dahin. Doch dann setzten die Zwerge zum Gegenangriff an. Sie stürzten von den unteren Stockwerken der Burg aus verdunkelten Treppenfluchten und den Geheimgängen darunter. Allen voran stürmte der Zwergenkommandeur Radhomm. Mit wehenden roten Haaren führte er seine Soldaten in das Gewirr der riesigen Arme und schlug und hieb mit der Breitaxt hinein. In einem Schwall von Blut flogen Stücke und Fetzen des Kraken durch die Luft, und rötliches Wundsekret ergoß sich über das feuchte Gestein des Staudamms. Doch der Krake war ein monströses Tier, für das die Zwerge kaum mehr als lästige Mücken waren, die es zu vertreiben galt. Die Tentakel fuhren herab und zermalmten die winzigen Geschöpfe, die um ihn herumwimmelten, so daß sie leblos liegenblieben. Die Verteidiger gaben nicht auf und waren entschlossen, jenen den Weg freizukämpfen, die in dem eroberten Burgteil festsaßen. Aber der Krake wischte sie so schnell fort, wie sie auftauchten, und sie sanken sterbend um das Ungeheuer zu Boden.

Schließlich erwischte der Krake Radhomm, als der Zwergenkommandeur einen Durchbruch erkämpfen wollte. Das Ungeheuer schwenkte den rothaarigen Zwerg hoch in die Luft, die Breitaxt, die mit hartnäckiger Verbissenheit immer noch auf ihn niedersauste, ließ ihn völlig unbeeindruckt. Der Krake riß Radhomm in die Höhe; dann schleuderte er ihn mit erschreckender Plötzlichkeit auf die Steine nieder, wo er zerschmettert, verkrümmt und leblos liegenblieb.

Spinkser zerrte vergeblich an Jair. „Lauf!“ schrie er verzweifelt.

Tentakel zuckten an ihnen vorüber, hämmerten in die Zinnen und zerschlugen den Stein, daß er in alle Richtungen spritzte. Ein Hagel splitteriger Bruchstücke prasselte auf Talbewohner und Gnom nieder, schleuderte sie ausgestreckt zu Boden und begrub sie fast unter dem Schutt. Jair schüttelte benommen den Kopf, rappelte sich in die Höhe und taumelte nach vorn an die Steinbalustrade. Unten hatten sich die Zwerge, entmutigt durch den Tod von Radhomm, in die belagerte Festung zurückgezogen. Der Krake hing immer noch mit gespreizten Tentakeln über dem verwüsteten Innenhof und schob sich nun näher an die Mauern heran, auf denen Jair kauerte. Der Talbewohner wollte schon zurückweichen, blieb dann aber entsetzt stehen. Spinkser lag benommen zu seinen Füßen, Blut sickerte aus einer tiefen Schnittwunde an seinem Kopf.

Dann tauchte unten, scheinbar aus dem Nichts, Garet Jax auf. Er wirkte mager und schwarz im grauen Licht der Dämmerung, als er pfeilschnell aus dem Schutz der Brustwehr auf der Staumauer mit einem kurzen Speer in Händen vorgeschossen kam. Jair schrie auf, als er ihn sah — es war ein unvermittelter, gellender Schrei —, doch der Laut verlor sich im Klagen des Windes und im Kampfgeheul. Der Waffenmeister raste als kleine, behende Gestalt über die ganze blutgetränkte Länge des Staudamms — nicht etwa weg von den todbringenden Fangarmen des Kraken, sondern geradewegs auf sie zu. Er flitzte und huschte dahin wie ein körperloser Schatten und zielte auf den klaffenden Rachen des Ungeheuers. Die Tentakel peitschten herab, schlugen nach ihm, verfehlten ihn, glitten an ihm vorüber und waren viel zu langsam für jemanden so unglaublich Schnelles. Aber ein Ausrutscher, ein Fehltritt...

Der Waffenmeister sprang nach dem gekrümmten Schnabel, direkt auf die Kiefer der Bestie zu. Er stieß mit verblüffender Geschwindigkeit zu, und der kurze Speer bohrte sich tief ins weiche Gewebe des geöffneten Mauls. Sofort fielen die Tentakel herab, und ein Ruck durchfuhr den riesenhaften Körper. Doch Garet Jax war schon wieder in Bewegung, wirbelte zur Seite und tauchte unter der Falle hinweg, die über ihm zuschnappen wollte. Sowie der Waffenmeister sich wieder hochgerappelt hatte, riß er auch schon eine Lanze mit Eisenspitze an sich, deren Besitzer noch mit lebloser Hand den Schaft umklammert hielt. Mit einer raschen Drehung entwand Garet Jax die Waffe seinem Griff. Zu spät erblickte der Krake seinen neuerlichen, gefährlichen Angreifer kaum zwei Meter von einem seiner lidverdeckten Augen entfernt. Die Lanze mit der Eisenspitze schoß nach oben in das ungeschützte Auge, durchbohrte Haut und blutiges Fleisch und stieß schließlich durch Knochen bis ins Gehirn.

Der getroffene Krake zuckte sichtbar unter Schmerzen zurück, und seine Flossenbeine flatterten wie rasend. Steinbrüstungen brachen rund um das Tier, als es versuchte, wieder in die Wasser des Cillidellan einzutauchen. Doch Garet Jax hing immer noch an der Lanze, die sich ins Gehirn des Ungeheuers gebohrt haue, und stieß sie tiefer und tiefer und wartete darauf, daß die Lebenskraft des Tieres sich endlich erschöpfte. Doch der Krake war unglaublich stark. Er hievte sich in die Höhe, hob sich vom Staudamm, fiel dann laut klatschend in den Cillidellan und tauchte außer Sicht. Garet Jax, dessen Hände immer noch den Lanzenschaft umfaßten, wurde mit in die Tiefe gerissen.

Jair taumelte fassungslos und ungläubig gegen die zerschmetterte Balustrade zurück, sein wütender Aufschrei erstarb lautlos in seiner Kehle. Drunten lag der Staudamm wieder frei, und die eingekesselten Zwerge strömten aus ihrer Falle, um sich zur sicheren Südfeste hinüberzuretten. Dann taumelte Spinkser neben ihm wieder in die Höhe. Das furchige, gelbe Gesicht war mit Blut verschmiert, doch der Gnom wischte es wortlos weg und zerrte den Talbewohner hinter sich her die Treppe hinab. Wankend und stolpernd gelangten sie schließlich auf den Innenhof und setzten sich in die gleiche Richtung wie die fliehenden Zwerge in Bewegung.

Doch sie kamen zu spät. Auf beiden Seiten der Wehrgänge hinter ihnen waren Gnomenjäger aufgetaucht. Als heulende, schreiende Menge gepanzerter, blutbesudelter Figuren ergossen sie sich über den Kamm der Staumauer und strömten in den Hof hinunter. Spinkser warf schnell einen Blick zurück und riß Jair unvermittelt in einen der dunklen Schächte. Sie rasten mehrere lampenerleuchtete Treppenabsätze hinab, tief ins Dunkel der unteren Stockwerke, die zu den Getrieben der Schleusen führten, über ihnen verhallte langsam der Lärm der Verfolgungsjagd.

Als sie am Fuße der Treppe angelangt waren, standen sie in einem schummrig erleuchteten Gang, der über die ganze Länge des Dammes führte und sich in der Ferne verlor. Spinkser zögerte, wandte sich dann nach Norden und zog Jair hinter sich her.

„Spinkser!“ schrie der Talbewohner auf und versuchte verzweifelt, den Gnom aufzuhalten. „Hier geht es zurück in die Richtung, aus der wir kommen — weg von den Zwergen!“

„Die Gnomen werden auch in die andere Richtung laufen!“ keifte Spinkser. „In dieser Richtung werden sie doch nicht nach Zwergen oder sonst jemanden suchen, oder? Nun lauf!“

Sie rannten ins Dunkel und stolperten erschöpft den verlassenen Gang hinab. Das Schlachtengetöse war nun weit entfernt, im Gegensatz zum ständigen Ächzen der Maschinen und dem leisen Rauschen der Wasser vom Cillidellan. In Jairs Kopf drehte sich alles vom Schock dessen, was ihnen widerfahren war. Die kleine Gruppe aus Culhaven bestand nicht mehr: Helt und Foraker von schwarzen Wandlern niedergestreckt, Garet Jax vom Kraken in die Tiefe gerissen und Edain Elessedil verschollen. Nur Spinkser und er waren übriggeblieben — und sie liefen um ihr Leben. Capaal war gestürmt, den Gnomen anheimgefallen. Die Schleusen und Dämme, die den Strom des Silberflusses westwärts in die Heimat der Zwerge regulierten, waren in den Händen ihrer unerbittlichsten Feinde. Alles war verloren.

Seine Lungen preßten sich unter der Anstrengung des Laufens zusammen, sein Atem klang ihm mühsam und keuchend in den Ohren. Tränen brannten ihm in den Augen, und sein Mund war trocken geworden vor Bitterkeit und vor Wut. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er zu Brin gelangen? Er würde sie niemals finden, ehe sie den Maelmord betrat, was unweigerlich ihr Ende bedeutete. Wie sollte er den Auftrag erfüllen, mit dem ihn der König betraut hatte...?

Plötzlich gaben seine Beine unter ihm nach, wurden ihm weggerissen von irgend etwas, das er nicht gesehen hatte, so daß er bäuchlings in die Finsternis stürzte. Spinkser vor ihm lief achtlos weiter und war nur noch als Schatten in der Dunkelheit des Tunnels zu erkennen. Eilends rappelte Jair sich wieder hoch. Spinksers Abstand zu ihm wurde viel zu groß.

Dann schoß ein Arm aus der Finsternis, und eine rauhe, schuppige Hand schloß sich über seinem Mund, daß ihm fast die Luft wegblieb. Ein zweiter Arm schlang sich eisenhart um seinen Körper, und er wurde zurückgezerrt ins Dunkel einer offenen Tür.

„Bleibt, kleines Kerlchen“, zischte eine Stimme. „Wir sssind Freunde, wir, die wir uns auf die Zauberei verssstehen. Freunde.“

Durch Jairs Kopf hallte ein lautloser Schrei.

Der halbe Vormittag war schon um, als Spinkser sich aus dem Fluchttunnel der Zwerge zwängte und sich durch ein Dickicht von Sträuchern schob, die den Geheimeingang verdeckten, um alleine auf den windgepeitschten Berghöhen nördlich von Capaal zu stehen. Graues, dunstiges Licht sickerte von einem bewölkten, regentriefenden Himmel herab, und die eisige Luft hing noch in den Gesteinswänden des Gebirges. Der Gnom schaute sich vorsichtig um, dann duckte er sich ins Gebüsch und kroch zu der Stelle, wo der Hang in die Schlucht hinabfiel.

Weit unten wimmelten Gnomen um die Dämme und Schleusen von Capaal. Überall auf den breiten Steinmauern, um die Wälle und Brüstungen der Festung und tief in der Maschinerie der Anlage huschten Gnomen-Jäger wie Ameisen umher, die geschäftig ihren Hügel instandhielten.

Nun, so mußte es ja enden, dachte Spinkser. Er schüttelte zur schweigenden Mahnung den Kopf mit dem derben, gelben Gesicht. Niemand vermochte den schwarzen Wandlern standzuhalten. Capaal gehörte nun ihnen. Die Belagerung war erfolgreich zu Ende geführt.

Er erhob sich langsam, sein Blick ruhte immer noch auf der Szene unten. Es bestand kaum Gefahr, hier oben entdeckt zu werden. Die Gnomen befanden sich alle in der Festung, und was von der Zwergen-Armee noch übrig war, hatte sich südwärts nach Culhaven geflüchtet. Ihm blieb nichts weiter, als seiner Wege zu gehen.

Nichts anderes hatte er schließlich die ganze Zeit über gewollt.

Und doch verharrte er hier stehend und grübelte über unbeantwortete Fragen. Er wußte immer noch nicht, was aus Jair Ohmsford geworden war. Zuerst hatte der Talbewohner sich direkt hinter ihm befunden; und dann war er einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Spinkser hatte natürlich nach ihm gesucht; es hatte nicht die geringste Spur gegeben. Also war der Gnom schließlich alleine weitergegangen — was hätte er sonst machen können?

„Der Junge hat ohnehin zuviel Schwierigkeiten gemacht!“ murmelte er gereizt vor sich hin. Doch irgendwie klangen diese Worte nicht überzeugend.

Er seufzte, schaute nach oben zum grau bezogenen Himmel und drehte sich langsam um. Nun, da der Talbewohner verschwunden und der Rest der kleinen Gruppe tot oder zerstreut war, erübrigte sich freilich die Weiterreise zum Himmelsbrunnen. Um so besser. Es war von Anfang an eine törichte, sinnlose Unternehmung gewesen. Er hatte es ihnen immer wieder gesagt — ihnen allen. Sie hatten keine Vorstellung, mit wem sie es da aufnahmen; sie hatten keine Ahnung von der Macht der Wandler. Es war nicht seine Schuld, daß sie gescheitert waren.

Das Stirnrunzeln grub sich tiefer in sein derbes Gesicht. Nichtsdestoweniger mißfiel es ihm, nicht herausgefunden zu haben, was aus dem Jungen geworden war.

Er schlüpfte wieder in das Gebüsch, das den Geheimgang zum Tunnel verdeckte, und kletterte auf einen Felsvorsprung, von dem aus man das Ostland und seine Ausläufer nach Westen hin überschauen konnte. Zumindest war er schlau genug gewesen, sich auf seine eigene Flucht vorzubereiten, dachte er selbstgefällig. Aber das lag daran, daß er ein Überlebenskünstler war, und die nahmen sich immer die Zeit, einen Fluchtweg auszukundschaften — außer völlig Verrückte wie Garet Jax. Spinksers Stirnrunzeln wurde zu einem schwachen Lächeln. Er hatte vor langer Zeit gelernt, sein Leben nicht unnötig und grundlos aufs Spiel zu setzen. Er hatte vor langer Zeit gelernt, immer ein Auge auf die nächste Fluchtmöglichkeit eines jeden Orts zu werfen, an dem er sich aufhielt. Als der Zwerg so freundlich gewesen war, ihm Karten der unterirdischen Tunnel zur Verfügung zu stellen, die sie nach Norden hinter die Belagerungsarmee bringen sollten, hatte er sie sich rasch eingeprägt. Deshalb stand er jetzt lebendig und unversehrt hier draußen. Wenn die übrigen nicht so töricht gewesen wären...

Der Wind blies ihm rauh und bitter aus den Felsen ins Gesicht. Weit nach Norden und Westen hin zogen sich die Wälder des Anar in herbstlichen Farben, die nur durch Nebel und Regen gedämpft schienen. Er hatte ein gutes Stück Weg vor sich, dachte er finster.

Zurück ins Grenzland, wo es noch so etwas wie Vernunft und Frieden gab, wo er sein altes Leben wieder aufnehmen und die ganzen Geschehnisse hier vergessen könnte. Er war wieder frei und konnte nun gehen, wohin er wollte. Eine Woche, maximal zehn Tage, und das Ostland und der Krieg, der hier to bte, lägen weit hinter ihm.

Er trat mit dem Stiefel gegen das Gestein. „Aber dieser Junge hatte wirklich Mumm“, sagte er ruhig, als seine Gedanken wieder abschweiften.

Unentschlossen starrte er hinaus in den Regen.

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