Als Jair erwachte, war der Tag bereits angebrochen, Sonnenschein ergoß sich von einem wolkenlosen, blauen Himmel und wärmte die Erde, die noch feucht vom Morgentau war. Er streckte sich genüßlich und atmete den Duft von Brot und gekochtem Fleisch. Garet Jax kniete mit dem Talbewohner zugewandtem Rücken am Lagerfeuer und bereitete das Frühstück zu.
Jair schaute sich um. Spinkser war nirgendwo zu sehen.
Alles wird sein wie zuvor...
Schlagartig erinnerte er sich an alles, was in der vergangenen Nacht geschehen war, und setzte sich ruckartig hoch. Der König vom Silberfluß — oder war das alles nur ein Traum gewesen? Er blickte auf seine Hände hinab. Da lag kein Sehkristall. Als er schlafend zurückgesunken war, hatte er den Kristall — sofern wirklich einer dagewesen war — in der Hand gehabt. Er tastete den Boden danach ab und befühlte seinen Umhang. Immer noch kein Kristall. Dann war es wohl doch ein Traum gewesen. Er fühlte hastig seine Jackentaschen ab. Eine Ausbeulung in einer Tasche zeigte, daß die Elfensteine noch da waren — oder war es der Beutel mit dem Silberstaub? Rasch flogen seine Hände über seinen übrigen Körper.
»Suchst du etwas?«
Jair riß den Kopf hoch und stellte fest, daß Garet Jax ihn musterte. Er schüttelte schnell den Kopf. »Nein, ich habe nur...« stotterte er.
Dann fiel sein Blick auf ein metallisches Schimmern an seiner Brust, wo sein Hemd offenstand. Er schaute an sich hinab und preßte das Kinn an die Brust. Es war eine Silberkette.
»Möchtest du etwas essen?« fragte der andere Mann.
Jair hörte ihn gar nicht. Also war es doch kein Traum gewesen, dachte er. Es war Wirklichkeit. Es hatte sich alles so zugetragen, wie es in seiner Erinnerung war. Eine Hand folgte der Silberkette an seinem Hemd, bis er die Kristallkugel zu fassen bekam, die an ihrem Ende hing.
»Willst du nun etwas essen oder nicht?« wiederholte Garet Jax mit leicht gereiztem Unterton.
»Ja, ich... ja, gern«, murmelte Jair, stand auf und trat hinzu, um neben dem anderen zu knien. Er bekam einen Teller gereicht, gefüllt mit den Speisen aus dem Kessel. Er überspielte seine Aufregung und begann zu essen.
»Wo ist Spinkser?« erkundigte er sich einen Augenblick später, als ihm der abwesende Gnom wieder einfiel.
Garet Jax zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht wiedergekommen. Vor dem Frühstück habe ich mich nach ihm umgesehen. Seine Spur führt hinunter zum Fluß und dann westwärts.«
»Westwärts?« Jair hörte zu kauen auf. »Aber das ist doch gar nicht der Weg in den Anar.«
Der Waffenmeister nickte. »Ich fürchte, dein Freund ist zu dem Schluß gekommen, daß er uns weit genug begleitet hat. Das ist das Ärgerliche an Gnomen — sie sind nicht sehr zuverlässig.«
Jair spürte, wie die Enttäuschung ihm einen Stich versetzte. Spinkser mußte tatsächlich beschlossen haben, seiner eigenen Wege zu gehen. Aber warum mußte er sich so davonschleichen? Warum hatte er nicht zumindest etwas sagen können. Jair dachte noch einen Moment darüber nach, zwang sich dann weiterzuessen und seine Enttäuschung zu verdrängen. Heute früh mußte er sich mit dringenderen Problemen beschäftigen.
Er dachte noch einmal alles durch, was der König vom Silberfluß ihm vergangene Nacht erzählt hatte. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Er mußte in den unteren Anar zum Rabenhorn, dem Unterschlupf der Mordgeister, und zu einem Berggipfel namens Himmelsbrunnen. Es würde eine lange, gefährliche Reise werden — selbst für einen geübten Jäger. Jair starrte zu Boden. Natürlich würde er gehen. Daran bestand kein Zweifel. Aber so kampfbereit und entschlossen er sein mochte, mußte er sich doch eingestehen, daß er alles andere als ein geübter Jäger oder auf anderem Gebiet geübt war. Er würde Hilfe benötigen. Aber wo sollte er sie finden?
Er schaute neugierig zu Garet Jax hinüber. Dieser Mann wird dein Beschützer sein, hatte der König vom Silberfluß versprochen. Ich verleihe ihm Kraft, die Gefahren abzuwehren, die dir auf dieser Reise drohen. Wenn du ihn brauchen wirst, wird er dasein.
Jair runzelte die Stirn. Wußte Garet Jax von alledem? Es schien jedenfalls nicht so. Offensichtlich hatte der alte Mann den Waffenmeister vergangene Nacht nicht ebenso besucht wie ihn. Sonst hätte der Mann inzwischen etwas verlauten lassen. Das hieß, daß es Jairs Sache war, ihm alles zu erklären. Aber wie sollte der junge Mann aus dem Tal den Waffenmeister überzeugen, ihn in den unteren Anar zu begleiten? Und wie sollte er ihm glaubhaft machen, daß er nicht nur geträumt hatte?
Er grübelte noch über das Problem nach, als zu seiner völligen Verwunderung Spinkser zwischen den Bäumen hervorstapfte.
»Ist noch etwas im Topf?« erkundigte er sich und warf den beiden anderen einen finsteren Blick zu.
Garet Jax reichte ihm wortlos einen Teller. Der Gnom ließ den Rucksack zu Boden gleiten, den er trug, setzte sich ans Feuer und bediente sich mit einer gut bemessenen Portion Brot und Fleisch. Jair starrte ihn an. Er wirkte verstört und gereizt, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Der Gnom bemerkte seinen Blick. »Was ist los?« fuhr er ihn an.
»Nichts.« Jair schaute schnell weg, wandte ihm dann aber doch gleich wieder den Blick zu. »Ich habe mich nur gewundert, wo du gewesen bist.«
Spinkser blieb über seinen Teller gebeugt. »Ich zog es vor, am Fluß zu schlafen. Dort ist es kühler. Am Feuer war es mir zu heiß.« Jairs Blick schweifte zu dem abgelegten Rucksack, und der Gnom riß den Kopf in die Höhe. »Habe den Rucksack mitgenommen, um ein wenig flußaufwärts auf Erkundungsgang zu gehen — für alle Fälle. Obgleich ich überzeugt war, daß nichts...«
Er verstummte. »Ich muß dir doch nicht Rechenschaft ablegen, Junge! Was geht es dich an, was ich gemacht habe? Jetzt bin ich hier, oder? Laß mich in Ruhe!«
Er widmete sich wieder seinem Frühstück und machte sich wie besessen darüber her. Jair warf Garet Jax einen flüchtigen Blick zu, doch der Waffenmeister schien es nicht zu bemerken. Der Talbewohner drehte sich wieder zu Spinkser um. Er log natürlich; seine Spur führte flußabwärts. Garet Jax hatte es erzählt. Wieso hatte er beschlossen, zurückzukommen?
Es sei denn...
Jair riß sich zusammen. Der Gedanke war so ausgefallen, daß er es sich kaum vorstellen konnte. Aber vielleicht hatte der König vom Silberfluß seine Zauberkräfte wirklich benutzt, um den Gnomen zurückzuführen. Er wäre dazu in der Lage, dachte Jair, und Spinkser hätte ihn niemals überlistet oder begriffen, was mit ihm geschehen war. Vielleicht wußte der alte Mann, daß Jair den Fährtensucher brauchen würde — ein Gnom, der das ganze Ostland kannte.
Dann kam es Jair plötzlich in den Sinn, daß der König vom Silberfluß vielleicht auch Garet Jax zu ihm geführt hatte — daß der Waffenmeister ihm in den Schwarzen Eichen zu Hilfe gekommen war, weil der alte Mann es so gewollt hatte. War das möglich? War das der Grund, aus welchem Garet Jax ihn befreit hatte — ganz ohne es zu wissen? Jair saß in fassungsloser Stille und hatte sein Essen ganz vergessen. Das würde den Widerwillen sowohl des Fährtensuchers wie des Glücksritters erklären, über die Motive ihres Handelns zu sprechen. Sie verstanden sie selbst nicht ganz. Aber wenn das stimmte, dann mochte auch Jair durch ähnliche Manipulation hierhergeführt worden sein. Wieviel von allem, was ihm widerfahren war, war das Werk des alten Mannes?
Garet Jax beendete sein Frühstück und trat das Feuer aus. Spinkser war nun ebenfalls wieder auf den Beinen und zerrte wortlos an seinem hingeworfenen Rucksack. Jair starrte sie an und fragte sich, was er machen sollte. Er wußte, daß er nicht einfach schweigen konnte.
»Zeit zum Aufbruch«, rief Garet Jax ihm zu und winkte ihm, aufzustehen. Spinkser befand sich bereits am Rand der Lichtung.
»Wartet... wartet nur eine Minute.« Sie drehten sich um und sahen ihn an, als er sich in die Höhe stemmte. »Ich muß euch zuerst etwas erzählen.«
Er berichtete ihnen alles. Eigentlich hatte er das nicht vorgehabt, aber die Erklärung des einen führte zum nächsten; ehe er recht begriff, war die ganze Geschichte heraus. Er erzählte ihnen von Allanons Besuch im Tal und seiner Geschichte vom Ildatch, von Brins und Rone Leahs Aufbruch nach Osten mit dem Druiden, um sich Zugang zum Maelmord zu verschaffen, und schließlich vom Erscheinen des Königs vom Silberfluß und dem Auftrag, mit dem er Jair betraut hatte.
Als er fertig war, trat ein langes Schweigen ein. Garet Jax ging zu dem gefallenen Baumstamm zurück und setzte sich mit angespanntem Blick in den grauen Augen.
»Ich soll also dein Beschützer sein?« fragte er ruhig.
Jair nickte. »So hat er es gesagt.«
»Und wenn ich eine andere Entscheidung treffen würde?«
Jair schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Ich habe ja schon viele wilde Geschichten gehört, aber das ist die wildeste, die ich jemals das Pech hatte, über mich ergehen zu lassen!« rief Spinkser plötzlich aus. »Was soll der ganze Unfug? Welcher Zweck steckt dahinter? Du nimmst doch wohl nicht eine Minute an, einer von uns würde auch nur ein Wort davon glauben.«
»Glaub, was du willst. Es ist die Wahrheit«, widersprach Jair und wich keinen Schritt zurück, als der Gnom auf ihn zukam.
»Die Wahrheit! Was weißt du schon von der Wahrheit?« Spinkser blieb skeptisch. »Du sprachst mit dem König vom Silberfluß, ja? Und er hat dir Zauberkraft verliehen, ja? Und nun sollen wir in den unteren Anar latschen, wie? Und nicht nur in den Anar, sondern geradewegs in den Rachen der schwarzen Wandler! In den Maelmord! Du bist verrückt, Junge! Das ist das einzig Wahre an dieser ganzen Geschichte!«
Jair griff in seine Tasche und zog den Beutel mit dem Silberstaub heraus. »Das ist der Staub, den er mir gegeben hat. Und hier.« Er hob die Silberkette mit dem Sehkristall von seinem Hals. »Siehst du? Das sind die Sachen, die ich von ihm bekommen habe, genau wie ich sagte. Überzeuge dich doch selbst.«
Spinkser warf die Arme in die Höhe. »Ich will sie gar nicht sehen! Ich will mit dem allem nichts zu tun haben. Ich weiß nicht einmal, was ich hier zu suchen habe!« Er wirbelte plötzlich herum. »Aber eines sollst du wissen — ich ziehe nicht in den Anar, nicht mit tausend Kristallen und mit einem ganzen Berg von Silberstaub! Such dir einen anderen Lebensmüden und laß mich in Ruhe!«
Garet Jax war aufgestanden. Er kam zu Jair herüber, nahm den Beutel aus seiner Hand, zog die Verschlußkordel auf und spähte hinein. Dann blickte er wieder zu Jair hoch.
»Sieht für mich aus wie Sand«, bemerkte er.
Jair schaute rasch hinein. Tatsächlich sah der Inhalt des Säckchens genau wie Sand aus. Da war kein silbernes Funkeln, wie man es von Silberstaub hätte erwarten können.
»Die Farbe könnte natürlich eine Tarnung sein, um vor Diebstahl zu schützen«, meinte der Waffenmeister nachdenklich mit in die Ferne gerichtetem Blick.
Spinkser war entgeistert. »Ihr glaubt doch nicht wirklich...«
Garet Jax fiel ihm ins Wort. »Ich glaube überhaupt nichts, Gnom.« Seine Augen waren hart, als sein Blick zu Jair wanderte. »Laß uns doch die Zauberkraft erproben. Hole den Sehkristall heraus und sing ihn an.«
Jair zögerte. »Ich weiß nicht, wie.«
»Du weißt nicht, wie?« höhnte Spinkser. »Bei den Schatten!«
Garet Jax rührte sich nicht. »Dann ist das eine gute Gelegenheit, es zu lernen, nicht wahr?«
Jair errötete und blickte auf die kleine Kristallkugel hinab. Keiner der beiden glaubte ein Wort von dem, was er erzählt hatte. Er konnte ihnen allerdings keinen großen Vorwurf machen. Er selbst hätte es auch nicht für möglich gehalten, wenn es ihm nicht selbst widerfahren wäre. Aber es war so, und es war zu überzeugend gewesen, um nicht der Wahrheit zu entsprechen.
Er holte tief Luft. »Ich werde es versuchen.«
Er begann, dem Kristall leise vorzusingen. Er hielt ihn mit beiden Händen umschlossen wie etwas sehr Zerbrechliches, und die Silberkette baumelte zwischen seinen Fingern herab. Er sang, ohne zu wissen, was er singen sollte und wie er den Kristall zum Leben erwecken könnte. Leise und sanft rief seine Stimme ihn an und bat ihn, Brin zu zeigen.
Der Kristall reagierte fast augenblicklich. In Jairs Handflächen erstrahlte Licht und erschreckte ihn so, daß er beinahe die Kugel fallengelassen hätte. Wie etwas Lebendiges erfüllte sie weißes, gleißendes Licht, und sie schwoll an, bis sie die Größe eines Kinderballs hatte. Garet Jax beugte sich tief hinab. Sein mageres Gesicht war angespannt. Spinkser kehrte über die Lichtung zu ihnen zurück.
Dann erschien plötzlich Brin Ohmsfords Gesicht dunkelhäutig und schön innerhalb des Lichts; es war von Bergen umrahmt, dessen Hänge sich kahl und hoch aufragend vor einer Dämmerung abzeichneten, die weniger freundlich war als die ihre.
»Brin!« flüsterte Jair.
Einen Augenblick lang glaubte er, sie könnte antworten, so real wirkte ihr Gesicht inmitten des Lichts. Doch ihre Augen waren in. weite Ferne gerichtet, und ihre Ohren waren taub für seine Stimme. Dann verblaßte das Bild; in seiner Aufregung hatte Jair zu singen aufgehört, und die Zauberkraft der Kristallkugel war verbraucht. Im gleichen Augenblick verlöschte das Licht. Jairs Hände schlössen sich wieder um die Kugel. »Wo war sie?« fragte er schnell.
Garet Jax schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht...« Doch er sprach nicht zu Ende.
Jair drehte sich zu Spinkser um, doch der Gnom schüttelte ebenfalls den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es ging zu schnell. Wie hast du das gemacht, Junge? Es ist dein Singen, nicht wahr? Das ist der Zauber, den du beherrschst.«
»Und die Zauberkraft des Königs vom Silberfluß«, fügte Jair schnell hinzu. »Glaubst du mir jetzt?«
Spinkser schüttelte finster den Kopf. »Ich gehe nicht in den Anar«, murmelte er.
»Ich brauche dich, Spinkser.«
»Du bedarfst meiner nicht. Mit solcher Magie brauchst du überhaupt niemanden.« Der Gnom wandte sich ab. »Sing dir einfach den Weg in den Maelmord, so wie deine Schwester.«
Jair schluckte den Ärger hinunter, der sich in ihm anstaute. Er schob den Kristall und den Beutel mit Silberstaub zurück in sein Hemd. »Dann gehe ich eben alleine«, erklärte er hitzig.
»Dazu besteht vorerst keine Notwendigkeit.« Garet Jax warf sich sein Bündel über die Schulter und setzte sich wieder in Bewegung, die Lichtung zu überqueren. »Zuerst werden wir dich unbeschadet nach Culhaven bringen, der Gnom und ich. Dann kannst du den Zwergen deine Geschichte darbieten. Der Druide und deine Schwester müßten inzwischen dort vorbeigekommen sein — oder zumindest müßten die Zwerge von ihnen gehört haben. Jedenfalls werden wir sehen, ob irgend jemand etwas von dem versteht, was du uns da erzählt hast.«
Jair stapfte eilends hinter ihm her. »Ihr denkt also auch, ich hätte mir das alles ausgedacht! Hört mir eine Minute zu. Warum sollte ich das? Welchen Grund könnte ich dafür haben? Los, sagt es mir!«
Garet Jax hob Decke und Umhang des Talbewohners auf und drückte sie ihm im Gehen in den Arm. »Vergeude nicht deine Zeit damit, mir zu erzählen, was ich denke«, erwiderte er gelassen. »Ich werde dir sagen, was ich denke, wenn ich soweit bin.«
Sie verschwanden gemeinsam zwischen den Bäumen und folgten dem Pfad, der ostwärts an den Ufern des Silberflusses entlangführte. Spinkser sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren und verzog voller Unbehagen das gelbe Gesicht. Dann hob er seinen eigenen Rucksack auf und eilte brummelnd hinterdrein.